9punkt - Die Debattenrundschau

Durch Mustererkennung in Kontexte gebracht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2020. Nach den gefälschten Wahlen von Belarus gingen die Weißrussen in dieser Nacht auf die Straße - erste Impressionen. In Berlin revoltieren die Chefs der Staatlichen Museen gegen die Preußen-Stiftung und Ministerin Grütters, die Berliner Zeitung erklärt, warum. Die SZ erklärt, was anders ist, wenn eine Maschine dein Gesicht erkennt. In der Welt geißelt Peter Schneider das "Klima verbaler Ausfälle", dem sich heute Kabarettisten, aber auch Landtagsabgeordnete, Notärzte, Polizisten, Feuerwehrleute, Journalistinne ausgesetzt sehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.08.2020 finden Sie hier

Europa

Nach den gefälschten Wahlen ist es heute Nacht überall in Weißrussland zu Siegesfeiern der Opposition aber auch zu Polizeigewalt gekommen, berichtet Mathieau von Rohr in Spiegel online: "In den vergangenen Wochen hatte die oppositionelle Herausfordererin Swetlana Tichanowskaja die größten Massenveranstaltungen in der Geschichte des Landes zustande bekommen - nun soll sie angeblich nur sieben Prozent der Stimmen bekommen haben. Die Berichte über Wahlfälschung, Wählerbehinderung, Verhaftung von Politikern und Wählern sprechen für sich."

In seinem Bericht über die Wahlnacht erklärt Spiegel online auch, warum man das Land jetzt als "Belarus" bezeichnet und der Spiegel diese offiziellen Bezeichnung des Landes folgt: "Um deutlich zu machen, dass es sich bei Belarus um einen souveränen Staat handelt, der nicht Teil Russlands ist, hat das Auswärtige Amt seit geraumer Zeit begonnen den offiziellen und zeitgemäßen Namen zu verwenden. Der Spiegel schließt sich dieser Entwicklung an und wird künftig Belarus statt Weißrussland schreiben, Weißrussinnen und Weißrussen nun als Belarussinnen und Belarussen bezeichnen."




Polen und die Türkei wollen die Istanbul-Konvention aufkündigen, in der sie sich dazu verpflichtet hatten, häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen - und das, obwohl die Gewalt gegen Frauen nicht nur in diesen beiden Ländern seit den Coronamaßnahmen stark angestiegen ist. Im Tagesspiegel schreibt dazu Annabelle Chapman: "Der Hintergrund ist ein gemeinsamer: In beiden Ländern lehnen es sozial konservative Gruppen ab, wie das Abkommen 'Geschlecht' definiert, nämlich als 'die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmale, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht'. In der Türkei haben konservative Kräfte behauptet, die Konvention sei darauf ausgerichtet, die Struktur der Familie zu zerstören und die Rechte von queeren Menschen voranzubringen. Die Diskussionen in Polen und der Türkei sind nicht neu, sondern vielmehr Bestandteil der konservativen Wende unter den regierenden Parteien, die beide von religiösen Kräften gestützt werden. Zwischen der Geschlechterfrage und dem Aufschwung rechtspopulistischer Parteien besteht ein enger Zusammenhang - von Russland bis zu den USA."

In einem langen Interview mit der Berliner Zeitung kritisiert der Satiriker und EU-Parlamentarier Martin Sonneborn die politische Richtungslosigkeit der EU und Ursula von der Leyen: "Bei ihrem Antrittsbesuch habe ich sie begrüßt und meine Freude darüber zum Ausdruck gebracht, dass ich nun nicht mehr der unseriöseste Vertreter der europäischen Demokratie bin. Es war ja auch ein kaputtes Personaltableau, das der Rat präsentiert hat: der vorbestrafte Borrell, eine kriminelle Französin, die keine Ahnung von Bankgeschäften hat und jetzt die europäische Zentralbank leitet. Und dann eben Frau von der Leyen, bekannt durch die Berateraffäre." Auch die Zusammenstellung der Kommissare findet er zweifelhaft: "Die Dichte von Millionären und Multimillionären ist erschreckend hoch. Ich durfte in den Anhörungen die Kroatin Dubravka S. befragen, woher ihre Millionen stammen. Sie konnte das nicht schlüssig erklären. Trotzdem wurde sie Kommissarin." Von Verkehrsminister Andreas Scheuer ganz zu schweigen: "Es ist erstaunlich, dass er 600 Millionen Steuergelder in den Sand gesetzt hat und jetzt daran basteln darf, eine europaweite Maut einzuführen. Wo bleibt da der öffentliche Druck? Wo bleibt die Empörung?"
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Wie am Wochenende gemeldet, fordern die Museumsdirektoren der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in einem offenen Brief Mitsprache bei einer Reform, die sie ihre Posten kosten könnte. Ihre Kritik "richtet sich nicht nur an die Stiftungsspitze unter Hermann Parzinger", schreibt in der Berliner Zeitung Nikolaus Bernau, "sondern auch an die für die Finanzierung der Stiftung letztlich verantwortliche Beauftragte des Bundes für Kultur und Medien, Monika Grütters. Ihr Engagement für die Museen wird in diesen Tagen nämlich oft als massiv übergriffig betrachtet. Sie installierte über die Museumsspitze hinweg das inzwischen als Trio infernale bekannte Dreierteam mit den Gründungsintendanten Hermann Parzinger, dem britischen Museumsmanager Neil MacGregor und dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp für das Humboldt-Forum. Es agierte unter der demütigenden Behauptung, die Museen selbst könnten das Projekt nicht stemmen. Die drei demontierten zwar viele von deren Ausstellungskonzepten, setzten aber außer einer umstrittenen weiteren Bildungsakademie keine Alternativen an ihre Stelle."
Archiv: Kulturpolitik

Gesellschaft

Der Streit zwischen Dieter Nuhr und der DFG (unsere Resümees) hat sich am Ende nach einer vermittelnden Intervention von Ranga Yogeshwar zum Guten gewendet - Dieter Nuhrs Statement zum Geburtstag der DFG darf auf ihrer Website wieder erscheinen, es war nach Interventionen eines Tugendmobs in den sozialen Medien gelöscht worden. Peter Schneider zieht den Fokus in der Welt  etwas weiter und sieht den Streit als ein Symptom: "Nicht nur der Einzelkämpfer Nuhr, auch Bürgermeisterinnen kleiner und großer Gemeinden, Landtagsabgeordnete, Notärzte, Polizisten, Feuerwehrleute, Journalisten beklagen sich darüber, dass sie ihre Arbeit in einem Klima verbaler Ausfälle bis hin zu physischer Bedrohung verrichten. Offenbar ist es gefährlich geworden, einem Meinungskartell oder auch einzelnen Wutbürgern entgegenzutreten, die sich anmaßen, im Alleinbesitz der Wahrheit zu sein. Dabei geht die Drohung nicht etwa von staatlicher Zensur und Verfolgung aus, sondern von Bürgern, die ihre Überzeugung absolut setzen und jede Verhandlung darüber für eine unerträgliche Zumutung halten."

Die russischen Frauen sind oft unglaublich: Was sie wagen, was sie im Alltag stemmen, wieviel Mut sie oft zeigen, kann einem den Atem verschlagen. Aber in einem Punkt gehen viele leider oft konform, bedauert Elena Chizhova in der NZZ. In der Politik verlassen sie sich auf die Männer, Veränderungen fürchten sie: "Die meisten russischen Frauen, vor allem in der Provinz, haben eine harte Schule des Überlebens durchlaufen, und sie wissen keineswegs abstrakt, sondern aus eigener Erfahrung, was radikale politische Veränderungen für sie ganz persönlich bedeuten können. Die jungen Reformer um Boris Jelzin (zumeist Männer) haben dies leider nicht berücksichtigt. Ebenso wenig haben sie etwas anderes berücksichtigt: Der seelische Bruch, der dort entsteht, wo eine wahrhaft patriarchale Gesellschaft ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln muss (was ein russisches Sprichwort lakonisch so ausdrückt: 'Mein Mann ist mein Bollwerk'), verleitet die Frauen - in der sehnlichen, wenn auch illusorischen Hoffnung auf Ruhe und Frieden - dazu, nicht nach rechts oder nach links, sondern nach oben zu blicken: dorthin, wo im Gleißen von Macht und Ruhm der einzige 'richtige Mann' sitzt."
Archiv: Gesellschaft

Internet

Der geschlossene Messengerdienst Telegram, der anders als soziale Medien die Posts von Gruppen nicht durch Algorithmen hierarchisiert und darum noch aktueller ist, hat sich als ideales Ökosystem für den Rechtsextremismus erwiesen, schreibt Stefan Krempl in golem.de, unter anderem unter Bezug auf den Experten Miro Dittrich von der NGO "De:hate": "Dienste wie Telegram erhöhen laut Dittrich 'die Wirkungsmacht rechter Falscherzählungen enorm'. Abonnenten hätten 'das Gefühl einer parasozialen Beziehung - sie glauben nach einiger Zeit, den Absender wirklich zu kennen'. So entstehe eine Bindung, Widerspruch oder korrigierende Informationen fänden sich in der Gruppenkommunikation in der Regel nicht. Selbst offene Neonazi-Gruppen fühlten sich auf Telegram gänzlich unbeobachtet, posteten Hakenkreuze oder bereiteten sich auf den Tag X ihrer Machtübernahme vor."
Archiv: Internet

Geschichte

Die Figur des Winston Churchill, den die meisten Engländer nach wie vor als den bedeutendsten Mann ihrer Geschichte ansehen, wird in einigen Bücern neu bewertet, berichtet Gina Thomas in der FAZ. Unter anderem kommt im September Ian Burumas neues Buch "The Churchill Complex", der vor allem die "Vorstellung, dass die englischsprachigen Völker die Welt vor der Tyrannei gerettet hätten" und das britisch-amerikanische Verhältnis neu beleuchte: "Seine Darstellung dieser vielfach beschworenen, selbst mythisierten 'Sonderbeziehung' ist weniger eine Kritik an Churchill als an all den Präsidenten und Premierministern, die sich aus Angst, wie Neville Chamberlain als Beschwichtiger gebrandmarkt zu werden, verführen ließen von der Aussicht, die Demokratie gegen Despoten zu verteidigen. Dieser gemeinsame Mythos sei zugleich großartig und ein Fluch gewesen, so Buruma."

Wer glaubt, der Westen habe mit seinen Kolonisierungen die Welt bestimmt, möge Jason Sharmans "Empires of the Weak" lesen, empfiehlt Arno Widmann in der FR. Er hat aus dem Buch gelernt, dass China und das Osmanische Reich zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert weitaus mehr Einfluss hatten als die Europäer. "Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein hatte es niemals eine Überlegenheit des Westens gegeben. In China wird heute gerne die Demütigung durch den Westen beschworen. Die Revolutionäre von 1911 dachten anders darüber. Sie stürzten die Mandschu-Dynastie als eine Fremdherrschaft, die sich das ganze Land unter den Nagel gerissen hatte und riefen am 1. Januar 1912 die Republik aus. Das älteste Kaiserhaus der Erde war gestürzt. Die 'Großen Mächte', von denen Leopold von Ranke (1795-1886) in seinem sehr schönen Text aus den 1830er Jahren spricht, sind damit verglichen mickrige Zwergstaaten. Es gibt bei Ranke keinen Hinweis darauf, dass die wirklich großen Reiche jener Jahrhunderte die Produkte von Nachkommen nomadischer Reitervölker aus Zentralasien waren. Auch in vielen der heute erscheinenden Globalgeschichten wird das gerne übersehen."
Archiv: Geschichte

Überwachung

In der SZ berichtet Bernd Graff über einen Artikel des Medienwissenschaftlers Garfield Benjamin, der im Akademie-Journal The Conservation die immer offensiver eingesetzte Gesichtserkennungssoftware in Britannien beschrieben hat. "In einer Online-Diskussion zu Garfield Benjamins Recherche fragte ein Kommentator, was daran eigentlich so schlimm sei. Er etwa werde jeden Tag beim Brötchenholen von unzähligen Nachbarn erkannt, das sei ja dann auch anlasslose Überwachung. ... Benjamin erwiderte, dass Menschen immer Personen bleiben, wenn einzelne Menschen sie in einer konkreten Situation beobachten. Auch wenn gezielt nach jemandem gesucht wird, bleibe er oder sie das Subjekt dieser Suche. Doch hören wir auf, konkrete Personen zu sein, wenn wir anlasslos automatisiert massenüberwacht, identifiziert und durch Mustererkennung in Kontexte gebracht werden, die wir nicht mehr kontrollieren können."
Archiv: Überwachung
Stichwörter: Gesichtserkennung