9punkt - Die Debattenrundschau

Als Nachfahre von Osmanen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.07.2020. Die Umwidmung der Hagia Sophia zur Moschee ist keine religiöse, sondern eine rein politische Tat Erdogans und offenbart eher seine Schwäche, meint Olivier Roy im Gespräch mit dem Blogger Eren Güvercin. In der taz analysiert der Soziologe Levent Tezcan die Widersprüche des Antirassismus. In Atlantic bespricht Anne Applebaum ein Buch über die Rolle Putins als KGB-Agent in Dresden - war der KGB an den letzten Anschlägen der RAF beteiligt? In der FR fordert Anetta Kahane bessere Polizeiarbeit bei der Aufdeckung rechtsradikaler Netzwerke. Und die taz findet: Soloselbständige im Kulturbereich haben's in der Coronakrise echt nicht leicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.07.2020 finden Sie hier

Europa

Die Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee ist keine religiöse, sondern eine rein politische Tat Erdogans und offenbart eher seine Schwäche, meint der Islamwissenschaftler Olivier Roy im Gespräch mit Eren Güvercin in dessen Blog: "Seine Partei hat sich nach dem Austritt der unabhängigen Köpfe wie Davutoglu, Gül und Babacan zu einer Clan- und Familienorganisation entwickelt. Paradoxerweise kontrollierte die AKP niemals das religiöse Feld. Der religiöse Arm der AKP wurde jahrelang von der Gülen-Bewegung geprägt, die Erdogan aber hintergangen haben. Das hat ihn noch paranoider gemacht. Es gelang ihm nicht, die Gesellschaft zu 'islamisieren', außer in einigen eher marginalen Punkten. Sein einziges religiöses Instrument ist die Religionsbehörde Diyanet, eine staatliche Bürokratie, die nicht in der Lage ist, die Jugend zu mobilisieren oder eine religiöse spirituelle Wiederbelebung zu fördern."

"Das war schon ein seltsames Bild. Ein Prediger, der sich während seiner Ansprache auf ein Schwert stützt, als Vertreter einer Religion des Friedens?", wundert sich Thomas Avenarius in der SZ angesichts der Wiedereröffnungszeremonie für die Hagia Sophia in Istanbul als Moschee und überlegt, was für einen Aufschrei es gegeben hätte, wäre etwas vergleichbares während einer christlichen Messe geschehen. Auch die Predigt war nicht ohne: "Bei der Zeremonie, bei der die türkische Staatsführung anwesend war und der Präsident aus dem Koran rezitierte, hielt Freitagsprediger Ali Erbaș als Chef der türkischen Religionsbehörde mit Hintersinn einen Säbel in der Hand: Er begründete es mit einer Tradition aus der Zeit der Sultane. Bei all dem, und vor allem bei dem vormodernen Inhalt der Predigt, blieben muslimische Vordenker erstaunlich still. Das Geschichtsbild dieser Predigt jedenfalls hat mit einem Islam des 21. Jahrhunderts nichts zu tun - außer vielleicht, man nähme unfairerweise den Islam des bewaffneten Dschihad als Islam des neuen Jahrhunderts an."

Tja, im Westen stürzt man Kolumbus-Statuen, im Osten hat man keine Scheu vor der eigenen gewalttätigen Kolonialgeschichte, notiert Konrad Paul Liessmann in der NZZ. Während Erdogan Sultan Mehmed II. feiert und damit "einen deutlichen Kontrapunkt zum Imperativ der Restitution [setzt], der die Rückgabe von gewaltsam annektierten Kulturgütern fordert: Ansprüche der orthodoxen Christenheit auf ihr bedeutendstes und schönstes Gotteshaus existieren nicht einmal theoretisch", wäre im Westen "ein stolzes Bekenntnis zum wagemutigen genuesischen Seefahrer mittlerweile undenkbar. Dass dieser nicht nur für den Beginn eines brutalen Kolonialismus, sondern auch für jenen selbstbewussten Pionier- und Forschergeist steht, der noch die mit viel Pathos gestarteten Mars-Missionen unserer Tage auszeichnet, muss verschämt ausgeblendet werden."

Die Christenheit kann die Rückwidmung der Hagia Sophia schon aushalten, meint Thomas Schmid in der Welt achselzuckend. Schließlich werden auch bei uns immer häufiger Kirchen entweiht oder umgewidmet. "Allein im Bistum Aachen, das zu den katholischen Stammlanden Deutschlands gehört, wurden in den vergangenen drei Jahrzehnten fast 30 Kirchen ihrer religiösen Bestimmung entzogen. ... Christen mag das schmerzen. Aber es ist nun einmal so: Die abnehmende religiöse Bindung von Deutschen, die allenfalls noch formell Christen sind, befördert den Kirchenschwund in Deutschland. Nicht die Muslime, sondern die Nichtmuslime selbst sind dafür verantwortlich."

Die radikalere deutsche Linke - und zwar sowohl die Betonlinke um die Junge Welt als auch gewichtige Stimmen der "Antideutschen" um Konkret - gehörten zu den frühesten Leugnern des Massakers von Srebrenica, schreibt Krsto Lazarević in der Jungle World. Besonders interessant ist der kleine Hops Jürgen Elsässers vom einen zum andern Ende des Hufeisens: "Jürgen Elsässer gehörte in den neunziger Jahre zu jenen radikalen Linken, die sich auf die Seite serbischer Kriegsverbrecher stellten und behaupteten, dass es sich bei vielen Bosniaken, also den Opfern des Genozids von Srebrenica, um Islamisten gehandelt habe. Elsässer radikalisierte seine Positionen schrittweise. Schrieb er noch 2002 in der Konkret, dass es wahrscheinlich 2.000 bis 3.000 Tote in Srebrenica gegeben habe, reduzierte er seine Einschätzung 2003 im Freitag auf 1.500 Opfer. In der Jungen Welt schrieb er bereits 2004 vom 'Srebrenica-Mythos'. Je offenkundiger das Ausmaß der Massaker wurde, umso mehr bagatellisierte Elsässer den Massenmord. Solche Texte verfasste er damals für fast jedes linke Blatt, das am Kiosk erhältlich war. Bei seiner Reise von der radikalen Linken zur extremen Rechten blieb Elsässer seinen Positionen zu den Jugoslawien-Kriegen treu..."

Anne Applebaum bespricht im Atlantic Catherine Beltons Buch "Putin's People: How the KGB Took Back Russia and Then Took On the West", in dem die ehemalige Financial-Times-Korrespondentin die Rolle Putins als KGB-Agent in Dresden nach dem Mauerfall näher beleuchtet. "Gerade weil die Stadt im Hinterland lag und damit für andere Geheimdienste uninteressant schien, organisierten KGB und Stasi in Dresden Treffen mit einigen der extremistischen Organisationen, die sie im Westen und in der ganzen Welt unterstützten. Ein ehemaliges Mitglied der Roten-Armee-Fraktion...erzählt Belton, dass eine ihrer berüchtigtsten späten Aktionen mit Hilfe des KGB und der Stasi in Dresden geplant wurde. Ende November 1989 starb Alfred Herrhausen, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, nachdem eine Bombe sein Auto getroffen hatte. Herrhausen war zu dieser Zeit ein enger Berater der deutschen Regierung in Fragen der Ökonomie der Wiedervereinigung und ein Befürworter einer stärker integrierten europäischen Wirtschaft."

In Deutschland wird generell zu wenig getan gegen Antisemitismus, meint im Interview mit der FR Daniel Neumann, Direktor der Jüdischen Gemeinden in Hessen: "Es reicht nicht, dass man an Gedenktagen große Worte schwingt. Man hat oft das Gefühl, dass das Wallungen sind, die als politisches Pflichtprogramm absolviert werden und in dem Moment vergessen sind, in dem die Gedenkveranstaltung vorbei ist. ... Es muss beleuchtet werden, welche Mechanismen damals gewirkt haben und wie sich ähnliche Mechanismen auch in anderen weltweiten Konflikten zeigen. Damit kann man auch die Brücke zu Menschen mit Migrationshintergrund schlagen, die vielleicht eine andere Ansprache brauchen, indem ihre eigene Lebenserfahrung mit eingebracht wird."

Und Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, fordert - ebenfalls in der FR - bessere Polizeiarbeit bei der Aufdeckung rechtsradikaler Netzwerke: "Noch begnügt man sich damit, von Einzelfällen zu sprechen. Hier ein Versager, da ein 'echter' Nazi, hier ein paar antisemitische Spinner, die lustige Verschwörungstheorien basteln. Allen gemein ist ihr Rassismus und die Vorstellung, dass die Juden den großen, bösen Plan haben. Wenn Halle und Hanau sich nicht wiederholen sollen, wird es Zeit, nicht mehr die Augen davor zu verschließen, wie weit diese Netze gespannt sind, die langsam die Gesellschaft und die Behörden zu vergiften drohen."
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Ideen

Levent Tezcan, Professor für Soziologie in Münster, und 1988 als Flüchtling nach Deutschland gekommen, analysiert in der taz die Paradoxien des grassierenden "Antirassismus": "Die westliche Zivilisation ist wohl die erste, deren Selbstverständnis es nicht nur zulässt, sondern geradezu vorschreibt, dass die Schwachen den Mächtigen vorwerfen dürfen, dass diese eben die Mächtigen sind. Als Nachfahre von Osmanen, deren Eroberungssinn dem der Europäer lange in nichts nachstand, kann ich mir schwer vorstellen, dass so etwas dort, aber auch bei den Römern, antiken Griechen, Mongolen, in den Hindureichen, um vom Reich der Mitte ganz zu schweigen, je denkbar gewesen wäre. Für viele People of Color beginnt aber die Geschichte mit dem westlichen Kolonialismus und sie wird auch, darin belehren uns täglich die Postkolonialen, nie enden." Auch Isolde Charim macht beim Thema Antirassismus in ihrer heutigen taz-Kolumne einen "Unterschied zwischen notwendigem Widerstand und überschießendem Exzess".
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Internet

Das Pekinger Unternehmen Bytedance, das die superpopuläre App und Plattform TikTok betreibt, kommt besonders in den USA (aber auch in Indien) immer mehr unter Druck - eben weil es ein Pekinger Unternehmen ist, berichtet der Pekinger taz-Korrespondent Fabian Kretschmer: "ByteDance versucht jetzt vor allem, sich ein internationales Image zu verpassen, das potenzielle Verbindungen zu Chinas Kommunistischer Partei vergessen machen soll: So wurde der frühere Disney-Vorstand, Kevin Mayer, als CEO rekrutiert und eine Horde PR-Lobbyisten angeheuert. Doch kommt TikTok aus seinem Herkunftsdilemma nicht heraus: Sollte Peking tatsächlich Informationen von dem Start-up anfordern, gäbe es praktisch keine rechtliche Grundlage, dagegen vorzugehen."

Außerdem: In einem Urteil zum "Recht auf Vergessenwerden" hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass Entscheidungen im Einzelfall getroffen werden müssen, weil "auf der einen Seite das Persönlichkeitsrecht des Antragsteller, (steht) auf der anderen Seite die unternehmerische Freiheit von Google, die Pressefreiheit des verlinkten Mediums sowie das Informationsinteresse der Öffentlichkeit", berichten Christian Rath in der taz (hier) und Charlotte Pekel in Netzpolitik (hier). Kurz: das Recht ist eine Gelddruckmaschine für Rechtsanwälte.
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Kulturpolitik

Es ist leider so: Die "Soloselbständigen" sind von der Coronakrise besonders getroffen, und im Kulturbereich gibt es mehr Soloselbständige als irgendwo sonst, schreibt Sabine Seifert in der taz, die mehrere Künstler, Musikerinnen und andere aus dem Kulturbereich getroffen hat. Nur ein Beispiel: "Schon im Januar hatten sich die Museumspädagog*innen aus dem Netzwerk 'Geschichte wird gemacht' mit einem offenen Brief an Berlins Kultursenator und Staatsministerin Monika Grütters gewandt, worin sie eine grundlegende Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen fordern. Verbessert, so viel lässt sich sagen, hat sich in der Coronazeit nichts. Gespräche mit einzelnen Häusern fanden statt, weiß Anschütz, aber 'ohne konkrete Ergebnisse'. Museumspädagog*innen werden nicht nur in die Soloselbstständigkeit gedrängt, sondern sind besonders gestraft: Ihr Beruf gilt als Gewerbe. Das hat Folgen bei der Umsatzsteuer und bei der Krankenversicherung. Sie haben kein Anrecht auf die Künstlersozialkasse." Seifert verweist  auf eine Studie zum "Arbeitsmarkt Kultur", die der Deutsche Kulturrat gerade herausgebracht hat.

Klaus-Dieter Lehmann, ehemals Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, wendet sich in der FAZ gegen das Gutachten des Wissenschaftsrats, das mehr oder weniger die Zerschlagung der Stiftung empfiehlt: "Ich habe hier kein Hemmnis erlebt und kann es auch nach wie vor nicht aus dieser Konstellation der gemeinsamen Trägerschaft ableiten. Ich fürchte eher, dass durch das Ende der Länderverantwortung und der daraus resultierenden Notwendigkeit eines neuen Bundesgesetzes die politischen Auseinandersetzungen den Reformprozess blockieren werden."
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