9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Problem ein Problem nennen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.07.2020. Heute wird in der zu einer Moschee erklärten Hagia Sophia der erste islamische Gottesdienst abgehalten. Christliche Symbole im Gebäude werden aus diesem Anlass verhängt, berichtet die Deutsche Welle. Die Säkularisierung kann Erdogan damit nicht aufhalten, glaubt die Berliner Zeitung. In der SZ erklärt der ehemalige Finanzminister Hans Eichel dem ehemaligen Verfassungsrichter Peter M. Huber, was es heißt, dass im Grundgesetz nichts über einen "souveränen Nationalstaat" gesagt wird. In der Welt attackiert Helga Trüpel den Freiheitsbegriff von Julia Reda und fordert von nun an "Embedded freedom".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.07.2020 finden Sie hier

Europa

Heute wird in der zu einer Moschee erklärten Hagia Sophia der erste islamische Gottesdienst stattfinden, berichtet ein Autorenteam der Deutschen Welle: "Nach Angaben des türkischen Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) werden an dem Freitagsgebet etwa 500 Menschen teilnehmen. Auch auf dem Sultanahmet-Platz am Fuße der Hagia Sophia werden Tausende Besucher erwartet - nach türkischen Medienberichten werden 17.000 Polizisten vor der Moschee für Sicherheit sorgen. Während der Zeremonie sollen christliche Figuren und Fresken innerhalb des Gotteshauses verborgen werden. (...) Auch der Name des Predigers für die Einweihung am Freitag ist ein politisches Zeichen: Diyanet-Präsident Ali Erbas ist bekannt für seine konservative Auslegung des Islams."

Dass es bei der erneuten Umwidmung in eine Moschee durch Erdogan um reine Machtpolitik geht, stellt daneben Gerhard Matzig fest: "Wobei die Umwidmung des Istanbuler Gotteshauses, wie die NZZ berichtete, kein Einzelfall ist und ein strategisches Kalkül erkennbar wird, für das die Provokation des Westens nur eine willkommene Nebenwirkung darstellen dürfte. Die Sophienkirchen in İznik und Trabzon, resakralisiert und als Moscheen ausgewiesen, sind der Hagia Sophia in Istanbul vorausgegangen. Die Beispiele machen deutlich: Erdoğan geht es nicht allein um eine Wiederherstellung religiöser Räume; es geht ihm um die Zerstörung denkmalwerter Räume - es geht ihm um die Destruktion des Geschichtlichen." Außerdem: In der SZ erzählt der Turkologe Klaus Kreiser die Geschichte der Hagia Sophia seit ihrer Umwandlung in ein Museum durch Atatürk 1934.

In der Zeit-Beilage Christ und Welt hat dagegen Feridun Zaimoglu kein Problem mit der Umwidmung, im Gegenteil: "Ich begrüße, wenn in einem Gotteshaus wieder ein Gott angebetet wird. Die Hagia Sophia wurde ja schließlich nicht als Verwahranstalt und Showroom von Kultgegenständen gebaut." Sehr zufrieden ist er auch damit, dass "nun in der Hagia Sophia nicht mehr massenweise Touristen reinlatschen und immerfort Fotos knipsen können".

Besonders groß war das Interesse am Tag der Umwandlungsentscheidung allerdings nicht, schreibt Frank Nordhausen in der Berliner Zeitung: Nur zweihundert "Jubeltürken" kamen: "Erdogan scheitert an der profanen Wahrheit, dass die säkulare Moderne auch an der Türkei nicht spurlos vorbeigeht. In Wahrheit hat der prowestliche Republikgründer Atatürk, der die Hagia Sophia zum Museum und wichtigsten Symbol seiner säkularen Politik machte, längst gesiegt. Erdogans Rache ist historisch nur im Marx'schen Sinne, dass Geschichte sich höchstens als Farce wiederholt."

Der Historiker und Menschenrechtler Juri Dmitrijew ist in Russland zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, zum Glück nicht zu den 15 Jahren, die die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Dennoch: Der absurde und nicht belegte Vorwurf war Kindesmissbrauch, und Dmitrijew ist vorbestraft, kommentiert Klaus-Helge Donath in der taz: "Es ist die Infamie eines Systems, in dem der Staat alles und das Individuum ein Nichts ist. Dem hatte Dmitrijew durch die Aufdeckungen der Massengräber in Karelien aus der Zeit des Großen Terrors in den 1930ern entgegengearbeitet. Tausenden Opfern gab er Namen und Würde zurück. Dafür musste er bestraft werden."

Polen hat die EU einmal mehr vorgeführt, die EU schaut nach wie vor über die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit hinweg und die polnische Opposition schafft es nicht, die Menschen, die sich im "chauvinistischen" PiS-Polen eingerichtet haben, zu erreichen, hält Philipp Fritz in der Welt fest: "Deutsche Publizisten haben lange um Verständnis für Polen geworben, teilweise gar versucht, die irrwitzigen Argumente für die Abschaffung des Rechtsstaats aufzuschlüsseln. Es geht jedoch nicht um Verständnis. Europa muss den polnischen Justizumbau als europäisches Problem begreifen und sichtbar für liberale Werte einstehen. Es braucht gegenüber Polen mehr 'liberale Falken' wie Frans Timmermans oder Guy Verhofstadt, die sich erregen und ein Problem ein Problem nennen."

Im FAZ-Interview zum umstrittenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen die EZB sagte der Verfassungsrichter Peter M. Huber vor zwei Monaten: "Europa ist ein Verbund von souveränen Nationalstaaten, die sogar austreten können, wenn es ihnen nicht mehr passt." (Unser Resümee) Hubert irrt, entgegnet ihm der ehemalige Finanzminister Hans Eichel heute in der SZ und weist unter anderem darauf hin, dass die Bundesrepublik keineswegs ein "souveräner Nationalstaat" sei: "Klar, Deutschland hat seit dem 2 + 4-Vertrag alle Rechte, die andere Staaten auch haben. Aber: Der Begriff Nationalstaat kommt im Grundgesetz nicht vor und Souveränität kennt das Grundgesetz auch nicht, sondern nur Hoheitsrechte im Plural. Und das hat Gründe. Die 'souveränen Nationalstaaten' hatten bei allen Verdiensten, die ihnen auch zukamen, Europa in die schlimmsten Verheerungen seiner Geschichte gestürzt."
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Urheberrecht

Helga Trüpel, eine Grünen-Politikerin, die im EU-Parlament unter anderem dafür stimmte, dass den Urhebern Einnahmen aus Verwertungsgesellschaften entzogen werden, setzt ihren Kampf an der Seite der Verwerterindustrien heute in der Welt fort. Scharf attackiert sie Autoren wie Sascha Lobo oder Markus Beckedahl, die ein relativ offenes Netz fordern, aber noch schärfer  Julia Reda von den Piraten. Sie sei "jetzt Lobbyistin der Shuttleworth Foundation in Berlin gegen die Implementierung der Urheberrechtsreform. Julia Reda arbeitet auch für die Gesellschaft für Freiheitsrechte, um die angeblich gefährdeten Grundrechte zu verteidigen. Schaut man sich das Narrativ der Shuttleworth Foundation an, findet man die ganze Argumentation der Internetaktivisten, die in der grenzenlosen Freiheit eines unregulierten Netzes eine enorme Befreiung des Menschen sehen - durch Bildung, Kommunikation und freien Kulturaustausch. Das gipfelt in der Formulierung von 'limitless freedom'. Neoliberaler kann man es gar nicht formulieren." Gegen ein Zuviel an Freiheit in diesem zügellosen Internet schlägt Trüpel "Embedded freedom" und "Embedded liberalism" vor.
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Kulturpolitik

Viele französische Kommunen werden seit den letzten Kommunalwahl grün verwaltet - gut fürs Klima, schlecht für die Kultur, schreibt Martina Meister in der Welt. Denn Kulturpolitik spielt bei den französischen Grünen kaum eine Rolle, erkennt sie im Wahlprogramm: In der Rubrik 'Unsere Ideen' "steht viel über die Kondition der Tiere und die der Frauen, aber nichts über die Kultur. Es gibt Kommissionen für Esperanto, Feminismus, Behinderung, LGBT, aber die Zukunft von Opernhäusern oder kommunalen Kinos scheint nicht zu den grünen Zukunftsthemen zu gehören."
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Religion

Letzte Woche veröffentlichte die Glaubenskongregation der katholischen Kirche einen Leitfaden zum Thema Kindesmissbrauch. Gisa Bodenstein stellt bei hpd.de zwar einige Fortschritte auch beim Thema Kooperation mit staatlicher Justiz fest. Aber immer noch halte die Kirche am alten Schema fest: "Schon ein Satz ganz zu Beginn offenbart einen Grundsatzfehler katholischen Denkens, der trotz einer langen Geschichte von Erklärungsversuchen immer noch da ist: Die Rede ist vom Selbstverständnis, dass 'jedes dieser Delikte für die ganze Kirche eine tiefe und schmerzhafte Wunde' darstelle, 'die der Heilung bedarf'. Nach wie besteht hier also eine völlig deplatzierte Haltung darüber, wer der Geschädigte von Missbrauch ist. Ohne es zu merken, offenbart die Gemeinschaft der alten Herren einmal mehr, dass eben nicht, wie VaticanNews schreibt, der Opferschutz der 'zentrale Punkt' ist, sondern die Schadensbegrenzung an der Täterorganisation."
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Gesellschaft

Es sind in erster Linie Frauen, die von den Drohmails des "NSU 2.0" (mit der bekannten Rolle, die Polizeicomputer dabei spielen) bedroht sind. Der Antifeminismus des Rechtsextremismus wird nicht genug benannt, sagt die Aktivistin Eike Sanders im Interview mit Simon Sales Prado in der taz, und hinzukommt, dass "die Mails vom NSU 2.0 vermutlich in der statistischen Kriminalerfassung als rechte Taten eingestuft (werden), nicht aber als Gewalt gegen Frauen. Das wäre eine andere Statistik. Diese Statistiken sind bisher nicht miteinander verbunden. So wie ein rechter Täter, der seine Partnerin bedroht, nicht in der Statistik über Rechte auftritt, sondern bei Gewalt gegen Frauen, werden die Mails des NSU 2.0 nicht in der Statistik über Gewalt gegen Frauen sichtbar sein."

Identitätspolitik ist nicht neu, schreibt Claudia Mäder in der NZZ. Nachdem Werbefachleute im amerikanischen Wahlkampf der 1920er zunächst Kampagnen auf den "Durchschnittsamerikaner" zuschnitten, konzentrierten sie sich seit den Fünfzigern auf einzelne Personengruppen: "Bereits 1959 spannten die Demokraten mit einer neugegründeten Firma zusammen: Die Simulmatics Corporation fütterte einen leistungsstarken Computer mit Daten aus alten Meinungsumfragen und eruierte so die Präferenzen verschiedener Wählergruppen. Nicht weniger als 480 verschiedene Typen hat Simulmatics entworfen. Ob östlich-protestantisch-männlich-ländlicher Arbeiter oder südlich-jüdisch-weiblich-städtische Angestellte: Die Maschine wusste alle erdenklichen Merkmale zu kombinieren, und schon im Wahlkampf von 1960 konnte Kennedy Empfehlungen der Firma nutzen."
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