9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Provokation, selbst für Hirnforscher

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2018. Die Saudis bereiten laut CNN eine Erklärung zum Fall des mutmaßlich ermordeten Journalisten Jamel Khashoggi vor. Sie klingt wie ein Geständnis. Der Brexit würde um einiges leichter, wenn sich Irland endlich vereinigen würde, meint die Publizistin Patricia Mac Bride in politico.euNetzpolitik fürchtet, dass EU-Politiker die ePrivacy-Verordnung auf Druck von traditionellen Medien und Internetkonzernen fallen lassen. Und der Dlf findet die "Armen Dienstmägde" gar nicht so heilig.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.10.2018 finden Sie hier

Europa

Der Brexit würde um einiges leichter, wenn sich Irland endlich vereinigen würde, meint die Publizistin Patricia Mac Bride in politico.eu. Die Nordiren müssten in einem Referendum nur dafür stimmen, "mit dem Vereinigten Königreich zu brechen und sich dem Rest der Insel anzuschließen - diese Möglichkeit ist im Karfreitagsabkommen vorgezeichnet, das einen sogenannten 'border poll' gestattet, 'wenn es zu irgendeinem Zeitpunkt wahrscheinlich ist', dass eine Mehrheit in Nordirland eine Wiedervereinigung unterstützen würde. Jeder Tag, der vergeht, wirkt in diese Richtung. Manche behaupten, dass irische Republikaner den Brexit für ein vereintes Irland benutzen, aber die schlichte Wahrheit ist, dass sie das gar nicht nötig haben. Die DUP und Mays Konservative schaffen das schon allein." Die DUP, Mays ungeliebter protestantisch-nordirischer Koalitionspartner, bezeichnet die Möglichkeit eines solchen Referendums allerdings als "blutrote Linie". Charlie Cooper informiert in einem zweiten Artikel über den jüngsten Stand bei den Verhandlungen.

Jürgen Kaube antwortet in der FAZ auf einen Zeit-online-Essay Bernd Ulrichs, der die Bayern-Wahl als ein Votum gegen den Seehoferschen und AfD-Populismus gedeutet hat (unser Resümee). Eine seltsame Rechnung, so Kaube, denn nur SPD und Grüne stützten Merkels Flüchtlingspolitik: "SPD und Grüne kommen dabei netto auf einen Verlust von zwei Prozent und auf einen Stimmenanteil von gut einem Viertel, das andere, 'bürgerliche' Lager ohne die AfD auf einen Verlust von sechs Prozent und einen Stimmenanteil von mehr als der Hälfte. Wer daraus ein Signal an die ganze Republik und ein Ja zu 'Wir schaffen das', mithin einen schwarz-grünen Regierungsauftrag der bayerischen Wähler herauszulesen vermag, hat sich alle Mühe gegeben, aber wohl doch vergebens."

2016 wurden bei einem Erdbeben in Italien mehrere Städte zerstört, darunter Camerino mit seiner 1336 gegründeten Universität. Zum Wiederaufbau reicht das Geld aber offenbar nicht. Das geht nicht nur Italien, das geht ganz Europa an, denkt sich Thomas Steinfeld, der für die SZ durch die Ruinen wandert. "Aus wie vielen Häusern die Altstadt besteht, ist schwer zu sagen. Sind es tausend, sind es mehr? Vierzig wären noch bewohnbar, wenn man sie ohne Risiko erreichen könnte, sagt der Brandmeister. Jetzt aber hallt jeder Schritt auf den Gassen. Sie sind von allem Schutt befreit, während die meisten Gebäude mit Baumstämmen, Stahlseilen und eisernen Trägern befestigt sind. Die Öffnungen der Fenster und Türen sind mit Balken gesichert, stets mit Hilfe eines Rahmens und zweier Diagonalen, an manchen Häusern schützen improvisierte Vordächer vor herunterfallendem Gemäuer. In einer Kirche hängt ein Tiepolo, unerreichbar."

Richard C. Schneider erklärt bei den Salonkolumnisten, warum sich der israelische Premier Benjamin Netanjahu mit den Populisten in Osteuropa verbündet - trotz ihrer antisemitischen Anwandlungen: "Der EU-Raum ist immer noch der zweitgrößte Markt für israelische Exporte, nach den USA. Das könnte sich in Zukunft in Richtung Asien verschieben, aber noch ist dem nicht so. Indem Netanjahu sich politisch mit den Visegrad-Staaten verbündet, also mit Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei, gelingt es ihm, politische Entscheidungen in Brüssel gegen Israel, die mit Einstimmigkeit erzielt werden müssen, nun schon seit geraumer Zeit zu unterlaufen."
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Internet

Wird die ePrivacy-Verordnung der EU, die das Tracking, Datensammeln und personalisierte Werben im Internet erschweren soll, aufs Abstellgleis gestellt?, fragen Ingo Dachwitz und Alexander Fanta in Netzpolitik. Die Verordnung sollte ursprünglich die DSGVO ergänzen. Allerdings machen sowohl klassische Medien als auch Plattformkonzerne wie Google und Facebook Druck dagegen. Die Politiker reagieren - indem sie nicht reagieren: "Als fleißigster Bremser betätigte sich zuletzt die rechte Regierung in Österreich, die derzeit den Vorsitz in den Arbeitsgruppen des Rates der Mitgliedsstaaten führt. Zur Überraschung aller kündigte Österreich an, nicht mal den Versuch zu unternehmen, eine Einigung über eine gemeinsame Position der Mitgliedsstaaten bis Jahresende zu erzielen. Damit wird die Zeit für abschließende Trilog-Verhandlungen vor den EU-Wahlen im Mai 2019 damit knapp, eine Verabschiedung unwahrscheinlich."
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Medien

Der Kabarettist Serdar Somuncu will seine eigenen Fernsehsendungen - vor allem Dokumentationen, unter anderem über Integration - ins Netz stellen und zahlenden Abonnenten anbieten. Auf die privaten und öffentlich-rechtlichen Sender will er nicht mehr warten, sagt er im Gespräch mit  Alexander Krei  im Medienblog dwdl.de: "Diese Struktur, die das lineare Fernsehen jetzt noch trägt, ist in Wahrheit der auslaufende Zweig einer Industrie, die noch gar nicht mitbekommt, dass sie sich nicht mehr am Bedarf der Zuschauer orientiert, sondern sich nur noch selbst am Leben erhalten will. Die Leute haben Angst, ihre Pfründe zu verlieren, die sie über Jahre hinweg gesammelt haben. Da ist ja auch viel Klüngelei im Spiel. Aufträge werden nicht nur nach Qualität vergeben, sondern auch danach, wen man am besten kennt. Da kann man nur ausscheren, indem man sich unabhängig macht und sich mit seinen eigenen Ängsten konfrontiert."
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Gesellschaft

#MeToo ist inzwischen auch in Indien angekommen, berichtet Thomas Winkler aus Bombay für die taz: "Twitter explodiert. Täglich, stündlich, nahezu minütlich enthüllen Frauen über die sozialen Medien sexuelle Übergriffe von Kollegen, Vorgesetzten oder vermeintlichen Freunden. #MeToo beherrscht die Schlagzeilen der Zeitungen und Nachrichtenkanäle in einem Land, in dem Schauspieler wie Götter verehrt werden und einer der beliebtesten Filmplots darin besteht, dass ein Mann eine Frau so lange gegen ihren Widerstand umwirbt, bis sie schlussendlich doch noch schwach wird."

Viele weitere Hintergründe zur indischen #MeToo-Diskussion bringt im übrigen Outlook India, wo Siddhartha Mishra und Arshia Dhar die Lage so einschätzen: "Ganz gleich, was das Ergebnis dieser Debatte ist: Die Dämme scheinen gebrochen. Urbane indische Frauen haben eine gemeinsame Stimme gefunden, eine gemeinsame Plattform, um sich zu öffnen und ihre mitunter Jahre zurück liegenden Traumatisierungen in der Öffentlichkeit zu benennen: Sexueller Missbrauch, Belästigung und Einschüchterung durch mächtige Männer, die sich die Unsicherheiten der Frauen ausnutzten."

Ebenfalls zu #MeToo: Sonia Mikich, Chefredakteurin des Westdeutschen Rundfunks, zieht in der FAZ persönlich Bilanz nach der begonnenen Aufarbeitung von #MeToo- und Sexismus-Vorwürfen im WDR. Und in der taz erzählt Juri Sternburg, wie bei der Buchmesse die Sicherheitsleute von Björn Höcke, die hessische Polizei und die Buchmesse kooperierten - und Journalisten drangsalierten.
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Religion

#MeToo? Gerade die Geschichte der katholischen Kirche zeigt, dass auch Frauen in Machtpositionen zu Gewalt, Missbrauch und grausamer Willkür fähig sind. Die katholische Armen-Verwaltung in Irland lieferte die Beweise (unser Resümee). Auch im Orden der gerade heiliggesprochenen Katharina Kasper gab es eine lange Tradition der Gewalt und Misshandlung, die von der Kirche vor der Heiligsprechung Kaspers am Sonntag- die übrigens maßgeblich auf eine Initiative des notorischen Bischofs Tebartz-van Elst zurückgeht - kaum thematisiert wurde. Auch in der Berichterstattung der Presse gab es kaum Spuren vom Geschehen. Aber im Deutschlandfunk berichtete noch vor Sonntag (ohne dass es etwa genutzt hätte) Anke Petermann: "Im 20. Jahrhundert kam es in den Kinderheimen der 'Armen Dienstmägde' zu Gewaltexzessen und Psycho-Terror. Schwestern schlugen Kinder mit Gürteln und Kleiderbügeln, ob in Dernbach, Rüdesheim-Aulhausen, Essen oder Eschweiler bei Aachen. Es kam auch zu sexuellem Missbrauch, vorrangig ausgeübt von männlichen Heimleitern, Ärzten und Priestern. Markus Alexander Homes hat im Sankt Vincenzstift Aulhausen körperliche und sexuelle Gewalt erlebt, bis in die siebziger Jahre. Christliche Erziehung durch die Schwestern hieß für ihn, ständig bestraft zu werden."
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Kulturpolitik

In einem epischen Interview mit dem Tagesspiegel verkünden Hartmut Dorgerloh, Generalintendant des Humboldt Forums, und Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, ihre Pläne fürs Humboldt Forum.
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Politik

Die Saudis suchen im Fall des mutmaßlich ermordeten Journalisten Jamel Khashoggi nach einer Sprachregelung und bereiten eine Erklärung vor, berichten Clarissa Ward and Tim Lister bei CNN. Die klingt wie ein Geständnis: "Die Saudis bereiten einen Bericht vor, in dem anerkannt wird, dass Jamel Khashoggi während eines Verhörs gestorben ist, das schief gelaufen ist. Laut zwei Quellen sollte nach dem Verhör die Entführung nach Saudi Arabien folgen. Eine Quelle sagt, dass der Bericht wahrscheinlich zu dem Schluss kommen wird, dass die Operation ohne Genehmigung und Transparenz durchgeführt wurde und dass die Beteiligten dafür zur Verantwortung gezogen werden."
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Wissenschaft

Heute können sich die Leute nicht mehr konzentrieren, das Internet, wie es Frank Schirrmacher so schön sagte, zermatscht ihnen das Hirn. So heißt es jedenfalls immer wieder. Dabei ist unsere Vorstellung von Aufmerksamkeit eine große Illusion, erklärt im Interview mit Zeit online die Neurowissenschaftlerin Sabine Kastner, Coautorin einer Princeton-Studie, die herausgefunden hat, dass unser Hirn mehrmals pro Sekunde - und zwar alle 125 bis 250 Millisekunden - den Fokus wechselt, ohne dass wir es merken: "Diese Mechanismen sind Millionen von Jahren alt, und diese fundamentalen Prozesse haben wir über Jahrzehnte hinweg in der Aufmerksamkeitsforschung übersehen. Das stellt eine Provokation dar, selbst für Hirnforscher. ... In früheren Zeiten dürfte dies extrem wichtig gewesen sein: Wenn jemand eine Frucht im Baum pflücken wollte, musste er zum selben Zeitpunkt auch die Umgebung beobachten können, um zum Beispiel ein bedrohliches Tier frühzeitig zu erkennen. Durch das schnelle Rein- und Rauszoomen war das sehr wahrscheinlich möglich."
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Stichwörter: Schirrmacher, Frank