9punkt - Die Debattenrundschau

Das altmodische Wagnis, den Dingen Namen zu geben

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.10.2014. Heute ist Nationalfeiertag in China. In Hongkong wandten Studenten der offiziellen Zeremonie den Rücken zu. Twitter und Facebook wimmeln vor Bildern. Die FAZ informiert über Desinformationstechniken der Zentrale. Le Monde erzählt, wie man Online-Medien in Frankreich auch kaputt machen kann: mit der Mehrwertsteuer. Die SZ durchleuchtet die NS-Vergangenheit ihrer frühen Redakteure. Die Zeit versucht zu verstehen, warum sich junge Frauen von den IS-Marodeuren angezogen fühlen. Und Springer hat jetzt keine Angst mehr vor Big Data, sondern sammelt selbst, freut sich Kai Diekmann in Wien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.10.2014 finden Sie hier

Politik



(Via creativereview.co.uk) Tania Willis hat diesen Entwurf für einen Wettbewerb eingereicht, den Designprofessor Kacey Wong auf Facebook ausrichtet, um ein Logo für die Regenschirm-Revolution in Hongkong zu finden. Mehr Bilder finden sich auf Twitter unter den Hashtags #umbrellarevolution, #HKartists und #occupyhk.

Heute ist der chinesische Nationalfeiertag. Auch in Hongkong, wo heute wieder Demonstrationen erwartet werden, wurde eine Zeremonie abgehalten, berichten Agenturen, hier im Standard. "Demonstrativ wandten Studentenführer Joshua Wong und andere Aktivisten der Zeremonie den Rücken zu, als die Flaggen Chinas und Hongkongs gehisst wurden. Die Demonstranten hielten schweigend die Hände über Kopf gekreuzt."

Ein ganzes Heer von bestens ausgebildeten Online-Kommentatoren wird in China beschäftigt, um Desinformation im Sinne der Zentralregierung zu liefern, berichtet Mark Siemons in der FAZ und weiß, "dass die Kommentatoren "ernsthaft die Mentalität der jeweiligen Nutzer" studieren sollen. So sei es zum Beispiel nicht anzuraten, sich der Idee der Demokratie frontal entgegenzustellen, sondern besser, auf Beispiele der Gewalt in dieser oder jener Demokratie hinzuweisen. In einem Interview mit Ai Weiwei verriet ein Kommentator 2011 einmal, dass er in manchen Debatten gleich mehrere Identitäten annimmt und dann einen erbitterten Streit mit sich selbst über einen Randaspekt vom Zaun bricht, damit die übrigen Disputanten vom eigentlichen Thema abgelenkt werden."

In der Zeit erklärt Boris Schumatsky mit dem Philosophen Maurizio Ferraris die "radikal postmoderne Politik" Wladimir Putins, der die relativen Wahrheiten in schlichte Lügen verwandelt habe: "Natürlich war es nicht die Philosophie, die weltweit die Berlusconis oder Putins hervorbrachte. Doch die Ablehnung von deren Lügenpolitik erfordert auch die Revision des postmodernen Habitus. Der plurale Wahrheitsbegriff der Postmoderne wird gerade in der Ukraine zerschossen. Putin erzwingt einen Rückzug in die Realität, und an die Stelle der Realpolitik tritt das Reale. Das altmodische Wagnis, den Dingen Namen zu geben."

Außerdem in der Zeit: Der Historiker Heinrich August Winkler setzt einige Hoffnung in die aktuellen weltpolitischen Krisen: Vielleicht helfen sie, "dass die westlichen Demokratien wieder erkennen, was sie im Innersten zusammenhält: ihre gemeinsamen Werte."
Archiv: Politik

Medien



Médiapart
ist ein international von Journalisten bewundertes Medium. Edwy Plenel, einst Chefredakteur von Le Monde, hat es hingekriegt, ein zahlbares Online-Magazin über Jahre im Geschäft zu halten und nebenbei in Frankreich für manche Enthüllung gesorgt. Nun hat Médiapart richtig Ärger mit dem Finanzamt: 4,2 Millionen Euro Umsatzsteuer soll der Dienst nachzahlen. Hintergrund ist eine steuerlich krass unterschiedliche Handhabung von Mediengattungen, berichtet Maxime Vaudano in Le Monde: "Plenels Informationsdienst hatte einseitig entschieden, auf sich den "superreduzierten" Satz von 2,1 Prozent anzuwenden, der normalerweise für Papiermedien reserviert ist, statt der 19,6 Prozent, die für Onlinemedien gelten. eine Entscheidung, die das Finanzamt nicht mitmachen will." Plenel vermutet politische Machinationen hinter den Nachforderungen.

Müde schreibt Frederic Schwilden in der Welt über die Tagung der Deutschen Zeitungsverleger und Angela Merkels aufmunternde Worte. Nur aus den eigenen Reihen, vom Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer SE Mathias Döpfner, hört er visionären Trost: "Eine der Ideen für den zukünftigen Journalismus: das elektronische Papier. "Wenn Papier digitales Papier wird, dann bin ich euphorisch", sagt Döpfner. Die Firma Samsung habe schon Folien entwickelt, so dünn wie Zeitungspapier, man kann sie knicken, in die Tasche stecken, aber es sind eben Bildschirme, deren Inhalt sich anpassen kann. "Wir können uns extrem freuen auf die Zukunft, denn wir haben keine Druckkosten, keine Vertriebskosten. Wir können einen gleichen und vielleicht sogar besseren Journalismus machen."

(Via Sploid) The hypnotic and relaxing beauty of paper marbling:



Die Presse berichtet über einen erstaunlichen Auftritt Kai Diekmanns bei der International Advertising Association (IAA) in Wien, wo der Chefredakteur der Bild-Zeitung ein Loblied auf die Chancen von Big Data sang: "Kai Diekmann, seit seinem einjährigen Aufenthalt im Silicon Valley ein Verfechter des Digitalen, predigte das "Überleben im digitalen Zeitalter". Er sprach im Kern drei Entwicklungen an: "Mobile, Cloud Computing und die Entwicklung des Breitbands." In Kombination führe das dazu, "dass wir in Echtzeit eine Masse an Daten analysieren können, wie es nie zuvor möglich war". Statt die Wünsche der Konsumenten nur zu erahnen, würden sie sich vorhersagen lassen. "Daten sind das neue Öl."" Und, hat Herr Döpfner jetzt schon Angst vor Herrn Diekmann?
Archiv: Medien

Geschichte

Im Aufmacher des SZ-Feuilletons widmet sich Joachim Käppner der nationalsozialistischen Vergangenheit ehemaliger SZ-Redakteure, die von neuen Forschungen belegt wird, etwa jene des früheren Innenpolitik-Chefs der SZ, Hans Schuster: "Im Gewand einer seriös tuenden Studie erklärt er die Juden zu einer Rasse, mit der es keinen Ausgleich geben könne. Assimilieren sie sich, wie in Westeuropa, hat "das Weltjudentum" sein Ziel erreicht, diese Länder zu "durchsetzen". Bleiben sie als Minderheit für sich, bedeutet ihre Anwesenheit eine Gefahr, ja eine "Lebensfrage" für die jeweilige Nation. Schuster rügt sogar den in Rumänien virulenten Antisemitismus - weil er nicht scharf genug sei und in den Juden bloß eine nationale oder religiöse Minderheit sehe".

Weiteres: In der NZZ beschreibt Marc Zitzmann das Große Gedenken an den "Großen Krieg" in Frankreich. Ebenfalls für die NZZ liest Judith Leister Holm Sundhaussens Biografie Sarajewos, die unter anderem ein nicht ganz so idyllisches Bild des "multikulturellen" Sarajewo zeichnet.
Archiv: Geschichte

Ideen

In der Zeit ist die Philosophin Eva-Maria Engelen empört, dass niemand in Europa Forschungsgelder für die Herausgabe der philosophischen Schriften Kurt Gödels geben will: "Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Ist es der Unwille, eine alteuropäische, rationale Metaphysik zutage zu fördern?"
Archiv: Ideen
Stichwörter: Metaphysik

Gesellschaft

In der Berliner Zeitung fragt Thomas Schmid, weshalb junge Europäer in Syrien für ein Kalifat kämpfen. Die Antwort des französischen Islamforschers Olivier Roy: "Roy konstatiert einen Nihilismus in der jungen Generation, eine Faszination, die vom Tod ausgeht. Al-Qaida und der IS böten diesen Jugendlichen ein heroisches Narrativ an und gäben ihnen die Garantie, dass sie in die Schlagzeilen kämen."

In der Zeit versuchen Annabel Wahba und Jana Simon zu verstehen, warum sich junge Frauen in Deutschland vom IS angezogen fühlen: "Für manche junge Frau, gerade für diejenigen, die aus traditionell-konservativen Einwandererfamilien stammen, bedeutet die Ausreise auch eine Emanzipation - von ihren Eltern und deren patriarchalischer Kultur, in der Jungs fast alles dürfen und Mädchen nichts. "Für diese Mädchen ist Salafismus fast wie eine Befreiung, so eigenartig das klingt", sagt die Islamismus-Expertin Claudia Dantschke. "Dort gelten Einschränkungen für beide Geschlechter, was die Mädchen als gerechter empfinden. Sie emanzipieren sich mit ihrem neu erworbenen islamischen Wissen von autoritären Vätern.""

Außerdem in der Zeit: Maxim Biller findet Antisemitismus total langweilig und regt sich dann eine Seite lang darüber auf. Und die Soziologin Cornelia Koppetsch erklärt im Interview den Rückzug der bürgerlichen Mitte in Konformismus und familiäre Komfortzone mit den Unbilden der Globalisierung.
Archiv: Gesellschaft

Europa

Anders als die schottische Independence-Fraktion, die sich gegen den Thatcherismus profilierte, denken die katalanischen Separatisten, schreibt Rosa Regàs in der NZZ über den katalanischen Regionalpolitiker Jordi Pujol, der jetzt wegen Steuervergehen Probleme hat: "Er gründete eine rechtsgerichtete Partei, die Convergencia i Unió (CiU), die noch heute Katalonien regiert und 1980 die katalanischen Parlamentswahlen gewann. Die Katalanen schenkten ihm ihr Vertrauen, er gewann die folgenden sechs Wahlen und regierte 23 Jahre als ihr Präsident."
Archiv: Europa

Kulturpolitik

In einem Anfall von Schizophrenie hat sich Dankwart Guratzsch für die Welt ein Pro und Contra zur Berliner Stadtplanung genehmigt. Das Pro (die DDR ist an allen Baustellen schuld) überzeugt nicht halb so wie das Contra: "Wir laden ein zu Baustellenbesichtigungen, Baustellenwanderungen, Baustellenausflügen. ... In Mitte bieten wir Baulöcher schon heute in Hülle und Fülle zum vertiefenden Berlinerlebnis an. Berlin ist Weltumbauhauptstadt und will ins Guinessbuch der Rekorde. Alles zumachen. Alles gleichzeitig. Alles so lange wie möglich. Der Weg ist das Ziel. Ergebnisse langweilen."
Archiv: Kulturpolitik