9punkt - Die Debattenrundschau

Identität als Gegenleistung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.01.2020. In der Zeit verwahrt sich Hans Leyendecker gegen den Vorwurf, er sein  ein Relotius. Für den Historiker Eckart Conze in der SZ ist die Hohenzollern-Debatte Symptom eines neuen geschichtspolitischen Klimas. In der Welt überlegt der Politologe Daniel Dettling, wie die Demokratie wieder erlebbar gemacht werden kann. Die Zeit attackiert die Berichterstattung der FAZ über Yasemin Shooman.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.01.2020 finden Sie hier

Europa

Putins jetziges Mandat läuft 2024 aus. Nun hat er verkündet, über eine Verfassungsreform abstimmen zu lassen, die zunächst wie ein Sammelsurium von Maßnahmen aussieht, schreibt Christian Esch bei spiegel.de. Und das habe nur einen Sinn: "Anstatt eine Verfassung zu skizzieren, die ohne einen Putin an der Spitze auskommt, hat er eine skizziert, die gleich mehrere Schlupflöcher bietet, um an der Macht festzuhalten. Und so wie er 2008 bis zum letzten Moment offen hielt, welchen Mann er zum Nachfolger erklären wolle, so wird er auch diesmal bis zum letzten Moment warten." Die Regierung von Dimitrij Medwedew trat geschlossen zurück. Medwedew wird Chef des Sicherheitsrats.

Gabor Steingart macht in seinem Morning Briefing aber auch auf folgenden Umstand aufmerksam: "Der außenpolitische Glanz der späten Putin-Jahre kontrastiert mit der mageren Bilanz in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Seit dem Verfall der Weltmarktpreise für Öl und Gas, der 2014 einsetzte, läuft es unrund."

Der Philosoph Raymond Geuss, ein Amerikaner, der die britische Staatsangehörigkeit angenommen hat, legt in der Zeit eine messerscharfe Analyse der politischen Absichten Boris Johnsons vor. Alles zielt für Geuss auf eine Art indirekten Coup d'Etat hin, der vor allem die Position des Premierministers auf fatale Weise stärken wird: "Das demokratisch gewählte Parlament wird man nicht antasten, obwohl Johnson bereits 'Revisionen des Wahlrechts' angekündigt hat. Befürchtet wird, dass er das Einschreibungsverfahren verkomplizieren und Wählerpässe einführen wird. Nicht zufällig hat die konservative Presse bereits Überlegungen angestellt, wie man (in der Regel torykritische) Jungwähler, besonders Studenten, von den Urnen fernhält. Auf jeden Fall wird der Premierminister mächtiger werden als je zuvor, während man auf einen verfassungsrechtlich verankerten Schutz der Bürgerrechte einschließlich der Meinungsfreiheit vergeblich warten wird."

Außerdem: Auf das Bürgerbüro des Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby in Halle (SPD) sind Schüsse abgegeben worden, meldet unter anderem die Welt. Dlf Kultur bringt ein Gespräch mit dem Abgeordneten.
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Religion

Der Autor Bernhard Schlink setzt in der FAZ (politischer Teil) auf einen Psychotrick, um immer mehr Deutsche vom Austritt aus den Kirchen abzuhalten. Statt diesen Austritt in einem Amtsakt bei den Behörden zu deklarieren, solle man ihn doch bitte in den Kirchen erklären, wo noch ein Gespräch möglich sei: "Womit immer die Kirchen die Beendigung des Verhältnisses zwischen sich und ihren Mitgliedern vergleichen wollen, dem Verlassen eines Vereins, eines Teams, einer gemeinsam betriebenen Praxis oder Kanzlei, einer Beziehung, einer Freundschaft - wenn der Verlassende nicht das Gespräch sucht, wird es von den Verlassenen gesucht. Was hat an dem Verhältnis nicht gestimmt? Warum ist es gescheitert? (...) Die Umstellung der Erklärung des Kirchenausstritts vom Standesamt oder Amtsgericht aufs Pfarramt wird die Zahl der Kirchenaustritte nicht wesentlich verringern. Aber sie macht aus dem Pfarrer als hilflosem Beobachter von Austritt um Austritt einen Handelnden, einen Beteiligten."
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Ideen

Die Parteiendemokratie wird immer skeptischer beäugt. Aber welche Art von Demokratie könnte Probleme wie Klimawandel, Migration oder Digitalisierung lösen helfen, überlegt in der Welt der Zukunftsforscher Daniel Dettling und macht, dem belgischen Historiker Reybrouck folgend, einen Vorschlag: "Die Bürger sollen mitreden und sich nicht nur regieren lassen. Demokratie muss wieder erlebbar werden! ... Es geht um ergänzende, nicht ersetzende Formen der Partizipation, welche die Demokratie beleben. Europaweit gibt es inzwischen - vor allem auf lokaler Ebene - eine neue Bewegung der 'Bürgerversammlungen'. Ihre Grundidee: Wo alle ausreichend Zeit und Informationen haben, komplexe Fragen zu diskutieren, entstehen gute und akzeptierte Lösungen. Emotional aufgeladene Fragen werden versachlicht, gesellschaftliche Konflikte entschärft. Irland hat mit Unterstützung einer Bürgerversammlung Referenden zur 'Ehe für alle' und zum Abtreibungsrecht vorbereitet, der französische Präsident Emmanuel Macron will in diesem Jahr mit einem Bürgerkonvent einen nationalen Konsens in der Klimapolitik erreichen und hat dazu vor wenigen Tagen ein Referendum vorgeschlagen."
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Geschichte

Wichtiger als die Frage, ob die Hohenzollern den Nazis Vorschub leisteten, findet der Historiker Eckart Conze in der SZ ein neues geschichtspolitisches Klima, das er zu verspüren vermeint: "Christopher Clarks Buch 'Die Schlafwandler' wurde hierzulande auch deswegen so begierig aufgenommen, weil es den Beginn des Ersten Weltkriegs als Systemversagen deutete und damit nicht nur die preußisch-deutschen Eliten entlastete, sondern das Kaiserreich insgesamt. So rückt das ferne Reich dem deutschen Nationalstaat der Gegenwart wieder näher. Im Vorfeld des 150. Jahrestags der Reichsgründung im nächsten Jahr treten an die Stelle kritischer Distanz immer häufiger affirmative Bekenntnisse zur preußisch-deutschen Nationalgeschichte und zu einer nationalstaatlichen Kontinuität."
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Politik

Wer ist Freund, wer Feind im Iran? Das kann sich täglich ändern, erklärt der iranische Schriftsteller Shahriar Mandanipur in der NZZ, und die meisten leben eh in einer Art "iranisch-westlichen Mischkultur". Leiden werden sie in jedem Fall, fürchtet er: "Das iranische Regime und Donald Trump werden den derzeitigen Konflikt gemäß ihren Bedürfnissen eskalieren lassen und herunterfahren, aber wenn die Show vorbei ist, dürften die Iraner das geschlachtete Huhn sein. Kommt es zum Schlimmsten, dann werden sie nicht nur ärmer, sondern verlieren auch, was ihnen an kleinen Freiheiten und an Menschenwürde noch geblieben ist. Denn falls sich ein Konflikt verschärft, werden Unterdrückung, Staatsterror und Zensur in Iran noch grausamer. Das zeigen sowohl der Rückblick auf die Zeit des absurden irakisch-iranischen Kriegs als auch jüngste Erfahrungen."

Die Emma veröffentlicht einen Aufruf einiger Islamforscherinnen und Exiliranerinnen, die die Bundesregierung auffordern, ihre so Regime-freundliche Haltung gegenüber dem Iran aufzugeben: "Um glaubwürdig zu bleiben, muss die Bundesregierung zu einer Außenpolitik zurückkehren, die den Menschenrechten verpflichtet ist. Dazu gehört, Folgendes konsequent zu vertreten:
- Die Freilassung aller Frauen, die verurteilt wurden, weil sie Gleichberechtigung forderten, sowie die Freilassung aller politischen Gefangenen im Iran.
- Die Aufhebung des Kopftuchzwangs.
- Die Freilassung aller EuropäerInnen mit doppelter Staatsangehörigkeit, die von dem Regime als Geiseln gehalten werden.
- Den Stop der Hinrichtungen von Homosexuellen, den Stop aller Hinrichtungen im Iran.
- Keine offiziellen Treffen mit Vertretern des Regimes, da diese von dem Regime zu Propagandazwecken und zur Legitimierung seiner Politik missbraucht werden."
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Gesellschaft

Susanne Götze und Annika Joeres begeben sich im SZ-Feuilleton auf eine Tour d'horizon durch die Szene der "Klimaleugner" (ein Begriff, den die Autorinnen ohne Zögern verwenden). Von Fox-News über rechtspopulistische Parteien in Europa: Alle Klimaskeptiker verorten sie rechts. Sie räumen zwar ein, dass der Naturschutzgedanke gerade bei völkischen Strömungen ursprünglich populär war. Aber heute liegt Gut und Böse für sie klar auf der Hand: "Aus der 68er-Bewegung entstand in den Siebzigerjahren die Umwelt- und Friedensbewegung, die heute so lautstark für Klimaschutz eintritt. Ihr Geist ist das Gegenteil von nationalistisch: weltoffen, international und solidarisch mit armen Ländern des Südens. Eben diese Bewegung hat in den Achtzigerjahren auch die ersten Windräder aufgestellt und für die Gleichstellung der Frauen gekämpft."

Anlässlich der Affäre Matzneff (unsere Resümees) erzählt Jürg Altwegg in der FAZ, wie populär unter französischen Intellektuellen in den Siebzigern die Idee war, Pädophilie für legal zu erklären. Der Autor Gabriel Matzneff hatte einen dementsprechenden Aufruf verfasst und fast alle Intellektuellen mit Rang und Namen unterzeichneten ihn. Die Schriftstellerin Vanessa Springora hat die Geschichte durch ihr Buch "Le Consentement" wieder zu Bewusstsein gebracht: "Es war die Zeit einer kulturellen Regression mit der Pädophilie als Tabu, das fallen musste. 'In Frankreich ist die Macht der Literatur absolut', kommentiert der Historiker Jacques Julliard in Marianne, ein 'bandenmäßig organisiertes Pariser Milieu' habe sie konfisziert. Dass sich die Intellektuellen bereitwilliger als die Kirche mit ihren ideologischen Irrtümern und ihrer Propaganda für das Verbrechen Pädophilie auseinandersetzen würden, wird nach der 'Affäre Matzneff' niemand mehr behaupten wollen."
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Kulturpolitik

FAZ-Redakteur Thomas Thiel hat der einstigen Programmleiterin des Jüdischen Museum Berlin Yasemin Shooman vorgeworfen, aus dem Museum "ein Forum für Israel-Kritiker und BDS-Sympathisanten mit Querverbindungen zum politischen Islam" gemacht zu haben. Darauf hin entwickelte sich eine recht heftige Debatte um Shoomans Arbeit, die wie ihr Lehrer Wolfgang Benz für eine Denkrichtung steht, die Ressentiments gegen Muslime dem Antisemitismus gleichstellt (unsere Resümees). Shooman hat auf der Seite des "Rats für Migranten" mit einem Brief an FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube reagiert, wo sie der FAZ Falschbehauptungen vorwirft (die sie aber offenbar nicht juristisch angreift) - sie beklagt sich auch, keine Gelegenheit bekommen zu haben, "zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen". Thomas E. Schmidt verteidigt Shooman heute in der Zeit: "Den Angriffen gegen Yasemin Shooman in der FAZ oder der Welt, auf Twitter oder in Blogs geht es gerade nicht um einen Streit in der Sache, sondern sie stellen Shoomans wissenschaftliche Qualifikation infrage. Es geht um ihre soziale Existenz. Dass sie darüber hinaus auch noch Muslimin ist, geisterte als Bestätigung sämtlicher Vorurteile eine Zeit lang triumphal durch Kommentarspalten und Tweets - die meisten von ihnen wurden inzwischen gelöscht. Die ganz eigenen diskursiven Regeln, unter denen sich Wissenschaft organisiert, gelten nicht länger. Stattdessen zieht die in sozialen Medien übliche Aggression ein."
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Überwachung

Der Bundesinnenminister möchte gern auf allen Bahnhöfen Deutschlands eine automatische Gesichtserkennung installieren. "Rettet die Anonymität!",  protestiert Hanno Rauterberg in der Zeit und macht auf einen Unterschied zwischen der Datensammelei von Google und Co. und der Überwachung durch den Staat aufmerksam: "Während die Selbstentblößung im Internet meist freiwillig erfolgt und Teil einer Geschäftsbeziehung ist (ich bekomme Google Maps, dafür bekommt Google Maps meine Bewegungsdaten), beruht ja das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat auf dem Recht. Dieses Recht garantiert dem Einzelnen, mit öffentlichen, von ihm mitfinanzierten Bussen und Bahnen zu reisen, ohne dafür seine Identität als Gegenleistung offenlegen zu müssen. Man vertraut sich halt."

Sascha Lobo wendet sich in seiner Spiegel-online-Kolumne (die keine Spiegel-online-Kolumne mehr ist) gegen den von Wolfgang Schäuble mal wieder vorgebrachten Vorschlag der "Klarnamenpflicht" im Internet: "Ein Klarnamennetz wäre ein Paradies für Stalker, Mobber und Todeslistenfans. Man kann diese Realität nicht ignorieren. Aufgrund der nicht änderbaren Struktur des Internets werden bis zu einem bestimmten Grad immer Verschleierungen möglich sein und bleiben. Klarnamenpflicht mag sich für manche harmlos anhören, aber faktisch handelt es sich um eine radikalere Form des heute in China bestehenden Internets der autoritären Staatskontrolle."
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Medien

Im Jahr 1993 brachte der Spiegel einen Aufsehen erregenden Titel, recherchiert vom berühmten Reporter Hans Leyendecker. Der Artikel legte nahe, dass der Terrorist Wolfgang Grams bei seiner Festnahme in Bad Kleinen geradezu hingerichtet worden sei - wenig später stellte sich allerdings heraus, dass er sich selbst erschossen hatte. Der Spiegel-Titel führte damals zum Rücktritt des Bundesinnenministers und zur Abberufung des Generalbundesanwalts. Seit einigen Wochen kursiert der Verdacht gegen Hans Leyendecker, er habe für die Geschichte einen Informanten erfunden, wogegen er sich im Zeit-Gespräch mit Holger Stark und Heinrich Wefing vehement wehrt. Und bestimmte Vergleiche lehnt er kategorisch ab: "Bei Relotius geht es um Betrug, Fälschung, Vorsatz. Bei mir ist es weder Betrug noch Fälschung, noch Vorsatz. Die beiden Fälle gleichzusetzen ist eine Unverschämtheit. Hier spielt eine Mischung aus Naivität, Gemeinheit und Unbeholfenheit eine große Rolle. Statt einen Fall zu prüfen, der 26 Jahre zurückliegt, würde ich eher die Berichterstattung im Fall des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff untersuchen. Da liegt das Fiasko nicht nur zeitlich näher. Welche der an der Hetzjagd beteiligten Medien haben sich bei ihm entschuldigt?"
Archiv: Medien