9punkt - Die Debattenrundschau

Eine gewisse Infrastruktur

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.05.2021. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko hat ein Flugzeug, das zwischen zwei EU-Ländern unterwegs war, zur Landung gezwungen, um den oppositionellen Blogger Roman Protassewitsch festzunhemen: Das hätte er nicht ohne die Unterstützung Russlands tun können, sind sich Timothy Snyder, Anne Applebaum und viele Medien einig. Für den Guardian-Journalisten Chris McGreal ist es eine ausgemachte Sache, dass Israel ein Apartheid-Regime ist. Hans-Georg Maaßen könnte für das Zustandekommen einer schwarz-grünen Koalition noch zu einem erheblichen Problem werden, prophezeit Patrick Bahners in der FAZ nach Lektüre einiger Schriften Maaßens in abgelegenen Quellen. Und der Streit übers Gendern geht weiter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.05.2021 finden Sie hier

Europa

Das Lukaschenko-Regime hat ein Flugzeug auf dem Weg von Athen nach Litauen mit einem Kampfjet zur Landung in Minsk gezwungen, um den an Bord befindlichen regimekritischen Blogger Roman Protassewitsch festzunehmen. Auch seine Freungin Sofia Sapega wurde in Gewahrsam genommen. Protassewitsch wurde inzwischen gezwungen in einem Video (mehr in der FAZ) seine Kooperationswilligkeit zu bekennen. Es ist nicht denkbar, dass Belarus eine solche Geheimdienstoperation ohne das Plazet und die Unterstützung Russlands durchführt, schreibt der Historiker Timothy Snyder in seinem Blog: "Wenn die EU vorhersehbar Weißrussland für diese Infamie sanktioniert, dann wird Minsk keine andere Wahl haben, als sich noch weiter auf Moskau zuzubewegen.  Die einzige Möglichkeit, diese Logik zu durchbrechen, besteht darin, zu prüfen, ob Russland mitverantwortlich ist, und wenn ja, Russland zu bestrafen." Der an diesem Wochenende tagende EU-Gipfel, der übrigens unter anderem just das Verhältnis der EU zu Russland zum Thema hatte, hat inzwischen Sanktionen gegen Belarus beschlossen, meldet etwa die Zeit. Unter anderem wird der EU-Luftraum für belarussische Fluglinien gesperrt.

Auch Bernhard Clasen kommentiert in der taz: "Kaum vorstellbar, dass Belarus eine derartige Flugzeugentführung alleine bewerkstelligt hat. Nur wenige wussten von Roman Protassewitschs Griechenland-Aufenthalt. Für derartige Aktionen brauchen Geheimdienste eine gewisse Infrastruktur. Belarus, das in Athen nicht einmal mit einem Botschafter vertreten ist, wird kaum über die dazu notwendige Infrastruktur verfügen." Die Minsker Journalistin Olga Deksnis resümiert in der taz, wie die Belarussen im Internet über die Entführung Protassewitschs diskutieren.

Dass Lukaschenko überhaupt so eine Tat wagt, "bedeutet, dass er einen totalen Bruch mit Europa einkalkuliert und dass er sich hundertprozentig der russischen Unterstützung sicher ist, wenn er eintritt", schreibt Anne Applebaum im Atlantic.

Was Belarus tat, ist nicht beispiellos, gibt Glenn Greenwald in seinem Substack-Blog zu bedenken: "Während die Wut auf Weißrussland wächst, erinnern Sie sich an die 2013 erzwungene Landung des bolivianischen Flugzeugs, um Snowden zu finden."

Der ehemalige Verfassungsschutzchef und CDU-Politiker Hans-Georg Maaßen, der in Thüringen für den Bundestag kandidiert, könnte für das Zustandekommen einer schwarz-grünen Koalition noch zu einem erheblichen Problem werden. Patrick Bahners hat sich für die FAZ die Mühe gemacht, Maaßens politische Essays in randständigen Medien zu lesen - seine Positionern sind von denen der rechtsextremen AfD kaum zu unterscheiden. Und als gefährlichste Partei im politischen Spektrum bezeichnet er auch nicht die AfD, sondern die Grünen: "Das ist nicht aus der Binnenperspektive der demokratischen Konkurrenz gesagt, wie wenn Markus Söder die Grünen den Hauptgegner der Unionsparteien nennt, was zugleich zu verstehen gibt, dass man von ihnen lernen soll. Maaßen spricht als früherer Verfassungsschutzpräsident, in seiner Sicht stellen die Grünen eine unmittelbare Gefahr für den Bestand des Staates dar, des Nationalstaates, den die 'Globalisten' ausgehöhlt haben und nun abräumen wollen."
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Ideen

Die säkulare Grüne Hannah Wettig erzählt bei hpd.de, was ihr passierte, als sie auf einem Parteitag der Grünen in Berlin vorschlug, den Begriff der "Nicht-Religiösen" in Programmpapieren durch "Religionsfreie" zu ersetzen. Eine Sprecherin der Grünen beschied sie: "Religion und Glauben (oder Nicht-Glauben) gehören zum unverfügbaren Kern unserer Identität wie Haar- und Hautfarbe, wie Geschlecht und sexuelle Identität." Wettig kann es nicht fassen: "Religion soll also unverfügbarer Kern unserer Identität wie Hautfarbe sein. Religion ist also so etwas wie das, was man früher 'Rasse' genannt hat. Susanna Kahlefeld essenzialisiert Identitäten. Sie stellt Religion in eine Reihe von Zuschreibungen, die als naturgegeben gelten, die unveränderlich sind. Das ist dieselbe Logik, die Deutschsein als Kern unserer Identität behauptet - wie es die Identitären tun, eine rechte, völkische Bewegung, die in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien aktiv ist. Diese Überhöhung der Religion als unangreifbare Identität ist nicht Bestandteil der verschiedenen Theorien, auf denen die Identitätspolitik fußt. Aber diese Theorien sind dafür offen. Und Muslime, insbesondere Islamistinnen wie auch Christinnen nutzen das, um Kritik abzuwehren."
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Gesellschaft

In einem sehr persönlichen Text für die FAZ erzählt der Psychologe Ahmad Mansour, der häufig mit Schulklassen arbeitet, wie schwierig es ist, mit Schülern etwa über den Mord an Samuel Paty und über Meinungsfreiheit zu diskutieren: "Solche Diskussionen bewegen sich immer auf einem schmalen Grat. Wir müssen moderieren zwischen Empathie, zorniger Entrüstung und Aufklärung, ohne dabei das Vertrauensverhältnis durch Überforderung aufzulösen. Die Gefühle der Jugendlichen sind real, sie geben Werte und Einstellungen ihres Umfelds wieder, oft ohne Distanz oder Abstraktionsvermögen, Ambiguitätstoleranz, Elastizität im Umgang mit Ambivalenzen. Über Nacht kann sich das nicht ändern."

In der Welt ist Caroline Turzer empört, dass der rotrotgrüne Senat an den Berliner Schulen bis zu den Sommerferien nur Wechselunterricht zulassen will. Aber auch bundesweit zeige Deutschland in der Pandemie, dass ihnen die jungen Leute egal sind: "Wäre es anders, stünden die Luftfilter nicht in Betrieben und Parlamenten, sondern flächendeckend in den Schulen. Dann gäbe es nicht nur eine Impfgarantie für Erwachsene, sondern eine Bildungsgarantie: das Versprechen, dass die Schulen erst durch eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung sicher gemacht, dann für alle geöffnet - und in Zukunft nie wieder geschlossen werden. Weil wir Erwachsene alles dafür tun, dass Bildung und Gesundheit kein Widerspruch sind, sondern Hand in Hand gehen. Genau das passiert aber nicht."

In der NZZ spricht sich die Publizistin Judith Sevinç Basad strikt gegen das Gendern aus. Soziale Wirklichkeit verändert man nicht, indem man die Sprache manipuliert, meint sie: "Wenn diese Kausalität wahr wäre, müsste in Ländern mit genuslosen Sprachen wie der Türkei und Ungarn bereits ein queeres Matriarchat herrschen. Das ist nicht der Fall. Fakt dagegen ist: In den letzten 70 Jahren haben sich Frauen und Queers in den westlichen Ländern in rasantem Tempo aus den Fesseln des Patriarchats befreit. Sie haben sich das Recht auf finanzielle Unabhängigkeit erkämpft, sich aus der juristischen Knechtschaft der Ehe befreit, ihr Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper durchgesetzt und den Paragrafen 175 abgeschafft. Im Jahr 2020 sind die drei mächtigsten Personen in Europa - Angela Merkel, Ursula von der Leyen und Christine Lagarde - Frauen. Und die schwedische Regierung nennt sich die 'erste feministische Regierung der Welt'."

Ähnlich sieht das auch Hamburgs CDU-Chef Christoph Ploß, der sich im Interview mit dem Spiegel für ein Verbot der Gendersprache bei staatlichen Stellen ausgesprochen hat, meldet der Tagesspiegel.

Anders sieht es Daniel Deckers in der FAZ: "Mag die Linguistik noch so sehr darauf beharren, dass ein generisches Maskulinum nicht auf das biologische Geschlecht der damit bezeichneten Personen abstellt, so hat Sprache doch auch eine repräsentative Funktion. Frauen können sich in einem generischen Maskulinum ('Bürger') mitgemeint fühlen. Warum sie es sollen, ist aber keine Frage der Grammatik, sondern von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. Die Dominanz der männlichen Form lässt sich ja auch so lesen, dass sie einen Status konserviert, in der eine Frau eine Person minderen Rechts war und deren Sichtbarkeit gering."

Der jüngste Schlagabtausch zwischen Hamas und Israel hat auch in den USA einen erschreckenden Antisemitismus ans Licht gebracht, schreibt Bret Stephens in der New York Times und zählt eine ganze Reihe von Anschläge gegen Juden in den USA auf. Ihn erinnern die dabei gebrüllten Parolen immer wieder an Zeiten, als Juden generell Gier und Blutdurst vorgeworfen wurde. "Wie ein Echo alter Verleumdungen erscheint auch die Vorstellung, dass elf Tage Kampf zwischen Israel und der Hamas irgendwie einen einzigartigen globalen Horror darstellen, während die Welt kaum Notiz von dem mörderischen Anschlag der Taliban nahm, die in diesem Monat 85 Menschen in einer Schule in Kabul töteten. Die antisemitische Weltsicht ist immer judäozentrisch, sie ist besessen von der Vorstellung, jüdisches Verhalten sei der wichtigste Faktor im nationalen und internationalen politischen Leben. Die Linke war in letzter Zeit furchtbar judeozentrisch. Das sollte den Progressiven, die behaupten, über jede Form von Vorurteil entsetzt zu sein, laut in den Ohren klingen. Stattdessen haben sie einer Anti-Israel-Bewegung gefrönt, die immer wieder in die gröbsten Formen des Antisemitismus abgleitet. Sie erinnern mich an eine bestimmte Art von Trump-Wählern, die gelegentlich Abscheu über sein empörendstes Verhalten äußern, nur um sich ein paar Tage später wieder auf seine Seite zu schlagen. Nach einer Weile wird klar, dass die Empörung billig ist, wenn nicht sogar einfach unwahr."
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Politik

Dass Israel ein Apartheid-Regime ist, das mit den selben Mitteln bekämpft werden sollte wie einst die rassistische Regierung Südafrikas, ist für den Guardian-Journalisten Chris McGreal eine ausgemachte Sache. Immer breiter wird die Unterstützung dieser These, auch durch renommierte Organisationen, freut er sich: "Signifikante Veränderungen in der Haltung gegenüber Israel, besonders in den USA und innerhalb der jüdischen Diaspora, haben den Aktivisten ihre bisher besten Aussichten für den Aufbau eines Boykotts eröffnet, und sie schauen auf die Anti-Apartheid-Bewegung als Vorbild. Eine der wichtigsten Veränderungen ist, dass das Tabu der Vergleiche mit dem rassistischen System Südafrikas gefallen ist. 'B'Tselem', eine führende Menschenrechtsgruppe in Israel, veröffentlichte im Januar einen Bericht mit dem Titel: 'Ein Regime der jüdischen Vorherrschaft vom Jordan bis zum Mittelmeer: Das ist Apartheid'. 'Human Rights Watch' in den USA folgte im April und beschuldigte Israel, 'Verbrechen der Apartheid' zu begehen." McGreal bezieht sich auch auf die in Deutschland maßgeblich von Aleida Assmann und anderen Schwergewichten gepushte "Jerusalem Declaration", die den Apartheid-Vorwurf vom Antisemitismusverdacht befreien soll. Es gebe zwar "lange und schreckliche Geschichte des Boykotts von Juden", aber sie reiche nicht mehr aus, um "Sanktionen abzulehnen, weil sie zu sehr an die dreißiger Jahre erinnern".

Der Münchner Kabarettist Christian Springer spricht mit Timo Frasch von der FAZ über Antisemitismus, auch von muslimischer, beziehungsweise arabischer Seite und erinnert daran, dass bedeutende arabische Repräsentanten im Krieg eng mit den Nazis kooperierten: "Wenn man also als Palästinenser sagt, wir können nicht eure Geschichte ausbaden, dann muss man sagen: Ihr wart ja mit dabei. Der Mufti von Jerusalem ist in Berlin am Tisch mit Hitler gesessen und hatte den gleichen Plan: Juden töten."
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