9punkt - Die Debattenrundschau

Die sabbatische Dimension

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.08.2022. "Die russische Elite hat sich für den totalitären Nationalismus entschieden, weil ihr Wirtschaftsmodell dem Untergang geweiht ist", schreibt der britische Journalist Paul Mason in der FR. Die taz wirft Masih Alinejad vor, ein weißer Mann zu sein. Die "Transformationsforscherin" Maja Göpel, Autorin des Bestsellers "Unsere Welt neu denken", ist nur teilweise Autorin dieses Bestsellers, stellt die Zeit fest. Das Van Magazin berichtet über das segensreiche Wirken des SPD-Kulturpolitikers Johannes Kahrs. Und die FAZ thematisiert die parteinahen Stiftungen, die ein Segen für die Demokratie sind, aber nicht für alle Parteien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.08.2022 finden Sie hier

Europa

"Die russische Elite hat sich für den totalitären Nationalismus entschieden, weil ihr Wirtschaftsmodell dem Untergang geweiht ist", schreibt der britische Journalist Paul Mason in der FR: "Der oligarchische russische Staat ist vollständig auf die Ausbeutung von Öl und Gas ausgerichtet. Es ist ein Renten-Kapitalismus - ein Kapitalismus der Monopolisierung des Zugangs zu jeder Art von Eigentum und der Erzielung erheblicher Gewinnbeträge daraus: Reichtum, der sich auf den Besitz von Bohrlöchern und Pipelines stützt, nicht auf den Einfallsreichtum von Wissenschaftlern und Unternehmern. Als die Welt beschloss, bis 2050 netto kohlenstofffrei zu werden, signalisierte sie damit auch, dass dieser oligarchische Kapitalismus, der ein Sechstel der Erdoberfläche beherrscht, keine Zukunft hat. Putins Antwort war der Wechsel vom Autoritarismus zum reinen Totalitarismus. Von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist in Russland nichts mehr übrig."

Viele europäische Staats- und Regierungschefs haben sich von Russland "ködern" lassen und müssen sich jetzt der Tatsache stellen, dass in Russland die Dämonen des 19. und 20. Jahrhunderts wiederbelebt wurden: Nationalismus, Kolonialismus und Totalitarismus", klagt der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in der Welt: "Die Tatsache, dass die polnische Stimme stetig ignoriert wird, ist nur ein Beispiel für das umfassendere Problem, mit dem die EU heute zu kämpfen hat: Die Gleichberechtigung der einzelnen Länder ist lediglich deklaratorischer Natur. Die politische Praxis hat gezeigt, dass die Positionen Deutschlands und Frankreichs mehr zählen als alle anderen. Wir haben es also mit einer formalen Demokratie und einer faktischen Oligarchie zu tun, in der der Stärkste die Macht innehat. … Das Sicherheitsventil, das die EU vor der Tyrannei der Mehrheit schützt, ist das Prinzip der Einstimmigkeit."

Seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs tut Russland alles dafür, um die Regeln des Völkerrechts zu unterlaufen, schreibt Wolfgang Janisch in der SZ. Das war mal anders: "Wer in die Geschichte des 19. Jahrhunderts blickt, macht eine interessante Entdeckung. Es war Zar Alexander II., der 1868 die europäischen Mächte dazu brachte, die Erklärung von St. Petersburg zu unterzeichnen. Das war einer der ersten Meilensteine des 'Ius in bello', des Rechtes im Krieg: Die Verwendung bestimmter explosiver Projektile wurde untersagt, um die technologiegetriebene Brutalisierung des Krieges zu bremsen. Und Russland war eine treibende Kraft hinter der Haager Konferenz von 1899, die dieses 'Ius in bello' erstmals kodifizierte. Das waren Jahrzehnte der Hoffnung."

Marlene Grunert thematisiert in der FAZ den bizarren Eiertanz der Bundestagsparteien um ihre mit üppigen Geldern ausgestatteten, aber gesetzlich nur prekär verankerten, "parteinahen Stiftungen". Es gibt Bestrebungen, nun ein Gesetz zu erlassen, das ausschließlich der AfD wegen ihres Rechtsextremismus nicht erlauben soll, an dem Segen teilzuhaben - es geht um Abermillionen von Euro, viel mehr als aus der Parteienfinanzierung, die die AfD natürlich noch wesentlich solider in die Landschaft stellen würden. Aber wie sollte so ein Gesetz aussehen? Die Unionsfraktion sei sich unsicher, ob  sie "ein Gesetz für nötig erachtet. Auch die Ampelfraktionen sind sich uneins. Grund für den Unmut liefert die SPD, die darauf verwiesen hat, dass ein Gesetz nur eine unter mehreren Möglichkeiten sei. Infrage kämen auch ein einfacher Beschluss im Haushaltsgesetz oder eine Verwaltungsvorschrift. In der Koalition macht der Verdacht die Runde, die Sozialdemokraten befürchteten mit Blick auf die ihnen nahestehende Friedrich-Ebert-Stiftung, durch eine gesetzliche Regelung finanzielle Nachteile zu erleiden."
Archiv: Europa

Politik

Wer sich für die Befreiung der Frauen in der islamischen Welt vom Kopftuch einsetzt, muss "rechts" sein, fürchtet die Beirut-Korrespondentin der taz Julia Neumann mit Blick auf Masih Alinejad, der Neumann den folgenden erstaunlichen Vorwurf macht: "Die Idee, dass weiße Männer Frauen of Color vor Männern of Color schützen können, stammt aus der Kolonialzeit." Die heute im amerikanischen Exil lebende Alinejad wurde dadurch bekannt, dass sie iranische Frauen bestärkt, ihr Kopftuch abzulegen. Neumann warnt vor einer Dokumentation über Alinejad, die heute in der ARD läuft: "Frauen im Iran können nicht genießen, wie ihnen der Wind durch die Haare weht! Frauen im Iran dürfen nicht tanzen! Klar, dass auch konservative, rechte Medien auf den Diskurs aufspringen. Schaut, wie die Mullahs ihre Frauen unterdrücken! Dabei lassen sie gerne unerwähnt, dass auch Männer einem Kleidungszwang im Iran unterlegen sind: Auch sie sollen ihre Knie und Schultern verdecken. In den USA tanzt Alinejad mit offenen Haaren zur Musik einer Jazzband auf der Straße - fruchtbarer Boden für ihre Narrative."

Der New York Times-Kolumnist Thomas Friedman hatte vor Nancy Pelosis Besuch in Taiwan gewarnt (unser Resümee), und tatsächlich hat Xi Jinping mit Säbelrassen auf den Besuch reagiert. Aber Pelosis Besuch war trotzdem richtig, findet der Autor Stephan Thome, der auf Taiwan lebt: "Pekings Reaktion auf Pelosis Besuch war zwar vorhersehbar, aber nicht zwangsläufig, sondern eine bewusste Entscheidung des Regimes. Lautstarke Empörung und Drohungen sind gezielt eingesetzte Mittel, um andere Länder von der Unterstützung Taiwans abzuhalten. Wer sich dem fügt, wahrt nicht den Frieden, sondern lässt Peking gewähren. Wer sich widersetzt, leistet Überlebenshilfe für Taiwans bedrohte Freiheit. Pelosis Visite gehört in die letztere Kategorie - deshalb die jubelnden Menschen abends vor ihrem Hotel."

Außerdem: Für die FAZ berichtet Gina Thomas aus dem erstaunlich entspannten Taipeh: "Seit der Abreise des umstrittenen Gastes posten zahlreiche Bürger Videobilder aus dem Alltag in Taiwan - als Beweis dafür, dass das Leben hier unverändert weitergeht."
Archiv: Politik

Kulturmarkt

Die "Transformationsforscherin" Maja Göpel, Autorin des Bestsellers "Unsere Welt neu denken", ist nicht die Autorin des Bestsellers. Da sie gesellschaftlich und beruflich so eingespannt war, hat sie das Buch vom Journalisten Marcus Jauer schreiben lassen, berichtet Stefan Willeke in der Zeit (auch die Zeit ist institutionell vielfach mit Göpel verbunden). Jauer wollte laut Willeke selbst nicht genannt werden. Da er aber die Hälfte des Honorars bekommen hat, hat er zumindest prächtig verdient, so Willeke. Göpel selbst sei zwar übrigens eine charismatische Person, aber eine schlechte Schreiberin: "Man benötigt nicht viel Sprachgefühl, um zu erkennen, wie stark sich das Buch von Göpels vorherigen Texten unterscheidet. Es steckt voller eingängiger Beispiele und wurde in der Ich-Form verfasst. 'Als ich Mutter wurde', auch darüber wird berichtet. Es beginnt mit einer spannungsreichen Szene in der Londoner U-Bahn - wie bei einer Reportage in einer Zeitung. Fragt man Maja Göpel, ob es im Buch Kapitel gebe, die ausschließlich sie selbst oder ausschließlich Jauer verfasst habe, dann antwortet sie: 'Nee, das gibt's beides nicht.'" Göpel hat für das Buch tolle Kritiken und renommierte Preise erhalten. Aber bei der schön gelegenen Denkfabrik "New Institute" in Hamburg, die sie schnell verlassen hat, hat sie wegen der Ghostwriterei offenbar Ärger bekommen.
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Göpel, Maja

Ideen

Mit zwölf Minuten Lesezeit gibt die Welt das Interview an, in dem der Philosoph Byung-Chul Han angesichts der multiplen Krisen ausgerechnet zu Untätigkeit aufruft. Unter anderem kritisiert er Hannah Ahrendts Idee des Handelns - aber die "Verabsolutierung des menschlichen Handelns" habe ins Anthropozän geführt, meint er. In Deutschland sei es allerdings kaum möglich, Arendt zu kritisieren: "Es ist vielleicht der deutschen Geschichte geschuldet, dass es den Deutschen schwerfällt, eine jüdische Denkerin zu kritisieren. Da ich aus einer anderen Kultur komme, bin ich in dieser Hinsicht nicht belastet. So kann ich Arendt nach Herzenslust kritisieren (lacht). Ich habe das Gefühl, dass Arendt heute in Deutschland ein Heiligtum ist, an dem man nicht rütteln darf. Arendt ist eine interessante Denkerin. Daher lohnt es sich, sich kritisch mit ihr auseinanderzusetzen, vor allem angesichts der Krisen unserer Gegenwart. Arendt verabsolutiert zu sehr den Aspekt des Handelns. Obwohl sie eine jüdische Denkerin ist, fehlt ihrem Denken komplett die sabbatische Dimension."

Außerdem: "Brutale, nationalistische und alle Werte einer zivilisierten Humanität verachtende Gewalt zeigt sich in unveränderter Grausamkeit erneut als ein ewiges Phänomen der Menschheitsgeschichte", schreibt Jörg Himmelreich in der NZZ. Solange Deutschland dies nicht anerkenne, tue es sich schwer mit Zeitenwenden, meint er.
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

Im Van Magazin erzählt Hartmut Welscher, wie der SPD-Politiker Johannes Kahrs als Mitglied des Haushaltsausschusses im Bundestag immer wieder Gelder für seine Heimatstadt Hamburg locker machte. Kahrs ist gerade im Gespräch, weil in einem Bankschließfach von ihm 214.000 Euro gefunden wurden, die gerüchteweise mit der Cum-Ex-Affäre in Zusammenhang gebracht werden, deren Folgen wiederum den ehemaligen Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz bis heute beschäftigen. Kahrs und sein CDU-Kollege Rüdiger Kruse waren Virtuosen darin, im letzten Moment Gelder für Hamburg loszueisen: "die Modernisierung der Laeiszhalle (10,75 Millionen Euro), ein Hafenmuseum mitsamt der Überführung und Restauration der Viermast-Stahlbark 'Peking' (168 Millionen Euro), die Sanierung des Bismarck-Denkmals (6,5 Millionen Euro), des Alten Elbtunnels (21,3 Millionen Euro) oder der Nikolaikirche (7 Millionen Euro), die Instandsetzung des Fernsehturms (18,5 Millionen Euro)." Hamburg hat's halt wirklich nötig!
Archiv: Kulturpolitik

Medien

Dem Tagesspiegel liegt ein Schreiben vor, das belegt, dass dem RBB einige Vorwürfe gegen Patricia Schlesinger seit Jahren bekannt sind: "Schon im August 2018 hatte der mächtige Redaktionsausschuss einen Fragenkatalog an die Intendanz geschickt, in dem von 'exklusiven Büros' und 'erheblichem Unmut in der Belegschaft' die Rede war." Aktuell prüfe der Verwaltungsrat des RBB, "wie Patricia Schlesinger endgültig von ihrem Vertrag entbunden werden kann. Das soll bis Freitag geklärt sein, am Dienstag im Rundfunkrat eine Entscheidung fallen. Bislang war Schlesinger nur bereit, bis zum Ende der Kündigungsfrist im Februar oder vorher mit einer Abfindung zu gehen. Bis Ende Februar bekäme sie noch 150.000 Euro."

Der ÖRR ist zu einer "Bastion der politisch-moralischen Publikumsbevormundung" geworden, schreibt Ulf Poschardt in der Welt: "Interessanterweise sind es oft die Mitarbeiter des ÖRR, die diese Art von Einseitigkeit nur schwer ertragen. Ob Intendanten, die sich im vertraulichen Gespräch voller Kopfschütteln über ihre nach links gekippte Redaktion wundern, oder die unerschrockenen Einzelkämpfer, die zumindest in Restbeständen Meinungsvielfalt einklagen - sie beschreiben das System ÖRR als bemerkenswert strukturkonservativ und in weiten Teilen eher reformunfähig." Dennoch brauchen wir den ÖRR, schließt er: "Weniger einseitig, besser und schlanker."

Im Grunde ein bisschen ähnlich sieht es Talkshow-Moderator Giovanni di Lorenzo in der Zeit: "Ja, bei den Öffentlich-Rechtlichen gibt es ernste Probleme und Missstände. Aber eine Demontage verdienen sie nicht." Di Lorenzo ist auch Chefredakteur der Zeit und benennt einen eher selten thematisierten Faktor, die immer innigere Verflechtung der Apparate: "Der Zeit .. könnte man Befangenheit vorhalten, weil sie mit einigen Sendern der ARD inhaltlich kooperiert und zuletzt mit dem RBB über ein gemeinsames Gesprächsformat verhandelt hat." In der FAZ spekuliert Michael Hanfeld über den Schlesinger-Nachfolger, der dann "in der Chefinnen-Beletage des RBB über vorgeöltes italienisches Parkett (17.000 Euro)" wird wandeln dürfen. Am besten wäre wohl eine unbestechliche hochqualifzierte Frau aus Ostdeutschland, so Hanfeld, auch die Linkspartei wäre dafür.
Archiv: Medien