9punkt - Die Debattenrundschau

Alternativlose Faktizität

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.12.2022. Ein Grund für den Krieg Russlands gegen die Ukraine sind dessen Bodenschätze, meint die Politikwissenschaftlerin Olivia Lazard im Interview mit der Zeit, denn die Ukraine könnte helfen, die Welt von fossilen Energien zu entwöhnen. Die SZ resümiert etwas ratlos das erste Jahr von Claudia Roth als Bundeskulturministerin. Ist die Klimakatastrophe ein Realistätsschock, der der Naturverleugnung der Postmoderne ein Ende bereitet, fragt Daniele Dell'Agli im Perlentaucher.  In seinem Substack-Blog schildert Matt Taibi einen Sündenfall amerikanischer Medien: die "Publikumsoptimierung".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.12.2022 finden Sie hier

Europa

Nun treten Sanktionen gegen russische Handelsgewinne aus dem Ölgeschäft in Kraft. Diese Sanktionen werden Russland einschränken, aber nicht den Krieg beenden, sagt die Sanktionsforscherin Julia Grauvogel im Gespräch mit Clara Vuillemin von der taz und stellt eine ganze Theorie über Sanktionen auf. Etwa "sind Demokratien anfälliger als autoritäre Regime, weil dort die Bevölkerung sehr viel schneller nicht mehr bereit ist, wirtschaftlichen Abschwung mitzutragen und dann über Wahlen die Herrschenden abstraft. Kleine Volkswirtschaften sind anfälliger als große und Sanktionen sind erfolgreicher, wenn sie durch große Koalitionen von Staaten oder sogar durch multilaterale Organisationen wie die Vereinten Nationen verhängt werden. Und es hilft auch, wenn die Forderungen klar und eingeschränkt sind: zum Beispiel die Untersuchung eines Massakers und nicht eine umfassende Demokratisierung."

Ein Grund für den Krieg Russlands gegen die Ukraine sind dessen Bodenschätze, meint die Politikwissenschaftlerin Olivia Lazard im Interview mit der Zeit. Denn die Ukraine ist eines der rohstoffreichsten Länder Europas, mit großen Kohle- und Gasreserven, Lithium-, Kobalt-, Titan- und Beryllium-Vorkommen und einer Reihe von Seltenen Erden, erklärt sie. "Der Krieg kam zu einer Zeit, als die strategische Partnerschaft der EU mit der Ukraine darauf abzielte, das Land wirtschaftlich und industriell stärker zu integrieren und in die Energiewende einzubinden. Daran konnte Russland kein Interesse haben. Schon vor dem Krieg sahen die Klimapläne vor, die EU von russischer fossiler Energie zu entwöhnen. Das war eine Bedrohung für den politischen und wirtschaftlichen Einfluss Russlands in Europa. Durch den Zugriff auf die ukrainischen Reserven an kritischen Rohstoffen kann der Kreml die Energiewende in Zukunft anfälliger und unsicherer machen. Viele der besagten Reserven, etwa die größten Lithiumvorkommen, befinden sich übrigens in den jetzt annektierten Gebieten." Überhaupt findet Lazard, dass die EU die "geopolitischen Dimensionen der Energiewende" noch nicht recht verstanden hat.

Litauen wird derzeit überschwemmt von Flüchtlingen aus Russland, der Ukraine und Belarus. Die Ukrainer suchen einfach Schutz, Russen und Belarussen haben ein größeres Problem, sich zu erklären, erzählt Kerstin Holm, die sich für die FAZ mit mehreren Journalisten und Schriftstellern in Vilnius unterhalten hat. So ist der russische Journalist Dmitri Kolesew enttäuscht, dass so wenige Russen gegen den Krieg demonstrieren. Aber er ist auch sicher, "dass die Mehrheit seiner Landsleute den Krieg nicht unterstütze. Der russische Staat sei faschistisch, nicht jedoch die Gesellschaft. Europa, zumal kleine Länder wie Litauen müssten Immigranten aus Russland natürlich filtern, sagt er. Doch ein pauschales Einreiseverbot würde nur die Häftlingszahlen in Russland steigern und dem Kreml helfen, das Land abzuschotten und mittels ideologischer und militaristischer Umbauten im Bildungssystem mittelfristig eine faschistische Bevölkerung heranzuziehen. Wie viele oppositionelle Russen hoffe er auf einen ukrainischen Sieg, sagt Kolesew, bringe es aber nicht fertig, für die ukrainische Armee zu spenden, die Landsleute töte. Dafür überweise er Geld für Heizkörper und Generatoren für die ukrainische Zivilbevölkerung."

Bei der AfD und ihr nahestehenden Organisationen scheint es sich um recht komplizierte Gebilde zu handeln. Die ehemalige CDU-Politikerin Erika Steinbach versucht gerade die Desiderius-Erasmus-Stiftung auf die Beine zu stellen, die als AfD-nahe Stiftung auf 70 Millionen Euro Steuergelder für die Legislaturperiode hoffen könnte, wesentlich mehr als die Staatsgelder für die Partei. Aber es gibt gleichnamige Stiftungen auf Landesebene, und die sind rechtsextrem, hat Gareth Joswig für die taz herausgefunden. So werde dort der Begriff des "Kulturmarxismus" verwendet. Und da es Bestrebungen gibt, die AfD-Stiftung aus dem Geldregen herauszuhalten, den sich die anderen Parteien gönnen, kommt der Streit für die um Verfassungskonformität bemühte Steinbach "zum denkbar ungünstigen Zeitpunkt, wie sie selbst am Telefon einräumt... Offenbar auch deswegen betont Steinbach auf Nachfrage erneut, dass die ihr bislang vier bekannten Landesstiftungen von Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Brandenburg komplett unabhängig seien, auch wenn sie ebenfalls den Namen Desiderius-Erasmus-Stiftung tragen."

Norbert Mappes-Niediek war zur Zeit der Kriege im ehemaligen Jugoslawien Korrespondent vor Ort. Nun legt er das Buch "Krieg in Europa - Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent" vor. Im Gespräch mit Doris Akrap von der taz geht er die Fehler der EU-Politiker und vor allem Helmut Kohls und Hans-Dietrich Genschers durch. Und mit Erstaunen konstatiert er, in welchem Ausmaß die Kriege von damals heute vergessen sind. So konnte etwa Annelena Baerbock neulich mit Blick auf die Ukraine "vom ersten Krieg in Europa seit 1945" sprechen. "Das ist schon erstaunlich. Vielleicht liegt es daran, dass man in Europa das Geschehen in Jugoslawien fälschlich für eine verspätete Nationenbildung hielt, die der Westen hundert Jahre früher durchgemacht hatte. Manche mögen auch das irrige Gefühl haben, der Balkan gehöre nicht zu Europa. Beides hat es erleichtert, die Kriege zu verdrängen."
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Kulturpolitik

In der SZ resümiert Jörg Häntzschel das erste Jahr von Claudia Roth als Kulturstaatsministerin, das er etwas mutlos fand: Von der geplanten Großreform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist "nur noch das Minimum übrig", beim Humboldt Forum oder dem Museum des 20. Jahrhunderts, die ebenfalls neu aufgestellt werden müssten, taktiere sie vorsichtig: "Die einst impulsive Roth geht vor, als liege Sun Tzus 'Die Kunst des Krieges' auf ihrem Nachttisch." Und dann war da noch die Documenta-Debatte, in der sie vergeblich zu beschwichtigen suchte: "Die Documenta ist vorbei, doch neue Antisemitismus-Kontroversen flammen ständig auf. Sie selbst, die den BDS-Beschluss des Bundestags nicht mittrug, gehört oft zu den Mitangeklagten. Roth will sich mit einem Standpunkt schützen, der allen Parteien gleichermaßen den Wind aus den Segeln nehmen soll: kein Kulturboykott, nicht gegen Russland, nicht gegen Israel, aber auch nicht gegen die Israel-Boykotteure des BDS, fordert sie." Kurz: alle sollen irgendwie eingehegt werden. Ob das reicht?
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Ideen

Ereignisse wie die Klimakatastrophe aber auch der Krieg, müssten eigentlich postmoderne Naturverleugnung und Naturverdrängung, die bis zum "Dogma einer sozialen Konstruktion des biologischen Geschlechts getrieben" getrieben wurden, zunichte machen, vermutet Daniele Dell'Agli in einem Perlentaucher-Essay über die "Rückkehr des Ernstfalls": "Erst allmählich zeichnet sich ab, dass solche letztlich selbstreferenziellen Diskurse ihrerseits Symptome einer von kollektiven Ernstfällen weitgehend entlasteten Zivilisation sind. Deren Rückkehr wird als Einbruch des Realen in seiner ganzen alternativlosen Faktizität spürbar, die jede Relativierung von Wahrheitsfragen oder Sachverhalten immer mehr als verantwortungslose Spielerei bloßstellt."
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Internet

Twitter war so etwas wie das chaotische, aber doch höchst lebendige Hirn einer mit sich selbst diskutierenden Welt. Nun wird es zum Spielzeug eines durchgedrehten Milliardärs, schreibt Hendrik Wiedwulit für die FAZ. Aber ist Mastodon eine Alternative? "Die Welt von Mastodon wirkt etwas plüschig, aktivistisch und kommunenhaft. Sie fußt auf einer föderalen, anarchistischen und anti-datenkapitalistischen Idee: An die Stelle profitorientierter, zentral verwalteter Plattformen mit unstillbarem Aufmerksamkeitshunger und zahlungskräftigen Werbekunden tritt eine 'Föderation' (Federation) von Servern und bildet so das 'Fediverse'. 'Die Allgemeinheit' soll diese Plattformen steuern, so, wie sich Idealisten das schon lange vorstellen. Doch in der Realität regieren die Server-Administratoren - nach eigenen Regeln."
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Stichwörter: Twitter, Mastodon, Soziale Medien

Gesellschaft

Auf Zeit online stellt Carolin Wiedemann mit viel Verve eine Studie vor, die einen Anstieg des Antifeminismus in Deutschland diagnostiziert. Um Frauen geht es dabei aber nur am Rande. Denn Feminismus, wie Wiedemann gleich zu Beginn darstellt, ist für sie "eine politische Bewegung, die sich dafür einsetzt, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität gleichermaßen frei sein können". Kurz: Antifeministisch ist für Wiedemann jeder, der das biologische Geschlecht eines Menschen für nicht ganz unbedeutend hält. Klar, dass dann ureigene Frauenrechte wie das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch nur noch unter ferner liefen auftauchen: "Das Erstarken des Antifeminismus zeigt sich nicht nur in der Einstellungsforschung. Es zeigt sich auch in den Hassnachrichten und Drohmails, die Feminist*innen, Frauen und Queers bekommen, die in der Öffentlichkeit stehen, insbesondere linke und rassifizierte Frauen. Es zeigt sich in den Mobilisierungen gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche, gegen Angebote zu sexueller Bildung an Schulen, gegen queere Familienmodelle, gegen die Einführung einer dritten Geschlechtsoption und gegen die Reform des sogenannten Transsexuellengesetzes - gegen alle Neuerungen, die Frauen, trans und nichtbinären Menschen die Selbstbestimmung über ihre Leben und ihre Körper sichern sollen."
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Medien

Für all jene, die in den öffentlich-rechtlichen Sendern am Status quo interessiert sind, hat der Föderalismus viele Vorzüge. Die Länder sind medienpolitisch zuständig. Reiner Haseloff, Ministerpräsident von SachsenAnhalt leitet jetzt eine Kommission bei der CDU zur Reform der Sender und hofft nun alle 16 Länder auf zumindest ein paar kleine Schritte einzuschwören. Als Deisderate benennt er im Gespräch mit Tobias Blanken und Christian Meier von der Welt etwa: "Die Anstalten könnten sich viel besser vernetzen, nicht nur beim Sport. Wodurch enorme Mittel freigemacht werden können. Beitragsgelder werden derzeit immer mehr in Tochterfirmen gesteckt, etwa Produktionsfirmen, bei denen wir Gremienmitglieder kaum wissen, wie die Kostenstrukturen sind. Zahlen aus Verträgen kennen die Gremien häufig gar nicht, sodass Entschlüsse ohne Detailkenntnisse mitgetragen werden müssen. Diese Informationen müssen jetzt auf den Tisch, wir brauchen mehr Transparenz."

Seit Ende Juli haben rund 350 Sprach- und Literaturwissenschaftler in einem Aufruf die Gendersprache im öffentlich-rechtlichen Rundfunk kritisiert. Reaktionen der Sender gab es kaum, ärgert sich in der FAZ Fabian Payr, einer der Mitunterzeichner. Statt dessen gab es als Antwort nur Standardschreiben, in dem von diskriminierungsfreier Kommunikation die Rede ist, was laut Payr schon unterstellt, dass jeder, der nicht gendert, diskriminiert. "Mit dem Hinweis auf Veränderungen in Gesellschaft und Sprache schließlich nimmt das ZDF auf den Sprachwandel Bezug. Gendern wird als natürliches Sprachwandelphänomen verkauft, wo ehrlicherweise von Sprachplanung oder Sprachpolitik die Rede sein müsste. Gegenderte Sprache ist nicht das Ergebnis eines natürlichen Sprachwandels, wie Genderbefürworter immer wieder behaupten, sondern die Folge eines gezielten Spracheingriffs, der von Behörden und Institutionen mittels Gesetzen, Leitfäden und Richtlinien vorangetrieben wird." Gendersprache "ist ein akademischer Soziolekt, der Diskursvorherrschaft anstrebt", so Payr. Damit gewinne man kein Vertrauen.

Auch die amerikanischen Medien haben Probleme, ein diverses Publikum noch zu erreichen. Aber diese Probleme sind oft hausgemacht, meint der Journalist Matt Taibi, der seine Eröffnungsrede zu einer Debatte um dieses Thema in seinem Substack-Newsletter publiziert hat. "Nachdem das Internet aufkam und den Markt mit neuen Stimmen überschwemmte, stellten einige Sender fest, dass es finanziell sinnvoller war, eine bestimmte Zielgruppe zu dominieren, anstatt sich um die gesamte Zielgruppe zu bemühen. Und wie? Das ist ganz einfach. Man füttert das Publikum mit Nachrichten, von denen man weiß, dass sie ihm gefallen werden. ... Nennen Sie es das Modell der 'Publikumsoptimierung': Anstatt mit einer Geschichte zu beginnen und den Fakten zu folgen, beginnen Sie mit dem, was Ihrem Publikum gefällt, und arbeiten sich rückwärts zur Geschichte vor. In diesem System bedient die überwältigende Mehrheit der nationalen Medienorganisationen die eine oder andere 'Seite'. Laut einer Pew-Center-Umfrage von vor ein paar Jahren wählen beispielsweise 93 Prozent der Fox-Zuschauer die Republikaner, während die Zuschauer von MSNBC zu 95 Prozent die Demokraten wählen, ein Phänomen, das sich genau widerspiegelt."
Archiv: Medien