Efeu - Die Kulturrundschau

Chiffren korrupter Lüstchen

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08.03.2022. Mit einem leichten Schaudern blickt die FAZ in der Frankfurter Schirn auf Bilder innerer Emigranten, die Zensur und Zweiten Weltkrieg überlebten. Als "nie für möglich gehaltene Cancel Culture" geißelt die Welt die "irrationale Absagewelle", die russische KünstlerInnen derzeit ereilt. Immer mehr ukrainische Schriftsteller ziehen in den Krieg, berichtet Tanja Maljartschuk in der FR. SZ und FAZ lauschen dem "Gleißen der Sonne", wenn Edward Gardner Benjamin Brittens Oper "Peter Grimes" an der Bayerischen Staatsoper dirigiert. Und die NZZ macht eine surreale Erfahrung, wenn sie Wolodomir Selenski als "Diener des Volkes" auf Arte erlebt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.03.2022 finden Sie hier

Kunst

Bild: Marta Hoepffner, Selbstbildnis, 1935. Zeppelin Museum Friedrichshafen, © Zeppelin Museum Friedrichshafen / Estate Marta Hoepffner.

Mit einem Gefühl von Unbehagen angesichts der Aktualität kommt Stefan Trinks (FAZ) aus der Ausstellung "Kunst für Keinen" in der Frankfurter Schirn, die derzeit Werke von KünstlerInnen zeigt, die sich während des Zweiten Weltkriegs in innere Emigration zurückzogen. Ein "zersplittertes Kaleidoskop" eröffnet sich Trinks hier: "Während Abstraktion bisweilen Aussageverweigerung und Schutz sein kann, wundert man sich im Raum mit Edmund Kestings unmissverständlich anklagenden Fotocollagen wie 'Trümmerstätte an der Dresdener Frauenkirche', auf der ein großes Skelett an einer Balustrade auf die völlig in Ruinen gefallene Stadt blickt, wie Bilder wie dieses Krieg und Zensur überleben konnten - fanden doch bereits 1933 erste Hausdurchsuchungen bei Kesting statt und wurde dieser später als 'Entarteter Künstler' verfemt, woraufhin er einige seiner Werke vernichtete und nur noch nachts fotografierte, während er tagsüber die Objekte des Grünen Gewölbes dokumentierte. Der ausgebildete Maler und Bildhauer Kesting entwickelte sich in den Jahren bis 1945 zum Fotochronisten aller Surrealismen des Weltkriegs."

Außerdem: Unter dem Titel "Heroes and Monsters" zeigt das Orlando-Museum in Florida derzeit 25 Werke, die angeblich von Jean-Michel Basquiat gemalt worden sein sollen. Zwei selbst ernannte Schatzsucher wollen sie in einem Lagerraum gefunden haben, die Echtheit der Gemälde ist allerdings zweifelhaft, berichtet Sebastian Moll in der SZ. Sehr zufrieden von der "Transparenzoffensive" der Ethnologischen Sammlung des Leipziger Grassi Museums zeigt sich auch Marlen Hobrack bei Monopol: "Immer wieder betonen die Direktorinnen, dass die Ausstellung auch den Communitys, die etwa Anspruch auf die Objekte erheben oder mit dem Museum über Eigentumsverhältnisse verhandeln, offensteht. Im neugeschaffenen 'Raum der Erinnerung' können endlich pietätvoll Ahnenzeremonien abgehalten werden. Diese Rituale finden im Kontext der Repatriierung von human remains an Herkunftsgesellschaften statt."
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Musik

Serge Dorny, der Intendant der Bayerischen Staatsoper, hat ein Konzert mit Valery Gergiev aus dem Programm genommen. Wer derart aus der Sphäre der Ästhetik herausgetreten und sich mit der Politik gemeint gemacht hat, stehe in der Verpflichtung, sich zu äußern, sagt Dorny der SZ. Gergievs Schweigen sei ein Affront auch gegen die Kunst: "Sehr oft übersetzt Musik das Leiden derer, die unterdrückt und bedrängt werden. ... Man muss sich also fragen, wie ein Künstler, der eine Aggression gegen ein Land gutheißt, das Leiden der Unterdrückten ausdrücken kann. Das kann man nicht miteinander vereinen. Man kann mit Musik nicht Leid ausdrücken, welches man als Person nicht verurteilt. Schostakowitsch oder Verdi, das ist keine abstrakte Musik."

Der russische Dirigent Tugan Sokhiev hat derweil die Konsequenzen gezogen: Er gibt seine Engagements sowohl am Bolschoi Theater in Moskau, als auch beim Orchestre du Capitole de Toulous zurück. Er begründet dies damit, dass man ihn in Frankreich zu einem Statement gedrängt habe, das er nicht abgeben wollte, da er zwischen seinen "musikalischen Familien" nicht wählen wolle. Vasily Petrenko und Thomas Sanderling wiederum belassen es beim Rücktritt von ihren Posten in Russland und verbinden dies mit einer Kritik am russischen Krieg, meldet unter anderem die FAZ. Von zahlreichen weiteren Rücktritten berichtet die SZ.

Die eh überstrapazierte Phrase, dass Musik alle Grenzen überwinde, werde damit in ihrer Hohlheit nun offenbar, schreibt dazu Manuel Brug in der Welt. Es herrsche der Zwang zur Positionierung. Er fürchtet anhaltenden Kahlschlag: "Die irrationale Absagewelle trifft auch überall Künstler, die sich eigentlich nichts zu Schulden haben kommen lassen, die einfach nur einen russischen Pass besitzen. Und gleichzeitig beginnt bereits eine nie für möglich gehaltene Cancel Culture, die einfach nur russische Werke auf den Index setzt. ... Künftige Premieren russischer Werke werden freilich nur noch schwierig zu besetzen, das freie Flottieren zwischen Moskau, London, Paris, Berlin und New York wird im Musikbetrieb künftig auf Jahre hinaus lahmgelegt sein."

Der Siemens Musikpreis geht zur Freude von SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck an die österreichische Komponistin Olga Neuwirth. Sie ist die vierte Frau überhaupt, die mit dieser Auszeichung bedacht wird, und zudem "eine Feministin, Avantgardistin und Gesellschaftskritikerin, die gern auch mit ihrer Heimat hadert: 'Ich lasse mich nicht wegjodeln.' Was bei einer Künstlerin ja auch unvorstellbar ist, die ein fiktives Tiefseewesen wie Vampyrotheone derart kraftvoll, phantastisch, poetisch und voller Dunkelheiten und Aggression zum Klingen bringen kann."

Besprochen werden ein Berliner Konzert von Genesis (Welt) und neue Jazzveröffentlichungen, darunter Terrace Martins tief im Hip-Hop stehendes Album "Drones" (SZ).

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Literatur

Von schierer Verzweiflung, die sich in der literarischen Ukraine Bahn schlägt, berichtet die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk in der FR: "Die ukrainischen Autoren greifen jetzt auch zur Waffe. Ich kenne mehrere, die bereits in den Krieg gegangen sind: Artem Tschech, Artem Tschapaj, Mychajlo Brynych, Ilarion Pavliuk. Sie sind brillante Schriftsteller, brillante Intellektuelle, die jetzt nicht mehr mit dem Wort kämpfen, sondern tatsächlich mit einer Waffe. Ich bin in Kontakt mit vielen ukrainischen Schriftstellern. Die meisten bleiben in der Ukraine."

Außerdem: Im Freitag erinnert Sabine Kebir an die vor knapp 100 Jahren erschienenen Jugendromane der dänischen Schriftstellerin Karin Michaelis, in denen sie von einem ganz auf eigenen Füßen stehenden, ziemlich frechen und noch dazu Zöpfe tragenden Mädchen namens Bibi erzählt. Für Tell unterzieht Sieglinde Geisel "Die Nächte der Pest", den neuen Roman von Orhan Pamuk, dem Page-99-Test.

Besprochen werden Erin Entrada Kellys "Die Nelsons greifen nach den Sternen" (Zeit), Asako Yuzukis "Butter" (FR), Cys Comic "Radium Girls" (Tsp), neue Krimis (SZ), Johanne Charlotte Unzers Lyrikband "Versuch in Scherzgedichten" (SZ) und Miklós Mészölys "Spurensicherung" (FAZ).
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Film

Der Präsident, ganz anders als man ihn heute kennt: Selenski ist der "Diener des Volkes" (Arte)

Es lohnt sich, dieser Tage die (auf Arte online stehende) Comedyserie "Diener des Volkes" zu sehen, in der Wolodimir Selenski den ukrainischen Präsidenten spielt, bevor er tatsächlich zum ukrainischen Präsidenten wurde, schreibt Andreas Scheiner in der NZZ. Hier lockt geradezu "eine surreale Erfahrung", gar "ein fast schizophrenes Fernseherlebnis. Man bringt die Bilder kaum zusammen: Der jetzige Oberbefehlshaber, den wir dieser Tage im militärgrünen T-Shirt eindringlich in die Kamera sprechen sehen und der laut ukrainischen Sicherheitsbehörden schon mehreren Attentaten entgangen sein soll, er stolpert hier als gutmütige Schießbudenfigur durch den politischen Betrieb."

Außerdem hat Dominik Kamalzadeh für den Standard mit Nanni Morretti über dessen neuen Film "Drei Etagen" gesprochen. Besprochen werde Matt Reeves' "The Batman" (critic.de, unsere Kritik) und die zweite Staffel der Serie "Beforeigners" (FAZ).
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Bühne

Bild: Szene aus "Peter Grimes". Foto: Wolfgang Hoesl

Keinen Trost, aber doch einen Moment Ablenkung findet Reinhard J. Brembeck (SZ) in Stefan Herheims angenehm dezenter Inszenierung von Benjamin Brittens Oper "Peter Grimes" an der Bayerischen Staatsoper: "Ärmlicher Realismus kennzeichnet die Dorfgemeinschaft, sie tummelt sich in einer kargen Versammlungshalle, die einem umgestülpten Schiffsrumpf ähnelt. Die Decke fährt manchmal nach oben, hinten ist gelegentlich das Meer zu sehen. Kärglich und kleingeistig ist hier alles. Herheim trotzt weder dem Stück noch den Figuren tiefere Einsichten ab. Das verhindert schon der von ihm gewählte Realismus, an dem er penetrant festhält. Weshalb die zerstörerischen Abgründe und Psychosen weder von Grimes noch seiner Freundin sichtbar werden."

Das "verweilende Nachdenken" steht Herheim gut, findet in der FAZ auch Jan Brachmann, der vor allem das Dirigat von Edward Gardner bewundert. Ihm gehe es um "klare Hierarchien im Orchestersatz, um das Herausschälen von Gesten und Bildern, die malerische und psychologische Bedeutung haben wie das Spiel der Wellen, das Gleißen der Sonne oder der Schrei von Möwen und Seeschwalben. Plastizität ist hier zu hören statt einer verwässerten Wischtechnik von Grau in Grau. Wie er die Zurücknahme in lyrischen Momenten zur Verdichtung nutzt, wie er den Dialog durch straffe Rhythmik vorantreibt und die Anklänge unterhaltsamer 'Light Music' als Chiffren korrupter Lüstchen und empathielosen Getuschels aufblitzen lässt, das alles zeigt Gardner als ein neues Schwergewicht unter den britischen Dirigenten."

Besprochen werden Falk Richters Inszenierung von "Die Freiheit einer Frau" nach einem Prosatext von Edouard Louis am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, die Till Briegleb in der SZ gelegentlich kitschig, aber auch bewegend "Exitstrategien aus der Unterschicht" aufzeigt, Malte Kreutzfelds Inszenierung von Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" am Staatstheater Wiesbaden (FR), Regina Wenigs "Die Zeit, die Stadt und wir" am Schauspiel Frankfurt (FR).
Archiv: Bühne