9punkt - Die Debattenrundschau

Durchlässigkeit, die es so vorher nicht gab

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.03.2018. Die Welt fordert, dass die Briten mit Sanktionen gegen Russland nicht alleingelassen werden. In der NZZ spricht Herfried Münkler über die "Poesie" von Nationalstaaten und das Scheitern eines europäischen Narrativs. In Amerika ist man sich des Rassismus wenigstens bewusst, klagt die Journalistin Fatin Abbas in Zeit online. In der Zeit wird eine neue Debatte über die Beschneidung von Jungen eröffnet. In Neunetz nennt Marcel Weiß den Preis für die Regulierung von Plattformen wie Youtube und Facebook.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.03.2018 finden Sie hier

Religion

In einem dankenswerten Artikel kommt Jochen Bittner in der Zeit nochmal auf die Debatte über die Beschneidung von Jungen zurück, die in einem eilfertigen Parlamentsbeschluss vor fünf Jahren ausdrücklich erlaubt wurde, bei Säuglingen auch ohne Betäubung. Bittner ist hier nach wie vor nicht einverstanden: "Die geltende Beschneidungserlaubnis folgt hier einer falschen Abwägung. Sie räumt religiösen Überzeugungen einen zu hohen Rang gegenüber staatlich garantierten Freiheiten ein. Denn wenn es das Erziehungsrecht erlaubt, einen hochsensiblen Teil des Körpers - sogar ohne fachgerechte Betäubung - abzuschneiden, mit welchem Recht will der Staat dann, um nur ein Beispiel zu nennen, muslimische Eltern zwingen, ihre Töchter am Sportunterricht teilnehmen zu lassen?" Auch die negative Religionsfreiheit des Kindes werde verletzt, so Bittner: "Natürlich dürfen, ja sollen Eltern ihre Kinder prägen, wozu auch religiöse Erziehung gehört. Aber warum sollte die das Recht einschließen, seine Kinder körperlich auf unwiderrufliche Weise zu markieren?"
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Europa

Im NZZ-Interview mit Marc Felix Serrao spricht der Politikwissenschaftler Herfried Münkler über Merkels Flüchtlingspolitik, die "Poesie" von Nationalstaaten und das Scheitern eines europäischen Narrativs. In den Neunzigern, so Münkler, hätte man sagen müssen: "Es bleibt beim Europa der sechs. Ein paar kleinere Staaten können vielleicht noch dazukommen, aber der gemeinsamen Identitätserzählung zuliebe bleibt das Projekt auf Deutschland, Frankreich, Italien und die Randbereiche begrenzt. Dann hat man auf Portugal, Spanien und Griechenland geschaut und gesagt: Die haben sich gerade aus Diktaturen herausgearbeitet, die können wir nicht alleinlassen. Später, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, folgte der mitteleuropäische Raum. Man ist bei den verschiedenen Runden der EU-Erweiterung den operativen Erfordernissen gefolgt. Die Erzählung ist dabei in Vergessenheit geraten. Jetzt haben wir ein Gebilde, das kaum noch steuerbar ist."

In der Welt fordert Richard Herzinger Europa angesichts russischer Provokationen auf, sich dem Vorbild Theresa Mays anzuschließen: "Wenn schon ein Boykott der WM in Gänze nicht durchsetzbar ist, sollten alle westlichen Regierungen dem britischen Beispiel folgen und Putins Spiele nicht durch die Anwesenheit offizieller Repräsentanten aufwerten. Überhaupt dürfen die Briten mit den Sanktionen gegen den Kreml nicht allein gelassen werden, sondern müssen von der ganzen EU wie von anderen westlichen Demokratien durch eigene Maßnahmen unterstützt werden."

Trotz aller Indizien darf es in einem Rechtsstaat nicht zur Verurteilung ohne Beweise kommen - sonst wird er zum Willkürstaat, meint hingegen Stefan Kornelius in der SZ: "Russische Schattenoperationen in Georgien, auf der Krim, im Osten der Ukraine, beim Abschuss von MH 17, in Datenattacken auf den Bundestag, das Datennetz der Bundesregierung, die Partei der Demokraten in den USA, französische und katalanische Parteien, die klandestine Einflussnahme auf Meinungen und Stimmungen - überall ergibt sich das gleiche Muster. Und überall bleiben die Schattenkrieger in der Grauzone versteckt. Dem Rechtsstaat ist das nicht genug."
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Medien

Wie Putins Russland in den russischen Medien unterdessen als Supermacht inszeniert und politische Gegner abgewertet werden, erzählt in der FAZ der russische Schriftsteller Dmitri Gluchowski: "Auch die angeklagte Partei erhält das Wort - Vertreter der Ukraine oder Europas (meistens Polen, manchmal auch Deutsche) oder Amerikas. Diese Vertreter sehen entweder zu gut aus ('feine Pinkel!') oder zu schlecht ('da sieht man's!'), haben einen lächerlichen Akzent, machen Fehler und reden um den heißen Brei herum. Als Migranten der Talkshows wandern sie von einem Sender zum anderen und verkörpern überall die Käuflichkeit der Ukraine, Amerikas Idiotie, Europas Untergang. Die Experten des Kremls ziehen sie durch die Scheiße (noch dürfen Sie annehmen, das sei eine Metapher), und zwar demonstrativ - während die Repräsentanten des Westens sich hernach kurz schütteln und zur nächsten Talkshow trotten, als wäre nichts gewesen."

Die Grünen-Politikerin Tabea Rößner fordert in der taz-Debatte über die Öffentlich-Rechtlichen, dass die Sender ins Netz expandieren dürfen - schon aus Misstrauen gegenüber der jetzigen Netz-Öffentlichkeit: "Die öffentliche Meinungsbildung ist großen Verwerfungen ausgesetzt. Fake News, Hate Speech und Echokammern gefährden den demokratischen Diskurs. Dazu kommt: Die meisten Informationsangebote im Internet sind marktwirtschaftlichen Prinzipien unterworfen, die auf Sensation und Skandalisierung drängen. Und Vielfalt von Anbietern bedeutet nicht automatisch Vielfalt von Meinungen." Wir schlagen dann vor, auch gleich öffentlich-rechtliche Zeitungen zu schaffen!
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Gesellschaft

Die Abschaffung des Paragrafen 219a, der eine ärztliche Information über Abtreibung unter Strafe stellt, war zum Greifen nah. Die SPD hätte zusammen mit Linkspartei, Grünen und der FDP eine Mehrheit für ihr Ansinnen bekommen, den Paragrafen abzuschaffen. Nun zieht sie sich aus Rücksicht auf ihren Koalitionspartner zurück und verspricht, dass man schon irgendwas machen wird. Dina Riese ist in der taz (in einem Pro und contra, das die Zeitung seltsamerweise zu der Frage veranstaltet) empört: "Was dabei aber herauskommen soll, ist fraglich. Es ist wohl nicht zu pessimistisch geschätzt, wenn man sagt: nichts. Man habe immer noch die 'feste Absicht, Rechtssicherheit zu schaffen', erklärt SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles. Aber wie soll das möglich sein mit einem Koalitionspartner, der schon mehrfach betont hat, die jetzige Situation sei genau richtig, so wie sie ist? Die Union will nicht nur keine Werbung für Abtreibungen - was übrigens niemand will; sie will auch partout an der Strafe für Ärzt*innen festhalten, die darüber informieren, dass sie diese durchführen."

Im Zeit-Blog 10nach8 schreibt die im Sudan geborene, in den USA aufgewachsene und heute in Berlin lebende Schriftstellerin und Journalistin Fatin Abbas über die unterschiedlichen Ausprägungen von Alltagsrassismus in den USA und Deutschland - letzterer erscheint ihr subtiler, da sprachlich weniger bewusst: Bindestrich-Identitäten etwa seien in Deutschland undenkbar, meint sie. "Auch besteht in den USA ein Bewusstsein dafür, dass weiße Privilegien noch immer oft als selbstverständlich wahrgenommen werden. Begriffe wie 'struktureller Rassismus' oder 'Mikroaggressionen' werden generell verstanden und häufig verwendet. Und es gibt einen lebendigen Diskurs über die vielen und subtilen alltäglichen Unterdrückungsmechanismen. Einen Diskurs, der in Deutschland noch immer kaum stattzufinden scheint."
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Geschichte

Auf Grundlage des in Taipeh verabschiedeten "Gesetzes zur Förderung des Übergangs zur Gerechtigkeit", welches zum Ziel hat, die Geschichte einer dunklen Epoche aufzuarbeiten, die Identität von ungerechtfertigt inhaftierten oder hingerichteten Opfern zu klären, ehemalige Täter zu benennen und die Symbole aus der Zeit der autoritären Herrschaft der KMT zu entfernen, werden in Taiwan derzeit sämtliche Erinnerungen an Tschiang Kai-schek getilgt, berichtet Matthias Messmer in der NZZ - und warnt vor dem Verdrängen von Geschichte: "Gerechtigkeit kann es in der Geschichte im Nachhinein ohnehin nur begrenzt geben, eine Heilung der Wunden bleibt - leider - immer eine ganz persönliche Angelegenheit der Opfer. Mit Tschiangs erzwungenem Rückzug vom Festland vor fast sieben Jahrzehnten entwickelte sich paradoxerweise erst eine eigenständige Identität auf der Insel, geprägt von Meinungsvielfalt, Offenheit und Toleranz. Taiwan entwickelte sich auf dem Weg von einer rechten Diktatur kontinuierlich hin zu einer prosperierenden Demokratie."
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Politik

An die bis heute in der israelischen Gesellschaft vorherrschende tiefe Spannung zwischen aschkenasischen Juden europäischen Ursprungs und den sephardischen Juden, die in Israel heute Misrachim genannt werden und als "intellektuell und kulturell minderwertig" betrachtet wurden, erinnert in der NZZ der Psychologe und Philosoph Carlo Strenger: "Die Misrachim sind in wirtschaftlichen, akademischen, kulturellen und politischen Führungspositionen dramatisch untervertreten, und nicht wenige Misrachim haben es nie geschafft, der bis heute unterentwickelten und stagnierenden Peripherie Israels zu entkommen."
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Internet

Eingehend setzt sich Marcel Weiß in Neunetz mit Zeynep Tufekcis viel beachtetem New York Times-Artikel über Youtube als Mittel der Radikalisierung auseinander (unser Resümee). Die Dynamik der Hysterisierung, die Tufekci kritisiert, lässt sich allerdings nicht so leicht abschalten, so Weiß, denn es sind "für die Masse einzig die skalierbaren Ansätze, die die gesellschaftlichen Vorteile einer Plattformwelt gegenüber der klassischen Massenmedienwelt erhalten können. Ein wasserdichtes YouTube kann keine 500+ Stunden Videos pro Minute Upload aushalten. Es gäbe dann zwar keinen Missbrauch mehr auf der Plattform, aber es gäbe dann eben auch sonst fast nichts mehr. Plattformen gewinnen gegen die alten Distributoren, weil sie eine - erst durch die im Internet vernachlässigbaren Grenzkosten mögliche - Durchlässigkeit haben, die es so vorher nicht gab."

Außerdem: Die EU-Abgeordnete Julia Reda legt in diesem Twitterthread dar, warum sie fürchtet, dass die EU in der letzten Minute doch noch Uploadfilter, als eine Art Vorzensur, im Internet verabschieden wird.
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