9punkt - Die Debattenrundschau

Die unzähligen vorgeschobenen Argumente

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2020. Im Perlentaucher kritisiert Peter Mathews das "Wehrhafte-Demokratie-Fördergesetz", mit dem die Bundesregierung Rechtsextremismus bekämpfen will - und nebenbei einen bestimmten Antirassismusbegriff instituiert. Allein schon die Debatte um die Erhöhung der  Rundfunkgebühren ist ein Erfolg der Rechtsextremen, meint Leonhard Dobusch in Netzpolitik. In der taz will sich Charlotte Wiedemann ihren Abscheu vor den Mohammedkarikaturen nicht untersagen lassen. In der NZZ will der Kulturtheoretiker Homi Bhabha den Begriff der Staatsbürgerschaft neu definieren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.12.2020 finden Sie hier

Ideen

Charlotte Wiedemann bekennt in der taz ihren ganzen Respekt für Religion. Spöttisches Eintreten für Aufklärung erscheint ihr als Anmaßung: "Zurückhaltung und Respekt für die Sensibilität anderer ist weder ein Einknicken vor Islamismus noch Selbstzensur. Seit vor anderthalb Jahrzehnten eine dänische Zeitung den jüngeren Reigen der Mohammedkarikaturen eröffnete, hat diese Auseinandersetzung nichts Gutes hervorgebracht, nur vermehrten Hass. Ist etwas deshalb wertvoll, weil es angegriffen wird? Die sexualisierte Häme, wie sie im Stil von Charlie Hebdo gepflegt wird, berührt mich unangenehm. Die Ermordung der Zeichner war entsetzlich, so wie jüngst die von Samuel Paty. Aber ist es deswegen untersagt, für den Verzicht auf diese Art von Karikaturen zu plädieren?" Äh, ist es nicht eigentlich Wiedemann, die hier für ein Verbot plädiert?

In der Welt kann der schweizer Schriftsteller Giuseppe Gracia das Gemecker über die westlichen Demokratien nicht mehr hören. Vielleicht sollte man mal raus und sich andere Nationen angucken? Die wären ein realistischerer Maßstab als das Utopia, an dem Kritiker westliche Missstände gern messen. "Man kämpft gegen Rassisten oder Sexisten und blendet aus, dass es im Westen, weltweit gesehen, mit Abstand am wenigsten Rassismus und Sexismus gibt. Nur wenn man an der Utopie einer rassismusfreien, sexismusfreien Wundergesellschaft festhält, kommt man auf die Idee, besonders den Westen anklagen zu müssen. Ähnlich bei der Diskussion ums Klima: Man vergleicht die westlichen Umweltstandards nicht mit den Standards in China, Indien oder Russland. Sondern man fragt: Wie lange dauert es, bis Europa und die USA emissionsfrei sind? Dabei dominiert eine sogenannte "Non-Human-Perspective". Das bedeutet: Man beurteilt die Auswirkungen der Menschheit auf die Umwelt nach dem utopischen Ideal einer Umwelt ohne Menschen und ihre Maschinen."

Es ist beim Sprechen über Afrika ziemlich schwer, den Klischees zu entkommen, denn oft kommen sie  durch die Hintertür zurück, schreibt die Historikerin Gesine Krüger bei geschichtedergegenwart.ch: "Es gehört zum guten Ton - sei es in aktivistischen Kreisen, sei es in Medienberichten - Kommentare über die Geschichtslosigkeit Afrikas spöttisch oder empört zurückzuweisen. Allerdings folgen dann selten kenntnisreiche historische Belege für das Gegenteil, sondern eine Umwertung von Begriffen und Konzepten. 'Stämme', 'Häuptlinge' und 'Naturvölker' sind dann nicht Beleg für Rückständigkeit, sondern etwa für ökologische Weisheit oder schützenswerte Lebensformen - Stichwort 'bedrohte Völker'."

"Während der Tesla Lenkung und Bremsen hat, fehlen die Gegenstücke im Wirtschaftsliberalismus", antwortet in der NZZ der Unternehmer Hans Widmer den bekennenden Wirtschaftsliberalen Rene Scheu und Oliver Zimmer. "Wer die Segnungen des Wirtschaftsliberalismus lobpreist und zugleich bei den Kollateralschäden wegschaut, ist ein platter Parteibüffel. Der wahrhafte Liberale bedenkt das Ganze, den materiellen Fortschritt und die sozialen Folgen, die Freiheit und die Notwendigkeit eines starken Staates. Es geht nicht um Moral, sondern um Denkarbeit und Vernunft. Liberale aller Länder, hört auf mit euren Freiheitshymnen. Nehmt Euch der Kollateralschäden an, so tut ihr mehr für die Freiheit."

Verschwörungsideologien finden sich vor allem im rechten und rechtsextremen Spektrum, behauptet der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber im Gespräch mit Daniela Wakonigg bei hpd.de: "Tatsächlich gibt es verschwörungsideologische Kontinuitäten von der Völkischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den Corona-Protesten. Die Völkische Bewegung bestand als Sammlungsströmung zwischen 1870 und 1933 und war von Antisemitismus, Imperialdenken, Rassismus und Sozialdarwinismus geprägt. Verschwörungsideologische Inhalte richteten sich insbesondere gegen die 'Juden' und später dann gegen die 'Freimaurer', aber auch gegen die 'Bolschewisten', denen man unterstellte, sie wollten die nationalistische Ordnung durch eine internationalistische 'Weltrepublik' ablösen. Da die NSDAP als Teilbereich der Völkischen Bewegung anzusehen ist, wurde die antisemitisch-antifreimaurerische Verschwörungsideologie 1933 zu einer Staatsideologie."

Der Kulturtheoretiker Homi Bhabha plädiert im Interview mit der NZZ für eine Restrukturierung der Gesetze und Normen der Staatsbürgerschaft. Wie genau das aussehen soll, bleibt eher wolkig: "Es gibt mehr als 75 Millionen Flüchtlinge auf der Welt - Menschen, die durch den Klimawandel, despotische Regierungen, Bürgerkriege, wirtschaftliche Chancenlosigkeit und endlose blutige Kriege vertrieben wurden. Diese Leute haben keine Nation, aber sie sind Teil der Weltbevölkerung und verdienen die Menschenrechte, die moralischen, ökonomischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rechte, die jedem Staatsbürger zustehen. ... Wir müssen die Idee der Staatsbürgerschaft radikal neu denken. Im Kern ihres ethischen Imperativs steht der Mensch, der trotz entsprechenden rechtlichen Vorschriften keine Rechte und so gut wie keine gesellschaftliche Anerkennung genießt."
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Gesellschaft

Die Bundesregierung hat ein Milliardenprogramm (unter dem Titel "Wehrhafte-Demokratie-Fördergesetz") zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus beschlossen und will darum einige Organisationen großzügiger und langfristiger unterstützten. Peter Mathews liest sich den Katalog der Bundesregierung für den Perlentaucher durch und fürchtet, "dass es der Bundesregierung bei all diesen Maßnahmen gar nicht so sehr um den Kampf gegen den Rechtsextremismus  als um  die Rückgewinnung der Deutungsmacht über die Flüchtlings-, Migrations- und Integrationspolitik geht." Besonders kritisiert Mathews die MigrationsforscherInnen um Naika Foroutan und ihr Dezim-Institut: "Diese Migrationsforscher, Stiftungen und Institute und Medienmacher erforschen und beschreiben seit Jahren nicht die Probleme der Migrationsgesellschaft, sondern schreiben die Probleme der Zuwanderung einzig den Vorurteilen der Mehrheitsgesellschaft zu. Sie zementieren den Opferstatus der Migrantencommunities."

Nebenbei wäre übrigens zu klären, warum es der Bekämpfung des Rechtsextremismus dienen soll, "neue deutsch-israelische Austauschprojekte u.a. auch mit sog. 'israelkritischen' Akteuren" zu fördern (so Punkt 60 des Katalogs der Bundesregierung).

Programme wie dieses "Wehrhafte-Demokratie-Fördergesetz", aber auch Forderungen an die Regierungen etwa beim Thema Klima belegen für den Politologen Wolfgang Merkel in der FAZ "die Sehnsucht nach der Wissenschaft als neuem Philosophenkönig, der sittlich wie kognitiv auf der Höhe der Probleme am besten durchregiert".
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel berichtet Nicola Kuhn über die Tagung "VEB Kunst" zum Thema Kulturgutentzug und Handel in der DDR. Es geht dabei um "staatlich entwendete Kulturobjekte" in der DDR, aus Museen oder von Privatpersonen. Im Westen ist das Thema noch kaum angekommen, erfährt Kuhn, aber im Osten hat man mit einer umfangreichen Recherche begonnen: "Allerdings gestaltet sich die Einzelfallrecherche weiterhin schwierig. Aufklebenummern verraten zwar, ob die Bezahlung in bar oder per Autotausch - als AT notiert - erfolgte, ansonsten helfen die Codes bei der Identifizierung von Einlieferern und Käufern kaum - es wurde gezielt verschleiert. Wenn auch das Verfahren staatlich legitimiert war, um Valuta einzufahren, bestand offensichtlich trotzdem ein Unrechtsbewusstsein. Die Museen wurden bedrängt, Objekte abzuliefern, die Privatsammler mit der Steuerfahndung kriminalisiert, Ausreisende mussten vermeintlich unter Kulturgutschutz stehende Objekte zurücklassen. Die KuA [Kunst & Antiquitäten GmbH der DDR] köderte im ganzen Land mit Experten, die Geldbündel bei sich trugen, oder übte mit Hilfe der Staatssicherheit Druck aus. Der noch existierende private Kunst- und Antiquitätenhandel wurde brutal ausgebremst, um die Ware ins eigene Lager, nach Mühlenbeck umzuleiten."
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Internet

Facebook hat sich eine Art Rundfunkrat geschaffen, der strittige Fälle über Streichungen von Äußerungen oder Gruppen klären soll. Der Rat wird allgemein für seine Zahnlosigkeit kritisiert, schreibt David Gilbert bei Vice.com. Sechs Fälle sollen jetzt verhandelt werden, unter anderem "ein Fall, in dem ein Nutzer Screenshots von Tweets des ehemaligen malaysischen Premierministers Mahathir Mohamad gepostet hat, in denen dieser erklärte, dass 'Muslime das Recht haben, wütend zu sein und Millionen von Franzosen für die Massaker der Vergangenheit zu töten'. Der Nutzer sagte, der Beitrag sei nur dazu gedacht, das Bewusstsein für die 'schrecklichen Worte' des ehemaligen Premierministers zu schärfen." Neben dem Oversight Board hat sich noch ein "Real Facebook Oversight Board (RFOB)" aus externen Facebook-Kritikern gebildet, die unter anderem die Verbannung Steve Bannons von Facebook fordern.
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Wissenschaft

Künstliche Intelligenz kann die Faltung von Proteinen vorausberechnen und erweist sich dabei inzwischen als ebenso effizient wie die viel zeitaufwändigeren experimentellen Methoden - das ist die große Meldung über einen Erfolg von Googles KI-Ableger Deepmind in den heutigen Zeitungen. Bei golem.de schreibt Frank Wunderlich-Pfeiffer: "Die Fortschritte kamen. Langsam. Ausgehend von den experimentellen Methoden im Labor wird geschätzt, dass die Proteinstrukturen auf einer Skala von 100 Punkten mit einer Genauigkeit von etwa 90 Punkten bestimmt werden können. 1994 erreichten die besten Programme 20 Punkte in diesem 'Global Distance Test'. Bis 2016 verbesserten sich die Punktzahlen auf 30 bis 40 Punkte. 2018 stieg Deepmind mit Alpha Fold in den Wettbewerb ein und erreichte im Durchschnitt 58 Punkte. 2020 waren es fast 90 Punkte. Der KI von Alpha Fold gelang es, zwei Drittel der vorgelegten Proteine mit der Präzision von Labormessungen zu berechnen."
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Stichwörter: Künstliche Intelligenz

Medien

In Sachsen-Anhalt droht die "Kenia-Koalition" (schwarz, rot, grün) an einem Streit um lächerliche 86 Cent mehr für die Rundfunkgebühren zugrundezugehen. Die Gefahr ist, dass die CDU gemeinsam mit der AfD gegen eine Erhöhung der Gebühren stimmt, die dann auch bundesweit gescheitert wäre. Leonhard Dobusch, ein kritischer Anhänger der Anstalten und Mitglied des ZDF-Fernsehrats, schreibt dazu in einer "paradoxen Intervention" bei Netzpolitik: "Auch wenn die CDU im Landtag von Sachsen-Anhalt letztlich der Erhöhung des Rundfunkbeitrags um 86 Cent auf dann 18,36 Euro zustimmen sollte, steht der Sieger der Debatte jetzt schon fest: die AfD. Alleine, dass wir diese Debatte führen. Dass es diesen Blogeintrag hier gibt. Dass die unzähligen vorgeschobenen Argumente gegen eine Beitragserhöhung Ernst genommen werden. All das kann bereits als Erfolg einer rechtsextremen Agenda verbucht werden. Eine Agenda, deren Anliegen nicht ein Überzeugen im demokratischen Diskurs sondern die Zerstörung ebendieses Diskurses ist."

Markus Kurze, Fraktionsgeschäftsführer der CDU im Landtag von Sachsen-Anhalt, erklärt im Interview mit Helmut Hartung von der FAZ, warum sich die CDU-Fraktion gegen die Gebührenerhöhung so sperrt: "Wir haben bisher immer darauf vertraut, dass die Selbstverpflichtungen der Anstalten umgesetzt werden würden und die Länder den wiederholten Ankündigungen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu reformieren, auch in die Tat umsetzen. Der letzte derartige Beschluss stammt von 2016, und bis heute ist substanziell nichts passiert." Und FAZ-Medienredaktreur Michael Hanfeld vermutet ohnehin, "dass die Erhöhung des Monatsbeitrags von 17,50 Euro auf 18,36 Euro vor allem in den Pensionsrückstellungen der Anstalten verschwindet".
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