Efeu - Die Kulturrundschau

Perfektion der Eigenwilligkeit

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29.06.2022. Eiskalt exekutierte Charakterpartien erlebt die schaudernde FAZ in Krzysztof Pendereckis Historienoper "Die Teufel von Loudon" in München. Die SZ erkundet mit Sven John die mentalen Landschaften in Saßnitz, dem Zentrum der deutsch-russischen Petropolitik. Die Welt fordert von Claudia Roth, die Documenta zu übernehmen oder dicht zu machen. Die Schriftstellerin Mirna Funk will in der NZZ kein Opfer sein. Und die FR taucht unter.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.06.2022 finden Sie hier

Bühne

Krzysztof Pendereckis "Die Teufel von Loudon". Foto: Wilfried Hösl / Bayerische Staasoper


Zur Eröffnung der Münchner Opernfestspiele hat Simon Stone Krzysztof Pendereckis Historienparabel "Die Teufel von Loudun" inszeniert. Die Oper erzählt von einer Nonne, die sich ihre Fleischeslust von einem Exorzisten austreiben lassen muss und den unschuldigen Pater Grandier der Hexerei bezichtigt. FAZ-Kritiker Max Nyffeler kommt gänzlich ungetröstet aus dieser Inszenierung, und überwältigt: "Dem Katholiken Penderecki ging es in seiner Oper nicht um heute diskutierten Themen wie korrupte Bischöfe und MeToo, sondern um die Frage der Wahrheit und um Glaubensstärke zu Beginn des säkularen Zeitalters. Am Beispiel der existentiellen Vernichtung Grandiers wird das als politische Machtfrage durchexerziert. In den Dialogen zwischen Grandier und seinem zynischen Widersacher Baron de Laubardemont, eine von Wolfgang Ablinger-Sperrhacke eiskalt exekutierte Charaktertenorpartie, spitzt es sich zur fundamentalen Wahrheitsverdrehung zu, indem der Baron den Gefolterten mit dialektischer Schläue zur Preisgabe seines Glaubens zwingen will und sich dabei auf den Willen Gottes beruft - wahr und falsch, Gott und Teufel erscheinen in vertauschten Rollen."

Auch musikalisch war der Abend großartig, versichert Egbert Tholl in der SZ: "Immer wieder knallt es, dröhnt eine Orgel, explodiert der Klang. Wenn man diese eigenartige, manchmal auch groteske Musik aufführen will, dann muss man es so machen wie Vladimir Jurowski und das Bayerische Staatsorchester an diesem Abend, es ist die Perfektion der Eigenwilligkeit. Ähnliches gilt für die Besetzung der Sängerinnen und Sänger: makellos, alle etwa 30 Solisten." Selbst Nachtkritiker Thomas Rothschild räumt etwas gespreizt ein, dass seine Aversion gegen Simon Stones Theater in diesem Fall nicht trägt.

Besprochen werden außerdem drei Frühwerke Wagners, "Die Feen", "Das Liebesverbot" und "Rienzi", beim Festival "Wagner 22" an der Oper Leipzig (Tsp).

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Kunst

Sven Johne: "NordStream 1 +2". Foto: Galerie Nagel Draxler



In der SZ stellt Kito Nedo den Berliner Künstler Sven Johne vor, der in seinen Arbeiten die deutsch-russische Petropolitik verabschiedet, etwa mit seinem großformatigen Porträt der Stadt Saßnitz "Nabel der Welt", das in der Galerie Nagel Draxler zu sehen ist: "Die Schwarzweißbilder sind hochaufgelöst und gestochen scharf. Unwillkürlich vertieft man sich in die Details, die Ordnung etwa, mit der die Pipeline-Rohre gelagert wurden. Doch was kann man schon wissen von der Saßnitzer Wirklichkeit, wenn man wie ein Flugkörper in sicherer Entfernung über die Oberfläche schwebt? In die fotografierte Landschaft hat der Künstler mit dem Computer kurze Texte montiert, die sich wie Gedankenblasen von Gastronomen, Immobilienhändlern, Lokalpolitikern, Polizisten, Sozialhilfeempfängern, Corona-Spaziergängern, Fischern und Fischbrötchenverkäufern lesen. Zusammen ergeben sie so etwas wie die mentale Landschaft einer deutschen Kleinstadt."

Für Welt-Kritiker Marcus Woeller steht fest, dass die Geschäftsführerin Sabine Schormann und Kassels Oberbürgermeister Thomas Geselle die Verantwortung für den Documenta-Eklat tragen und sie auch ziehen sollten. Allerdings fällt ihm auch etwas anderes auf: "Das gegenwärtige Macht und Beziehungssystem des Kunstbetriebs dürfte davon unangetastet bleiben. Denn neben der lauten Kritik der Journalisten an der Documenta hört man aus den Museen, von den Direktoren der wichtigen Institutionen - nichts. Dieses Schweigen ist erschreckend." In einem zweiten Text sieht Swantje Karich Kulturstaatsministerin Claudia Roth in der Pflicht: "Der Bund muss jetzt dringend alle Unterstützung der Documenta einstellen. Oder aber aktiver Gesellschafter werden. Alles andere ist unverantwortlich." Auch in der SZ berichtet Jörg Häntzschel, dass Claudia Roth der Documenta einen Expertenbeirat empfohlen hatte, den Kassel jedoch mit dem Hinweis auf befürchetet Zensur ablehnte.

Auf ZeitOnline fasst Robin Detje seine Eindrücke von der Documenta so zusammen: "Man wird nicht von Spitzenkunst überwältigt werden. Man wird immer hin- und hergerissen bleiben zwischen ebenso pastoraler wie politisch radikaler Naivität auf der einen und immer wieder mal auftauchender, mehrfach gebrochener Großkunstigkeit auf der anderen Seite. Beides kann nerven, ebenso wie die Widersprüche, die so entstehen und deren Duldung Programm ist. Und die Gespräche, die nun vermitteln könnten, finden nicht statt. Und auch das kann nerven."

Besprochen werden Miriam Cahns Ausstellung "Meine Juden" im Museum für Gegenwartskunst in Siegen (taz) und die Ausstellung "A Thousand Words for Weather" in der Senate House Library in London (Guardian).

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Literatur

Im Interview mit der NZZ spricht Mirna Funk über ihr neues Buch "Who Cares!" und einen neuen Feminismus, der Frauen ermutigt, ihr Leben in die Hand zu nehmen, statt über das Patriarchat zu klagen: "Ich halte uns für ganz freie und autonome Subjekte, Frauen wie Männer. Wichtig ist nur, dass wir unsere eigene Subjekthaftigkeit auch annehmen und aushalten. Freiheit bedeutet immer Verantwortung. Ich finde es schon sehr auffällig, wie stark in Deutschland dieses Denken, Opfer zu sein, vorherrscht."

Weitere Artikel: In Frankfurt hat das Literaturm-Festival begonnen: Diskussionen mit Viktor Jerofejew, Gerd Koenen, Lea Ypi und Tanja Maljartschukin zu Russland machten den Anfang, berichtet Andrea Pollmeier in der FR. Sandra Kegel schreibt dazu in der FAZ. Thomas Hummitzsch empfiehlt in seinem Blog intellectures Sommerbücher.

Besprochen werden Lea Ypis "Frei" (Begleitschreiben), das Tagebuch von Ror Wolf (FR, Welt), "The Quartet" von Claire Mac Cumhaill und Rachael Wiseman (NZZ), David Diops Roman "Reise ohne Wiederkehr oder Die geheimen Hefte des Michel Adanson" (taz), Heinz Strunks "Ein Sommer in Niendorf" (Standard), Walerjan Pidmohylnyjs Roman "Die Stadt" (Berliner Zeitung), Helene Hegemanns Erzählband "Schlachtensee" (NZZ, FAZ), Tomas Venclovas Gedichtband "Variation über das Thema Erwachen" (SZ), Olivette Oteles Band "Afrikanische Europäer" (SZ) und Roger Melis' "Thea" (FAZ).
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Film

"Der deutsche Film befindet sich einer schweren Krise. International ist er praktisch unsichtbar", diagnostiziert Daniel Kothenschulte in einem Essay für den Filmdienst. "Es ist der qualitative Niedergang, der immer weniger Anreize schafft, ins Kino zu gehen. Ironischerweise aber nicht weniger Anreize, Filme zu produzieren. Denn die Förderstrukturen machen es Produzierenden einfacher, schlechte statt gute Filme zu produzieren. Obwohl die Filmförderung in Deutschland bei der Staatsministerin für Kultur angesiedelt ist, spielt bei der Vergabe der Gelder - anders als etwa in Österreich - eine künstlerische Evaluierung praktisch keine Rolle. Bei der Mittelvergabe wird auch nicht berücksichtigt, dass künstlerische Filme im Gegensatz zu Unterhaltungsfilmen anders budgetiert werden müssen. Sie brauchen vielleicht weniger Spezialeffekte und ein kleineres Team am Set, dafür aber eine jahrelange Drehbucharbeit und längere Drehzeiten. Die belgischen Dardenne-Brüder drehen ihre Filme eben nicht in 28 Tagen herunter, sondern proben und drehen jede Szene so lange, bis alles stimmt - auch wenn es 60 Tage dauert."

Dabei gibt es durchaus ein Bedürfnis nach interessanten Filmen, erzählt Volker Schlöndorff, der mit seinem jüngsten Film "Der Waldmacher" durch die deutschen Kinos gezogen ist, in epd Film: "Ich selbst bin, was das Überleben der Kinos bei uns betrifft, nach der Rundreise durch 44 große und kleine Häuser in 39 Städten optimistischer als zuvor. Eine neue Generation von Betreibern wird ihre Altersgenossen mit ihrer Lust am Film anstecken. Und das Bedürfnis nach unmittelbarem Leben und Gemeinschaft wird stärker sein als der Reiz der virtuellen Erlebnisse. Ausverkauft waren tatsächlich zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder alle Kinos, die ich mit dem Dokumentarfilm 'Der Waldmacher' seit dem 5. April besucht habe. Weil es mir wichtig war, dass mein anderes, hoffnungsvolleres Bild von Afrika auch gesehen wird, habe ich diese Tour gemacht und allabendlich mit dem Publikum diskutiert. Der Verleih meinte, keine noch so aufwendige Werbekampagne könnte eine vergleichbare Wirkung erzielen. Wichtiger als für den Film war die Reise aber für die Kinos: Hoffnung auf die Rückkehr der Zuschauer."

Im Tiefenrausch - Filmmuseum Frankfurt


Thomas Stillbauer begibt sich für die FR unter Wasser. Die Ausstellung des Frankfurter Filmmuseums: "Im Tiefenrausch" zeigt, was man wissen muss über das Genre des Tiefseefilms. Besonders gut gefallen hat ihm "das Rondell in der Mitte mit Filmszenen im Großformat, von außen und innen zu erleben. Es zieht alle, die stöbernd vorbeischwimmen, wie ein Strudel an. Weil vier Projektionen gleichzeitig laufen, weiß man gar nicht, wo man zuerst mit dem Blick hinpaddeln soll, aber auf Dauer stellt sich ein rauschhaftes Erlebnis ein. Kampf unter Wasser, Taucher, geheimnisvolle Wracks, Fische, U-Boote, Haie, Meerjungfrauen, Delfine, die Schönheit der Tiefsee, auch in Form von Zeichentrickfilmen - und überall das scheinbar endlose Blau."

Besprochen wird der Film "Abenteuer eines Mathematikers" über Stanisław Marcin Ulam (Das 'Abenteuer', das der Filmtitel verspricht und über das sich eine vielsagende Szene lustig macht ('Wenn du Abenteuer willst, steig auf einen Berg'), wird nur miterleben können, wer nüchterne Spielführung nicht lauwarm findet, sondern bei großen Themen gerade sachgerecht, nämlich antisentimental", erklärt Dietmar Dath in der FAZ).
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Musik

Stefan Grund berichtet in der Welt vom Schleswig-Holstein Musik Festival, wo der israelische Dirigent, Akkordeonist und Romancier Omer Meir Wellber mehrere Auftritte hatte. Im Standard staunt Amira Ben Saoud etwas missgelaunt über den TicToc-Hit eines Kollegen, des Journalisten Louis Theroux: "Jiggle Jiggle", inspirierte eine unfassbare Menge Menschen zu einem Tänzchen. Gucken Sie sich den lässigen älteren Herrn rechts ab 1.22 an!

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