9punkt - Die Debattenrundschau

Letzte Warnung der Wissenschaft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.12.2020. Es gibt politische Unterschiede in diesem Land, "um die es kein Herumreden mehr geben kann", schreibt die Schriftstellerin Anne Rabe in der taz: Und dieser Unterschied ist, dass in den Neuen Ländern der Rechtsextremismus - gerade unter Jugendlichen - wesentlich populärer ist. Erbittert wird über Corona gestritten: Die Regierung schränkt unser Freiheit ein, kritisiert Magnus Klaue in der Welt. Aber was wollen die Kritiker eigentlich, fragt Zeit online. Noch ein Streitthema: Der Rundfunkbeitrag wird dank der störrischen CDU in Sachsen-Anhalt nun erst mal nicht erhöht. Sind die Anstalten auch  selber schuld? Und Navid Kermani und andere werden die Bundesregierung morgen dringend auf den Fall Nasrin Sotoudeh hinweisen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.12.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Die Schriftstellerin Anne Rabe weist in der taz auf politische Unterschiede im Land hin, "um die es kein Herumreden mehr geben kann". Mit Schrecken liest sie die Ergebnisse zehnten Leipziger Autoritarismus-Studie (hier online), die zwar in ganz Deutschland ein Absinken der Zustimmung zu Rechtsextremismus beobachtet - allerdings gilt das nur, wenn man die Neuen Länder in den Durchschnitten untergehen lässt. In Ländern wie Sachsen-Anhalt oder Thüringen erfreut sich die AfD ausgerechnet in der Jugend großer Zustimmung, so Rabe, die nach Erklärungen sucht: "Die Nachwendekinder wurden größtenteils von Erwachsenen erzogen, die sich vor 1989 mit dem System arrangiert und dieses gestützt hatten. War es bis 1989 noch Aufgabe der Lehrer, die Kinder zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen, sollten sie nach der Wiedervereinigung die Werte des vormaligen Klassenfeinds unterrichten. In dieser Schizophrenie eine glaubwürdige Stabilität zu vermitteln, war ein Akt der Unmöglichkeit. Dazu kommt das große Schweigen, das Johannes Nichelmann in seinem Buch "Nachwendekinder" beschrieben hat - über die Verbrechen der Diktatur, das bloß anekdotenhafte Erzählen scheinbar unpolitischer Alltagsgeschichten bis hin zur Ostalgie in welcher der Unrechtsstaat nachträglich zum Hort sozialer Wärme und Sicherheit wird."

Klimakrise, Identitätspolitik, Corona, Impfleugner - darüber regen sich derzeit Rechte und Esoteriker auf. Und was macht die Linke? Wendet sich vom Diskurs ab, interessiert sich nicht, kritisiert Andrian Kreye in der SZ. "Die Linke war und ist viel zu beschäftigt, sich um Fragen der Höflichkeit zu kümmern, auf die Identitätsdebatten so oft hinauslaufen, um ihre ursprüngliche Aufgabe wahrzunehmen: den Kampf um eine wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit. So aber sind Impfgegner kein Häuflein Irrer, die man in den Griff kriegen muss, sondern das Symptom einer gesellschaftlichen Krise, das die Rechte kapert. Diese Krise wird man über Debatten allein nicht lösen können. Schon gar nicht, wenn die Debatten nicht mehr der Konsensfindung einer demokratischen Gesellschaft dienen, sondern in Ritualen erstarrt sind, in denen jeder dem anderen nur noch zeigen will, wo der Hammer hängt."

In der Welt schmeißt Magnus Klaue Coronomaßnahmen und Klimamaßnahmen in einen Topf, rührt einmal kräftig und und klagt dann über den Verlust individueller Lebensgestaltung: "Erst wenn beide Gruppen, Junge wie Alte,  erkennen,  dass  diese  Politik,  statt ihr individuelles Leben zu schützen, aus ihnen hypochondrische  Frühvergreiste macht, die im Namen des Weiterlebens die Individuen verraten, die weiterleben sollen, könnte sich an der deprimierenden Lage etwas ändern." Was das im Falle von Corona ändern soll, bleibt unklar, außer, dass sehr viele mehr Menschen sterben werden.

In der SZ stellt Christina Berndt fest, dass die gleichbleibend hohe Zahl der Neuinfektionen zeigt, dass der Lockdown light, der auf die individuelle Vernunft des Bürgers setzt, von viel zu vielen Menschen nicht ernst genommen wird. Sie fordert mit Blick auf die übervollen Geschäfte einen harten Lockdown schon vor Weihnachten: "Wie effektiv harte Maßnahmen sind, hat Irland vorgemacht, wo schon Ende Oktober ein drastischer Lockdown mit gravierenden Kontaktbeschränkungen und Geschäftsschließungen verhängt wurde. Die Zahl der Neuinfektionen sank in sechs Wochen um 75 Prozent - und dabei konnten die Schulen offen bleiben. Dem Beispiel sollte Deutschland folgen."

Auch die Leopoldina plädiert für einen harten Lockdown noch vor Weihnachten. In einer kurzen Stellungnahme heißt es: "Die gegenwärtige Situation ist nach wie vor ernst und droht sich weiter zu verschärfen. Trotz des seit Anfang November in Deutschland geltenden Teil-Lockdowns sind die Infektionszahlen auf einem sehr hohen Niveau. Jeden Tag sterben mehrere Hundert Menschen. Die Krankenhäuser und insbesondere das medizinische Personal sind bereits jetzt an ihren Grenzen und die Gesundheitsämter überlastet. Um die Kontrolle über das Infektionsgeschehen zurückzuerlangen, empfiehlt die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in der Ad-hoc-Stellungnahme 'Coronavirus-Pandemie: Die Feiertage und den Jahreswechsel für einen harten Lockdown nutzen' ein zweistufiges Vorgehen." Ab dem 14. Dezember sollen alle Kontakte auf das absolut notwendige Mindestmaß beschränkt werden. Und vom 24. Dezember bis 10. Januar soll das öffentliche Leben weitgehend ruhen. Alle Einzelheiten im Pdf.  Christian Drosten stimmt zu, meldet Zeit online: "Drosten sagte, das Papier sollte vielleicht verstanden werden als 'deutliche und letzte Warnung der Wissenschaft'. Entscheide sich die Politik anders, habe sie sich nicht mehr für die Wissenschaft entschieden."

In der Zeit fragt Michael Schlieben, was die Kritiker der Bundesregierung eigentlich genau wollen: "Mal wird ein Masterplan gefordert, dann wieder viel mehr individuelle und zielgenaue Maßnahmen. Mal wird empört gesagt, dass man nicht bei jeder Welle das Land dichtmachen könne, dann wird wieder genörgelt, dass die Politik sich viel zu lange Zeit lasse. Stets mit dem Gestus: Es sei doch völlig klar, was zu tun sei. Auch wenn man ein paar Wochen zuvor noch etwas anderes gesagt hat."
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Medien

Die störrische CDU des Landes Sachsen-Anhalt ließ sich nicht dazu überreden, für die Erhöhung des Rundfunkbeitrags um 86 Cent pro Monat (was in der Summe 400 Millionen Euro im Jahr entspricht) zu stimmen. Damit ist die Erhöhung, die die Zustimmung aller Länderparlamente braucht, vorerst gescheitert. Die Sender legen Verfassungsbeschwerde ein, aber das kostet Zeit, und das Geld war bereits budgetiert, schreiben Peter Weißenburger und Erica Zingher in der taz. Es müsste also gespart werden, aber "sparen so, dass der Beitrag tatsächlich merklich sinken könnte, würde bedeuten: Weniger öffentlich-rechtliche Hörfunksender, es gibt in Deutschland über siebzig. Oder: raus aus dem Sportgeschäft. Die Sport-Übertragungsrechte allein kosten über eine Milliarde pro Beitragsperiode. Solche Einschnitte sind weitaus unbeliebter als der abstrakte Verweis auf den 'aufgeblasenen' Rundfunk. Am Sport und an der Lokalwelle hängen Hörer*innen dann doch. Das politische Dilemma: Ein Schrumpfen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wäre mit vielen Widerständen verbunden. Zustimmung für Pauschalkritik am Rundfunk und am Beitrag gibt's dagegen beinahe umsonst."

Mit ganz anderen Akzenten kommentiert Ulf Poschardt in der Welt den sachsen-anhaltinischen Supergau für die Anstalten: "Das Framing, die CDU mache gemeinsame Sache mit der AfD, wurde auf eine zum Teil grenzwertige Art auch von den öffentlich-rechtlichen Medien bedient. Wie wenig sich der gebührenfinanzierte Rundfunk in eigener Sache zurückgehalten hat, verdeutlicht, wie dringend er über die Kostenstruktur hinaus reformbedürftig ist." In Spiegel online spricht auch Markus Brauck die Fehler von ARD und ZDF im Vorfeld des sachsen-anhaltinischen Desasters an.
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Europa

Der Brexit-Frosch ist nun tatsächlich gekocht (ist das eine englische Redensart?), konstatiert George Osborne in einem viel retweeteten Kommentar für den Evening Standard. Egal, ob nun noch ein Minimal-Deal zustande kommt: "Wir stehen nun vor einem Bruch mit unseren engsten Nachbarn, den nur eine kleine Minderheit der kleinen Mehrheit gewollt hätte, die 2016 für den Brexit stimmte."
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Stichwörter: Brexit, Frösche

Urheberrecht

Friedhelm Greis versucht bei golem.de das Durcheinander bei der Umsetzung des EU-Urheberrechts in deutsches Recht zu bewältigen. Dort sind Bagatellgrenzen für Zitate vorgesehen (tausend Zeichen bei Text), doch auch nur unter bestimmten Bedingungen. Die Zeitungsverleger sind wütend, aber auch sonst ist niemand zufrieden, so Greis. Was bleibt, ist eine Regierung in der Klemme, erzeugt von einer Reform, die sie selbst maßgeblich auf Druck der Rechte-Industrien angetrieben hat: "Die teils unklaren Formulierungen müssen an nationales Recht angepasst werden. Darüber hinaus fordert die Richtlinie ausdrücklich Ausnahmen für Zitate, Kritik, Rezensionen, Karikaturen, Parodien oder Pastiches. Sollte die Bundesregierung darauf verzichten, wäre die Umsetzung offensichtlich europarechtswidrig." In der Welt bekräftigt Christian Meier noch einmal den Standpunkt des Springer Verlags zum Thema.
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Kulturpolitik

Monika Grütters fordert eine weitere Milliarde Euro, um die Corona-geschädigte Kulturszene zu unterstützen, meldet der Buchreport mit dpa. Das bisherige Programm sei weit überzeichnet, so die Ministerin: "Wir brauchen vermutlich mindestens doppelt so viel Geld, zumal die eine Milliarde Euro eine Antwort auf die ersten Schließungen im Frühjahr war, bei der wir den zweiten, deutlich längeren Lockdown noch gar nicht eingepreist hatten."

Außerdem: In der FAZ geht Patrick Bahners der Frage nach, ob sich der amerikanische Supreme Court im Streit um den als Raubkunst strittigen "Welfenschatz" als zuständig erklären könnte und welches die Weiterungen einer solchen Entscheidungen wären.
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Ideen

In deutschen Blättern hat die Meldung vom Tod Antonin Liehms (unsere Resümees) kaum ein Echo ausgelöst. Carl Henrik Fredriksson macht in Eurozine nochmal auf die Bedeutung dieses tschechischen Intellektuellen aufmerksam, der nach dem Prager Frühling nach Paris emigrierte und die Lettre Internationale gründete, eine Zeitschrift und ein Netzwerk von Zeitschriften, das zumindest die intellektuelle Öffentlichkeit zur Zeit des Mauerfalls europäisierte. Dies Projekt "brachte den gespaltenen, vom Kalten Krieg geprägten Kontinent zusammen und schuf ein europäisches Forum für die Debatte". Allerdings spricht Fredriksson auch die Probleme an, die jeder bekommt, dem es um die europäische Öffentlichkeit zu tun ist: "Es war so hart, das Projekt am Leben zu erhalten wie es schwierig gewesen war, das Geld für den Start aufzutreiben. 1993 erklärte Liehm in einer Rede vor europäischen Bürokraten und Kommisionsleuten, dass er es satt hatte, Leuten hinterherzurennen, die dieses transnationale Projekt hätten finanzieren können, aber nicht verstanden, warum sie das tun sollten. Er war knapp siebzig, als er die Einstellung der Lettre verkündete. " Nur der deutsche Ableger hat überlebt. Ein Interview mit dem deutschen Herausgeber Frank Berberich findet sich hier.
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Politik

Zum morgigen Tag der Menschenrechte treten vier prominente Deutsch-Iraner/innen, nämlich Maryam Zaree, Parastou Foruhar, Navid Kermani und Bahman Nirumand vor die Bundespressekonferenz, um noch einmal deutlich auf die Lage der Feministin Nasrin Sotoudeh hinzuweisen, die wegen ihres Einsatzes für Frauenrechte in Teheran inhaftiert ist, teilt das Büro Kermani in einer Pressemitteilung per Mail mit: "Mit Blick auf eine mögliche Wiederannäherung an den Iran nach dem Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten setzen sie sich dafür ein, dass bei künftigen Verhandlungen die katastrophale, gerade jetzt sich verschärfende Lage der Menschenrechte nicht ignoriert wird. Sie fordern Deutschland beziehungsweise die Europäische Union dazu auf, sich dafür einzusetzen, dass die Einhaltung der Menschenrechte in Iran als Bestandteil in das zu verhandelnde neue Abkommens aufgenommen wird." Weitere Informationen bitten die AutorInnen im Büro des Bundestagsabgeordneten Omid Nouripour erfragen.
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