9punkt - Die Debattenrundschau

Ernährt, versorgt und unterhalten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.08.2019. In der NZZ geißelt Ma Jian die von der chinesischen Regierung betriebene Infantilisierung der Bürger. Netzpolitik beschreibt die Zeichen und Losungen der Hongkonger Demonstranten: "Sei Wasser." Die SZ erzählt, wie die japanische Regierung ihr Bild des Landes im Ausland kontrollieren will.  Facebook muss zugeben, dass der Konzern Audio-Nachrichten seiner Nutzer transkribiert hat, berichtet Bloomberg. Und das ist besonders peinlich für Mark Zuckerberg. Und die FAZ fragt: Wann werden Knabenchöre für Mädchen geöffnet?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.08.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Einen interessanten Fall schildert Hannah Bethke in der FAZ: Die Mutter eines neunjährigen Mädchens klagt gegen den Berliner Staats- und Domchor, der von der Universität der Künste betrieben wird. Das Problem: Der Chor ist ein reiner Knabenchor und hat ihre Tochter nicht zugelassen: "Die UdK streitet ab, dass hier ein Fall von Diskriminierung vorliegt. Zwischen Mädchen- und Jungenstimmen bestünden anatomische Unterschiede, die zu 'differenzierten Chorklangräumen' führten. Alles Quatsch, findet die Anwältin der Klägerin. Die klanglichen Unterschiede seien minimal; Mädchen könnten genauso gut singen wie Jungs; der Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe an staatlichen Leistungen und Förderungen werde verletzt."
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Politik

Markus Reuter beschreibt in Netzpolitik einige der Zeichen und Losungen der Demonstranten in Hongkong - der Regenschirm des Jahres 2014 sei als zu defensiv  längst passé: "Einer der Leitsprüche und Strategien der Protestbewegung ist 'Be water, my friend!'. 'Empty your mind, be formless, shapeless, like water. Now you put water into a cup, it becomes the cup. You put water into a bottle, it becomes the bottle. You put it in a teapot, it becomes the teapot. Now water can flow, or it can crash. Be water, my friend.' Das Zitat stammt von Hongkongs Martial-Arts-Star Bruce Lee und wird heute von den Protestierenden genutzt, um eine Taktik zu bewerben, bei der die Demonstrierenden einer Konfrontation mit der Polizei aus dem Weg gehen. Der Protest taucht irgendwo auf, blockiert eine Straße, um dann schnell wieder woanders hin zu fließen: anonym, flexibel und spontan."

Der chinesische Exilschriftsteller Ma Jian geißelt im Vorwort zu seinem neuen Roman "Traum von China", vorabgedruckt in der NZZ, den wachsenden, von der Regierung geförderten Nationalismus in China, mit dem die Verbrechen der KP übertüncht werden sollen: "Nach Jahrzehnten der Indoktrinierung und Propaganda, nach all der Gewalt und den ganzen Lügengeschichten ist das chinesische Volk so betäubt und verwirrt, dass es nicht mehr imstande ist, Fakten von Erfundenem zu unterscheiden. So hat es die Lüge geschluckt, das Wirtschaftswunder im Land sei den Parteiführern zu verdanken und nicht der gewaltigen Armee schlechtbezahlter Lohnarbeiter. Der in den letzten dreißig Jahren ungehemmt wachsende und weithin geförderte Konsum, der, zusammen mit einem aufgeblähten Nationalismus, die Grundlage des Traums von China bildet, macht aus den Chinesen große Kinder, die ernährt, versorgt und unterhalten werden, denen aber das Recht versagt ist, Erinnerungen an die Vergangenheit zu haben oder Fragen zu stellen."

Die japanische Regierung hat über ihre Vertretungen in Deutschland in den letzten Jahren mehrfach versucht, das Aufstellen von Statuen zu verhindern, die an die sogenannten "Trostfrauen" (koreanische Zwangsprostituierte im Zweiten Weltkrieg) erinnern sollen. Und meistens scheint sie Erfolg gehabt zu haben, berichtet Kevin Scheerschmidt in der SZ: "Im September 2016 verzichtete die Stadt Freiburg darauf, eine 'Trostfrauenstatue' aufzustellen, nach Androhung der japanischen Partnerstadt Matsuyama, die Städtepartnerschaft aufzukündigen. Im März 2017 wurden im oberpfälzischen Wiesent nach mehreren persönlichen Besuchen des Japanischen Generalkonsuls aus München zwei neben einer 'Trostfrauenstatue' angebrachte Informationstafeln entfernt. Im Besucherzentrum der Gedenkstätte Ravensbrück in Brandenburg wurde im April 2017 nur für einige Wochen eine kleine 'Trostfrauenstatue' ausgestellt. Trotzdem bat die Japanische Botschaft, diese zu entfernen. Insa Eschebach, die Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück, sagt dazu: 'Wenn die Aufstellung nicht ohnehin temporär gewesen wäre, hätte das durchaus eskalieren können.' Es sei 'bemerkenswert, dass eine so kleine Figur so einen Aufruhr auslösen kann.'"

Im Guardian fürchtet der in Washington lehrende saudische Jurist Abdullah Alaoudh um seinen Vater, dem in Saudi-Arabien die Todesstrafe droht, weil er ein Ende des Streits mit Qatar gefordert hat. Grundlage ist ein schwammiges Gesetz, mit dem sich praktisch jede Meinungsäußerung als terroristischer Akt einstufen lässt. "Leider ist mein Vater nicht der einzige, der aufgrund erfundener Anschuldigungen mit der Todesstrafe konfrontiert wird, noch ist er der einzige Gefangene, der so schlecht behandelt wurde. Viele andere Menschen wurden ebenfalls wegen ähnlich vager, politisch motivierter Anschuldigungen verurteilt. In einem neuen Bericht empfiehlt die britischen Anwältin Helena Kennedy, dass jeder, der derzeit auf die Todesstrafe wartet, die Gründe für seine Verurteilung unverzüglich veröffentlicht bekommt. Viele von denen, die festgehalten werden, wie mein Vater, haben so unschuldige und harmlose Dinge gesagt, dass klar ist, dass dies eine schwache Regierung sein muss, die nicht einmal mit dem kleinsten Vorschlag umgehen kann, geschweige denn mit Kritik."
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Europa

taz-Reporterin Charlotte Wiedemann sucht in Brüssel nach Spuren des Kolonialismus und muss nicht lange suchen - etwa im Zentralafrika-Museum in Tervuren, das sich der Vergangenheit nur halbherzig stelle: "In der zentralen Rotunde des königlichen Museums stehen die Skulpturen des Ensembles 'Belgien bringt dem Kongo die Zivilisation'. Die belgischen Wohltäter sind vergoldet und allesamt größer als die Afrikaner, nackte, dunkle, muskulöse Körper bei manueller Arbeit. Das Ensemble wird als Propaganda ausgewiesen, steht aber gleichwohl unter Denkmalschutz. Was genau wird hier geschützt? Als der Bildhauer Arsène Matton im frühen 20. Jahrhundert die Skulpturen schuf, war Leopold tot, Kongo nunmehr staatliche Kolonie, und die furchtbaren Verbrechen im Freistaat waren international bekannt. Die Rotunde war schon damals ein opulentes Zeugnis der Verdrängung, und selbige genießt nun den Schutz."
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Internet

Sozialistische Planwirtschaft ist heute machbar, weil erstmals die nötigen Daten zur Verfügung stehen - davon ist der chinesische Unternehmer und Alibaba-Chef Jack Ma überzeugt, und die neue Linke in den USA ebenfalls, erzählt der Politikwissenschaftler Adrian Lobe in der NZZ. "Viel interessanter als die ökonomisch relevante Frage, ob durch Big-Data-Analysen eine effektivere Ressourcenallokation möglich wäre, ist der Umstand, dass durch die Ankunft einer neuen Technologie, in diesem Fall KI, Ideologien umcodiert werden. Positionen, die man einst in marxistisch-leninistischen Zirkeln ventilierte, werden nun ausgerechnet durch die Innovationen des Datenkapitalismus validiert - und schließen an das Geschäftsgebaren der Tech-Konzerne an. Macht uns der Computer zu Kommunisten? Besteht der soziale Egalitarismus darin, dass jeder Mensch aus Datenpaketen besteht?"

Michael Meyer-Resende von der NGO "Democracy Reporting International" schreibt in der FAZ einen leicht einschläfernden Artikel über netzpolitische Fragen, der in der Forderung nach einer "gut ausgestatteten Regulierungsbehörde" für die Internetöffentlichkeit kulminiert: "Bisher gibt es keine staatliche oder nicht-staatliche Institution, die sich auf Augenhöhe mit den großen Technologiekonzernen auseinandersetzen könnte."

Auch Facebook hat Nutzer abgehört und Audio-Aufnahmen transkribiert, angeblich um seine Spracherkennungssoftware zu verbessern, berichtet Sarah Frier bei Bloomberg (Facebook reiht sich damit hinter Google, Amazon und Apple ein, unser Resümee). "Der Social-Media-Riese, der gerade einen fünf-Milliarden-Dollar-Vergleich mit der U.S. Federal Trade Commission nach einer Untersuchung seiner Datenschutzpraktiken abgeschlossen hat, leugnete lange Zeit, dass er Aufnahmen von Nutzern sammelt, um die Anzeige von Werbung zu verbessern oder zu bestimmen, was die Leute in ihren Nachrichtenfeeds sehen. Mark Zuckerberg verneinte dies direkt vor Abgeordneten des Kongresses. 'Sie sprechen über diese  Verschwörungstheorie, dass wir uns anhören, was auf Ihrem Mikrofon vor sich geht und das für Werbezwecke verwenden', sagte Zuckerberg im April 2018 zu U.S. Senator Gary Peters. 'Das machen wir nicht.'"

Dazu passt der Vice-Bericht, dass die Gesichtserkennungssoftware, die Amazon der amerikanischen Polizei andient, nun Emotionen wie "Angst" erkennen können soll.
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Religion

Ohne Mohammed kein Islam, mit Mohammed kein aufgeklärter Islam - eigentlich kann man aus der Religion nur austreten, meinte kürzlich Laila Mirzo, deutsch-syrische Ex-Muslimin und Trainerin für interkulturelle Kompetenz, in der NZZ (unser Resümee). Martin Grichting, Generalvikar des Bistums Chur, ist das zu hart. Er plädiert eher für eine "Relecture" des Korans, die Vernunft in die religiöse Offenbarung legt: Vernunft "ist die den religiösen Quellen vorgelagerte Richterin, die bestimmt, dass das, was gegen ihre Grundsätze verstößt, nicht wahr und nicht gut ist. Das Christentum hatte es hierbei zweifellos einfacher als der Islam, weil es vor der biblischen Wortoffenbarung von einer 'säkularen' Schöpfungsordnung ausgeht, der die natürliche Vernunft angehört. Diese wird nicht aufgehoben von der später erfolgenden Selbstoffenbarung Gottes durch die Propheten und Jesus Christus. Denn Gott selbst ist ja der 'Logos', also die Vernunft, an der er den Menschen partizipieren lässt. Eine solche die Vernunft Gottes spiegelnde Schöpfungsordnung aus den Quellen des Islam zu destillieren, gehört deshalb zu den Bedingungen der Möglichkeit einer pluralismusfähigen Auslegung seiner Texte."
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