9punkt - Die Debattenrundschau

Auf dem Promilleweg

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.06.2021. Sowohl die britische Linke als auch die Rechte leben von Nostalgie - Zeichen eines Niedergangs, schreibt Nick Cohen im Observer. Die taz bringt ein Dossier zur dringend notwendigen Verkehrswende. Eine Autorin aber erinnert daran, dass das Auto auch Freiheit bedeutete. Warum ist das heutige Bürgertum so mit sich zufrieden, fragt Thomas Ribi in der NZZ. hpd.de erzählt, wie die Kirchen in Bayern den konfessionsgebundenen Religionsunterricht zementieren. Zeit online kommentiert die antriebslosen Regionalwahlen in Frankreich.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.06.2021 finden Sie hier

Europa

Im Observer blickt Nick Cohen immer verständnisloser auf die Nostalgie, von der England beherrscht wird. "Die britische Linke ist ebenso wie die Rechte von der Existenz eines verlorenen goldenen Zeitalters überzeugt. Im Fall der Linken war es das Nachkriegs-Britannien, bevor der Thatcherismus die authentische Labour-Welt der Dörfer, der Gemeinschaft, der Ehrlichkeit, der Co-op-Läden und der Blaskapellen zerstörte. So wie die Rechte eine liberale, pro-europäische Elite sieht, die ihre 'abscheuliche Kraft', in den Worten von Daniel Hannan, dazu benutzt, das traditionelle England zu sabotieren, so sieht die Linke eine neoliberale Verschwörung, die Solidarität, Altruismus und Gemeinschaftsleben zerstört. Die einen haben die Henley Regatta, die anderen die Durham Miners' Gala. Beide verfallen in eine panische und paranoide Mentalität, die glaubt, dass eine feindliche Kabale alles auslöscht, was es wert ist zu haben. Selbstbewusste Länder sind nicht nostalgisch. Ein selbstbewusstes Großbritannien würde anerkennen, dass es die Pflicht hat, sich dem Erbe der Sklaverei und des Kolonialismus zu stellen, so wie das moderne Deutschland anerkennt, dass es sich seiner Geschichte des Nationalsozialismus und des Kommunismus stellen muss. Es würde davon ausgehen, dass die Gegenwart der Vergangenheit überlegen ist und dass wir trotz all unserer Fehler fortgeschritten genug sind, um unsere Fehler zuzugeben."

Bei den Regionalwahlen in Frankreich konnte der rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen keine Region gewinnen. Grund zur Erleichterung ist das nicht, meint  Annika Joeres auf Zeit online: Die Wahlbeteiligung blieb bei rund 34 Prozent. "'Die Lager fleddern in Frankreich zu allen Seiten aus', sagt die Politologin Anne Jadot. Es gebe keine klaren Programme mehr und ständig neue Koalitionen. Damit fiele für viele Menschen der Antrieb weg, wählen zu gehen. Tatsächlich gingen die Parteien je nach Region unterschiedliche Allianzen ein. Im Süden hat der konservative Kandidat Muselier mit den Macronisten kooperiert - gegen den Willen der Parteizentrale. In einigen Regionen fanden die Linken mit den Grünen zusammen, in anderen zerstritten sie sich - die französische Parteienlandschaft ist zurzeit wie auf Sanddünen gebaut, immer bereit, in die eine oder andere Richtung zu wandern."

Alina Simmelbauer war zwei Jahre alt, als ihr Vater, damals Vertragsarbeiter in der DDR, nach Kuba zurückkehren musste. Selbst die Briefe, die man sich schrieb, wurden abgefangen. In der DDR herrschte darüber, wie Simmelbauer im Interview mit Zeit online erzählt, "ein großes Schweigen. Mir wurde zwar nichts verheimlicht, aber ich wurde in meiner Kindheit und Jugend dazu angehalten, nicht öffentlich darüber zu sprechen, dass ich das Kind eines Vertragsarbeiters bin. Meine Herkunft hat so auch ein Gefühl von Scham bei mir ausgelöst, und dieses laute Schweigen ließ mich glauben, ich sei kein gleichwertiger Teil unserer Gesellschaft. Das System hat es einem wirklich nicht leicht gemacht, Zugang zu den eigenen Wurzeln zu finden und zu diesen auch zu stehen.
Archiv: Europa

Religion

In Bayern soll ein "Islamkundeunterricht" stattfinden, der nicht von den Islamverbänden beeinflusst wird. Ernst-Günter Krause von den säkularen Grünen klagt gegen das Gesetz und spricht sich im hpd-Interview mit Walter Otte für einen Ethikuntericht aus, der in Bayern bereits allen Schülern geboten wird, die Religion nicht belegen. Der Druck zum Islamunterricht wird von den christlichen Kirchen aufgebaut, die um den konfessionsgebundenen Religionsunterricht fürchten, so Krause: "Wenn den muslimischen Schüler*innen ein islamischer Unterricht angeboten wird, nimmt die Zahl der Schüler*innen, die am Ethikunterricht teilnehmen, um die Zahl der muslimischen Schüler*innen ab, die zum islamischen Unterricht wechseln. Diese Entwicklung würde den Religionsunterricht auf unbestimmte Zeit zementieren. Die Kirchen verfolgen also keine hehren Ziele, sondern schamlose Interessenpolitik."
Archiv: Religion

Politik

Nach dem Treffen zwischen Joe Biden und Wladimir Putin sprachen entzückte deutsche Politiker von "Entspannung". Richard Herzinger will in seinem Blog nicht an diese Vokabel glauben: "Die Entspannungspolitik der 1970er und 1980er Jahre (mit ihren Anfängen in den 1960ern) wurde erst möglich, nachdem der Westen durch eine konsequente Abschreckung den Expansionsdrang des sowjetischen Totalitarismus erfolgreich gestoppt hatte. Erst diese in einmütiger Geschlossenheit der westlichen Demokratien erzielte Eindämmung zwang den Kreml zu ernsthaften Verhandlungen über einen vertraglich abgesicherten Modus vivendi zwischen den gegnerischen Blöcken im Kalten Krieg."

In der NZZ warnt Brahma Chellaney, Professor für strategische Studien in Neu Delhi, vor den menschlichen, ökologischen und politischen Folgen der neuen Staudämme in China: So sei das Land mit seinen elf Staudämmen allein entlang des Mekong schon jetzt in der Lage, Südostasien das Wasser abzudrehen, so Chellaney. Und jetzt gehe es auch gegen Indien: "Die KPC plant nun am Yarlung-Zangbo-Fluss - besser als Brahmaputra bekannt - in der Nähe der stark militarisierten Grenze zu Indien den Bau des weltweit ersten Superdamms. ... Dass die Schlucht eine der artenreichsten Regionen der Welt ist, scheint die KPC wenig zu kümmern. Sie ist viel mehr daran interessiert, Wasser als Waffe gegen ihren asiatischen Rivalen Indien zu verwenden."
Archiv: Politik

Wissenschaft

In der SZ fragt sich Nicolas Freund, was er von den Ufos halten soll, die angeblich überall gesichtet wurden. "Fakt ist: Die amerikanische Armee und der nüchterne Barack Obama haben die Existenz von Ufos offiziell bestätigt. Radarsysteme, Kameras und gut ausgebildete Navy-Piloten berichten seit Jahren von Sichtungen unbekannter Flugobjekte oder UAP, Unidentified Aerial Phenomena (etwa: unbekannte Luftraumphänomene), wie die Dinger inzwischen genannt werden, weil das Wort Ufo leider zu sehr von den Spinnern vereinnahmt worden ist. Irgendwas ist da oben. ... Nur: Wer sagt eigentlich, dass irgendein Zusammenhang besteht zwischen verwackelten Infrarotvideos und außerirdischem Leben, für das es - wir erinnern uns - nach wie vor keinerlei Beweise gibt?"
Archiv: Wissenschaft
Stichwörter: Ufos, Obama, Barack

Gesellschaft

Die taz bringt mehrere Artikel zur dringend notwendigen Verkehrswende. Immerhin darf eine Autorin, Tania Kibermanis, daran erinnern, dass das Auto für manche ein Vehikel der Selbstbefreiung ist: "Ich bin auf dem Land aufgewachsen, wo der letzte Bus nachmittags um vier fuhr. Die Frage, ob man den Führerschein machte, stellte sich nicht - Auto fahren war fürs soziale Überleben unabdingbar, wenn man nicht bei den rotgesichtigen, NPD-wählenden Kirmesburschen im hessischen Outback festhängen wollte. Um die zahlende Familie nicht mit allzu vielen Fahrstunden finanziell zu ruinieren, wurde mit einem nervös mitbremsenden Elternteil auf dem Beifahrersitz auf dem Promilleweg geübt - das ist der Feldweg parallel zur Bundesstraße, auf dem die Besoffenen nachts nach Hause fahren."

Vor etwa fünf Jahren wurde die "Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs" gegründet. Sie beschäftigt sich mit sexuellem Missbrauch in Institutionen wie der Katholischen Kirche, aber auch in Familien. In der FAZ bilanzieren die Mitglieder ihre Arbeit - und thematisieren nebenbei, dass ihre Bedingungen nicht ideal sind: "Anders als etwa in Australien, England oder Irland war in Deutschland die Bundesregierung nicht bereit, der Kommission ein starkes Mandat zu geben. Die Kommission hat kein Akteneinsichtsrecht, sie kann keine Zeugen vorladen und hat begrenzte finanzielle Spielräume für wissenschaftliche Studien. Somit waren die Beteiligten mit der Entscheidung konfrontiert, ob sie fürs Erste diesen 'Spatz in der Hand' nehmen oder 'die Taube auf dem Dach' einfordern sollten."

Das linke Bürgertum mit seinem Weltverbesserungsanspruch hat mit dem untergegangenen Bürgertum, das Thomas Mann noch kannte, nichts zu tun, meint Thomas Ribi in der NZZ. Was ihm völlig abgeht, ist "die Skepsis gegenüber der eigenen Lebensform. Das Unbehagen an den Widersprüchen, denen auch ein in aufrichtiger Verantwortung gelebtes Leben nicht entgeht. Das Bürgertum, dem Thomas Mann in den 'Buddenbrooks' ein überragendes Monument gesetzt hat, ist nicht denkbar ohne sein tiefsitzendes Ungenügen darüber, an den eigenen Idealen nur scheitern zu können."
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

Karl Pfeifer erinnert in der Jüdischen Allgemeinen an ein stalinistisches Verbrechen in Ungarn: Vor siebzig Jahren wurden angebliche Angehörige ehemaliger Eliten von Budapest aufs Land ausgesiedelt, um knappen Wohnraum freizumachen. Zu den Eliten zählte man offenbar auch die überlebenden Juden. "Die ausgesiedelten Juden wiesen darauf hin, dass sie wenige Jahre zuvor schon einmal deportiert worden waren. Manche steckten sich einen gelben Stern an. Die Schoa-Überlebenden waren schockiert. Denn sie hatten erlebt, wie nach der deutschen Besatzung das noch existierende Horthy-Regime die Juden der Provinz nach Auschwitz-Birkenau deportierte und wie nach der Machtergreifung der Pfeilkreuzler Juden massakriert wurden. Sie waren so dankbar gewesen für die Befreiung durch die Rote Armee - und waren jetzt doch wieder gefährdet."
Archiv: Geschichte

Kulturpolitik

Ob die Stiftung Preußischer Kulturbesitz wirklich reformierbar ist? Christiane Peitz bezweifelt es im Tagesspiegel: "Die nun präsentierten Vorschläge der eigens eingerichteten Reformkommission klingen kaum mehr nach Aufbruch. Keine Auflösung des Präsidiums, ein 'Kollegialorgan' anstelle der Hauptverwaltung, Verzicht auf die Generaldirektion zugunsten eigenständigerer Museen - und bitte mehr Zusammenarbeit. Kulturstaatsministerin Monika Grütters ist hochzufrieden, sie spricht von einem 'beinahe revolutionären Akt'. Das verstehe, wer will. Als ob es noch eines Beweises für die Schwerfälligkeit des SPK-Tankers bedurft hätte, wird er nun neu geliefert. Eine Hierarchie-Ebene weniger, eine etwas umstrukturierte Verwaltung, viele neue Prüfaufträge - und ansonsten Appelle? Können so bald attraktive, international ausstrahlende Ausstellungen gelingen, und mehr Publikumsnähe, samt Digitalisierung und modernem Marketing?"
Archiv: Kulturpolitik