Efeu - Die Kulturrundschau

Der Flow der versierten Jazzer

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.01.2023. Die taz lernt von Ali Asgaris Film "Ta Farda", dass die Proteste im Iran auch ein Kampf von Arm gegen Reich sind. Die Welt glaubt nicht mehr an die Golden Globes, die morgen vergeben werden. Das ND hört mit angehaltenem Atem zu, wenn das Jazzquartett SDLW auf die Reise geht. Dem Tagesspiegel läuft es bei Robert Wilsons "Dorian" Inszenierung mit Christian Friedel in Dresden kalt den Rücken runter. Monopol reist mit dem österreichischen Fotografen Gregor Sailer in die Arktis.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.01.2023 finden Sie hier

Kunst

Bild: Annie Leibovitz: Renate und Leo Fritz Gruber. © Annie Leibovitz Repro: Rheinisches Bildarchiv Köln

Eine "kleine, feine" Ausstellung widmet das Kölner Museum Ludwig aktuell der im Oktober 2022 verstorbenen "Grand Dame der Fotografie" Renate Gruber, die dem Haus gemeinsam mit ihrem Mann ihre fotografische Sammlung vermachte, freut sich Cornelia Ganitta im Monopol Magazin: "Zu sehen sind viele Kuss-Münder, aber auch berührende Porträts der Grubers von Annie Leibovitz sowie einige Innenansichten aus dem Haus der Eheleute in Köln, die Candida Höfer im Jahr 2000 im menschenleeren Zustand machte. L. Fritz Gruber hatte es 1957 erworben, zwei Jahre später war seine frisch Angetraute eingezogen. Die Aufnahmen zeigen eine Fülle von Büchern, Möbeln, Vasen, einen knallgrünen Teppich, einen Warhol an der Wand sowie einen stets über der Couch hängenden Mistelzweig. Für viele war das Haus geradezu eine Institution. Helmut Newton, Henri Cartier-Bresson, Edward Steichen und Chargesheimer waren hier zu Gast."

Für sein Projekt "The Polar Silk Road" reiste der österreichische Fotograf Gregor Sailer in die Arktis, um Militärbasen und Forschungsstationen festzuhalten. Die "surreal" anmutenden Bilder sind ab Samstag in der Berliner Alfred Ehrhardt Stiftung zu sehen, berichtet in Monopol Jule Klenert, die mit Sailer über militärische Aufrüstung in der Arktis gesprochen hat: "Je weiter sich das Eis zurückzieht, desto mehr Rohstoffquellen werden frei und desto größer ist das Interesse auch an fossilen Energiequellen. Meines Erachtens werden die Spannungen weiter zunehmen, weil nicht nur die arktischen Anrainerstaaten mitmischen wollen, sondern auch Nationen wie China, das kein direkter Anrainerstaat ist. China erkauft sich den Zugang über Investitionen in Infrastrukturprojekte oder erwirbt beispielsweise Förderlizenzen seltener Erden auf Grönland."

Weitere Artikel: Im Guardian folgt Rhiannon-Lucy Cosslett der Katze durch die Kunstgeschichte. Eine Lehrkraft an der Hamline University in Minnesota zeigte in einem Seminar über islamische Kunst Mohammed-Bilder islamischer Künstler, um zu zeigen, dass es im Islam keineswegs verboten ist, Bilder des Propheten zu zeigen. Einige muslimische Studierende fühlten sich in ihren Gefühlen verletzt, der Vertrag der Lehrkraft wurde nicht verlängert, berichtet Hannes Stein in der Welt. Besprochen wird die Ausstellung "She is in it not not at all" der Schweizer Künstlerin Julia Znoj im Kunstraum Schwaz (Standard).
Archiv: Kunst

Bühne

Ob in Antwerpen oder Bordeaux, Rom oder Paris, Hamburg oder Düsseldorf - überall sind aktuell Arbeiten von Robert Wilson zu sehen, freut sich im Tagesspiegel Rüdiger Schaper, der aber besonders einen Besuch am Staatsschauspiel Dresden empfiehlt, wo Christian Friedel derzeit als Solist Wilsons "Dorian" gibt: "Wie Wunderland-Alice kommuniziert er mit Spiegeln. Gefangen im Glamour seiner Garderobe, berauscht sich der Narziss am eigenen Bild. Ein kalter Fisch, eine einsame, unnahbare Erscheinung. Und ein glänzender Entertainer. Christian Friedel wirbelt. Seine Energie erfasst den Zuschauerraum sofort."
Szene aus "Der Sandmann". Bild: Emma Szabo.

Währenddessen versucht sich Charlotte Sprenger im Hamburger Thalia Theater an einer Musicalversion von Wilsons "Der Sandmann" nach E.T.A Hoffmann - ohne die Kritiker wirklich zu begeistern. "Das Unheimliche hat in dieser Kombination aus gekonntem Klamauk und Abschiedsstimmung keinen rechten Platz", seufzt Till Briegleb in der SZ: "Die täuschend echte Automatenfrau Olympia etwa, die Nathanaels blinde Liebe entflammt, könnte heute Sinnbild für so vieles sein: für die verblüffenden Animationen der künstlichen Intelligenz oder die chirurgische Modellierung von Frauenkörpern nach computergenerierten Schönheitsidealen. In Sprengers Finale betritt Olympia die Bühne dagegen zunächst als 'Steinerner Gast' in Blau, aus dem sich dann eine Tänzerin mit Lichtschlangen auf dem Körper schält. Durch die Decke senkt sich dazu ein blaues Holzpferd. Und so verliert sich diese Inszenierung zunehmend in vermeintlichem Augenschmaus, wobei die Erzählung sanft entschläft."

"Vielleicht ist die Sperrigkeit von 'Der Sandmann' aber auch Konzept", meint Nachtkritiker Falk Schreiber: "Dann muss man den Hut ziehen davor, wie sich eine junge Regisseurin, die bislang vor allem als sichere Handwerkerin auffiel, hier jeglicher Zugänglichkeit verweigert. Als Fest im Rahmen eines Theaterspektakels, dem irgendwie das Spektakel verlorengegangen ist, eignet sich dieser Abend jedenfalls ganz und gar nicht, am Ende ist er eben doch eine traurige Party. Als solche aber ist er konsequent."

Außerdem: Für die FAZ porträtiert Marc Zitzmann den französischen Theaterregisseur Thomas Jolly, der 2024 mit einem Gesamtbudget von 137 Millionen Euro die Eröffnungs- und Schlusszeremonien der Olympischen und Paralympischen Spiele in Paris gestalten wird.

Besprochen werden Tschaikowskys "Schwanensee", getanzt vom Kiew Grand Ballett in der Frankfurter Jahrhunderthalle (FR), Urban Priols satirischer Jahresrückblick "Tilt!" in der Frankfurter Jahrhunderthalle (FR), Sinem Altans Inszenierung "Das tapfere Schneiderlein" im Berliner Atze Musiktheater (Tagesspiegel), Thorsten Fischers Inszenierung von Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" am Berliner Schlosspark-Theater (nachtkritik) und Jessica Gauses Inszenierung von Anne Leppers "Life Can Be So Nice" am Schauspiel Stuttgart (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Film

Filmstill aus Ali Asgaris "Ta Farda". 

taz
-Kritiker Robert Mießner hat sich in der Berliner Volksbühne Ali Asgaris Film "Ta Farda" angesehen, der von einer ledigen Mutter in Teheran erzählt. Interessant fand er vor allem die anschließende Diskussion: "Dabei war auf dem Podium eine Menge zu erfahren und zu lernen, nicht nur über das mehrstufige Zensursystem im Iran mit seinen immer wieder zu erfragenden Proben-, Dreh- und Aufführungserlaubnissen und behördlichen Interventionen. Man sprach auch über Aspekte der iranischen Revolution, die in der Berichterstattung eher stiefmütterlich behandelt werden. Seit Jahren schon kommt es zu Streiks und Protesten. Es ist auch ein Klassenkampf, der da stattfindet. 'Wer inhaftiert und gehängt wird, das sind die Armen', hieß es auf dem Podium. Es tut dem sehenswerten Film " 'Ta Farda' keinen ästhetischen Abbruch, wenn man diesen Aspekt mit im Auge behält."

Morgen werden die Golden Globes vergeben, in der Welt bezweifelt Hanns-Georg Rodek, dass sie nach all den Skandalen und dem Verkauf an einen privaten Investor jemals wieder Bedeutung erlangen können. Herr des Schauspiels ist jetzt Todd Boehly, Chef des Vermögenverwaltungskonglomerats Eldridge Industries, wie Rodek erklärt: "Die zweitmeisten Nominierungen für die Golden Globes gingen dieses Jahr an Filme einer Firma namens A24 (Eldridge hält Anteile an A24). Und die Feier soll - wie in jedem Jahr - im Beverly Hilton Hotel stattfinden (das, wen wundert's noch, teilweise Eldridge Industries gehört). Interessenskonflikten sind Tür und Tor geöffnet, aber in der HFPA, die an der Wand stand, gab es wenig Opposition gegen den Verkauf."

Besprochen wird Claudia Lenssens und Maike Mia Höhnes Buch über Ulrich und Erika Gregor, denen die Filmwelt das Kino Arsenal, das Forum der Berlinale und das Living Archive zu verdanken hat (Tsp).
Archiv: Film

Literatur

Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort, Olga Matiychuk schreibt in der SZ aus Czernowitz.

In der SZ feiert Andrian Kreye Bret Easton Ellis' neuen Roman "The Shards" als dunkles Meisterwerk eines großen Konservativen. Besprochen werden die Autobiografie der feministischen Linguistin Luise F. Pusch "Gegen das Schweigen" (taz), Behzad Karim Khanis Roman "Hund Wolf Schakal" (taz), Arno Geigers "Das glückliche Geheimnis" (SZ, NZZ, FR), Dieter Borchmeyers Thomas-Mann-Biografie (SZ), Viktor Schklowskis Roman "Zoo" (NZZ), Damon Galguts Roman "Das Versprechen" (NZZ) und eine Werkausausgabe des Schweizer Autors Christoph Geiser (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Schlichtweg atemberaubend findet Berthold Seliger im ND das wilde Album "SDLW" von Stefanovich, Dell, Lillinger, Westergaard, auch wenn er nicht sagen könnte, ob er hier Jazz, Impro oder Avantgarde hört. Vor allem die Pianistin Tamara Stefanovich wirft ihn um: "Ist sie eine weitere Pianistin auf der schier endlosen Liste eher langweiliger und mehr oder minder krass scheiternder klassischer Musiker*innen, die sich am Jazz versuchen? Selbst bei Friedrich Gulda, einem der bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhunderts, der eine tiefe Liebe zu Jazz und Improvisation empfand, reichen die Jazz-Alben nicht annähernd an die einsamen Höhen seiner Bach-, Mozart-, Beethoven- oder Debussy-Interpretationen heran. Anders ist es bei Tamara Stefanovich: In den eher Free-Jazz-artigen Stücken hält sie mühelos den Flow der versierten Jazzer Dell, Lillinger und Westergaard und bestimmt bei 'Hvidovre' mit ihren Klavierakkorden zu Beginn sogar Tonfall und Verlauf des ganzen Stückes. Doch das ist nicht alles: In den meisten Tracks dieses Albums wird eher wild improvisiert denn gejazzt (falls das ein Gegensatz sein kann und soll). Und hier finden sich vier Musiker*innen, die wie in einem klassischen Streichquartett gemeinsam auf eine Reise gehen, die sich auf geistvollem Niveau unterhalten, deren Diskurs man etwas abgewinnen und die Eigentümlichkeiten ihrer Instrumente kennenlernen kann, um Goethes berühmtes Aperçu zu paraphrasieren."

Hier eine Hörprobe von den Vieren:



Weiteres: Albert Koch attestiert auf ZeitOnline Iggy Pops neuem Album "Every Loser" eine ziemlich "miefige Männlichkeit". Dietmar Dath gratuliert in der FAZ der Sängerin Pat Banatar zum Siebzigsten, die mit "Love is a Battlefield" eine Ikone des Soft-Rock-Feminismus wurde. Oder doch eher des Schulter-Schüttel-Feminismus mit Big Hair?

Archiv: Musik