9punkt - Die Debattenrundschau

Diese smarten Diktaturprofis

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.12.2014. Laut turi2 gibt es einen neuen Chefredakteur beim Spiegel. Helga Hirsch ruft dem Rapper Haftbefehl und der Presse, die ihn liebt, in der Zeit ein kräftiges "Zeig deine Eier, du Pussycat" entgegen. Sascha Lobo graut in seiner Spiegel-Online-Kolumne vor den Wohlverhaltens-Apps der Versicherungsindustrie. Die Berliner Zeitungen ächzen laut vernehmnlich: Die Sanierung der Staatsoper kostet nicht nur 93 Millionen Euro mehr als bekannt, sie wird auch erst nach drei, nein fünf, ach, äh, sieben Jahren abgeschlossen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.12.2014 finden Sie hier

Gesellschaft

Helga Hirsch zeigt sich in der Zeit empört über den Rapper "Herrn Haftbefehl", der im Spiegel nach dem gewaltsamen Tod von Tugce A. kurz seine Reime ein bisschen in Frage stellte - der Täter ist offenbar ein Fan von Haftbefehl. Hirsch wundert das nicht. Wütend fragt sie: "Wie kann es sein, dass selbst seriöse Zeitungen wie die Zeit Herrn Haftbefehl feiern als "deutschen Dichter der Stunde"? Seine Sätze schaffen einen Assoziationsrahmen, der übelste Stereotype bedient und Verachtung, Verachtung, Verachtung predigt: Gegen unser Land - "Germany, ich fick dich in den Hals à la Drittes Reich". Gegen Frauen - "Zeig deine Eier, du Pussycat / Fick eins gegen eins". Gegen Juden - jüdische Juweliere, "Diamantenhändler" als magere Geschöpfe im Fond eines amerikanischen Straßenkreuzers, im schwarzen Kaftan, mit wehenden Schläfenlocken, eine Flasche Dom Pérignon in der Hand, betrunken in die Kamera lachend."

Tugce A. hatte sich an dem Abend, an dem sie sich schützend vor zwei Mädchen stellte und dafür mit ihrem Leben bezahlte, mit Freundinnen in einem Burger-Restaurant Geburtstag gefeiert. Ohne Mann! Das Zeit-Feuilleton ist baff: Ein Premium-Single!! Dieses Phänomen wird dann gleich in mehreren Artikeln und in einem Interview mit Barbara Vinken untersucht.

Sascha Lobo macht sich auf Spon Sorgen. Die ersten Krankenversicherer sind dazu übergegangen, jenen Kunden einen Rabatt zu gewähren, die durch überwachende Apps beweisen, dass sie gesund leben: "In der direkten Folge wird das Verhalten im Alltag ökonomisiert. Jede Entscheidung bekommt potenziell ein Preisschild, die Entscheidung für einen Bungeesprung ebenso wie die für eine Vollbremsung im Auto. Das ist kein Zufall, sondern sogar Kern der Absicht. ... Freiheit gut und schön, aber man muss den Leuten schon deutlich zeigen, dass jede Entscheidung wirtschaftliche Folgen hat. Hier offenbart sich das wahre Wesen des "libertären Paternalismus"".

Dass er damit nicht falsch liegt, zeigt ein Gerichtsurteil, auf das man derzeit in Britannien wartet. Eine Mutter, deren Kind mit einem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) geboren wurde, war vom Bezirksamt angeklagt worden, während ihrer Schwangerschaft mit ihren Trinkgewohnheiten kriminell ihr Kind gefährdet zu haben. Der Kläger wertete das Trinken als versuchten Totschlag, berichtete der Guardian: "The British Pregnancy Advice Service (Bpas) and the Pro-life Research Unit have intervened in the case. Similar cases in the US have led to women being jailed." Wer glaubt, das könne ihn oder seine Familie nie betreffen, sollte vielleicht noch diesen Bericht bei Spon lesen: Babys übergewichtiger Mütter haben ein höheres Risiko, kurz nach der Geburt zu sterben, behauptet eine neue schwedische Studie. Also esst keine Kekse, sonst kommt das Sondereinsatzkommando der Krankenversicherung.

Die Sexualkundlerin Karla Etschenberg wendet sich im taz-Gespräch mit Jan Feddersen (wie schon zuvor in der Jungen Freiheit) gegen die "Sexualisierung" von Jugendlichen im Sexualkundeunterricht und möchte, dass mehr an den Zweck der Sache - die Fortpflanzung - erinnert werde. Auf die Frage, ob Sex damit nicht auf Heterosexualität reduziert wird, antwortet sie: "Jedenfalls kann man um diesen Kern herum Kindern und Jugendlichen erklären, was Sexualität ursprünglich bedeutet, und dann die Augen öffnen dafür, wie variationsreich der Mensch mit der Energiequelle Sexualität umgeht."

Gleich in drei Artikeln schaut das SZ-Feuilleton auf Deutschland als Einwanderungsland. Andrian Kreye fordert auf, die Flüchtlinge aus Syrien, die häufig sehr qualifiziert seien, willkommen zu heißen. Gustav Seibt schaut in der SZ auf die Geschichte der Einwanderung, vor allem aber jahrhundertelange Auswanderung aus Deutschland zurück. Und Roland Preuss stellt mit Blick auf die Studie "Deutschland postmigrantisch" der Humboldt-Universität fest, dass die Deutschen das Bild von ihrem Land und seinen Einwanderern dringend überholen sollten, denn: "Deutlich wird, dass das Bild, das sich die Gesellschaft von sich selbst macht, wenig mit der Einheit der Verschiedenen zu tun hat, die in klassischen Zuwanderungsstaaten wie den USA hochgehalten wird. Es ist eine Einheit gegen die Verschiedenen."
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Internet

Auch den Prozess um Google Books gibt es noch. Laut Jeff John Roberts in Gigaom lief eine Anhörung vor Gericht nicht gut für die klagende Author"s Guild: "In einem vollbesetzten Gerichtssaal in Manhattan Mittwoch Nachmittag im Second Circuit Court of Appeal schienen die Richter dem Vorwurf der Author"s Guild, dass das Scannen der Bücher nicht als Fair Use gelten dürfe, weil Google davon profitieren könnte, nicht viel Gewicht beizumessen. "Klassische Fälle des Fair Use sind kommerziell", sagte Circuit-Richter Perre Leval. "Ich wäre überrascht, wenn Sie diesen Fall gewinnen, indem sie nachweisen, dass Google wie die New York Times gewinnorientiert ist.""

Es gibt einiges, worüber die EU mit Google reden sollte, aber das ständige Gerede von der "Zerschlagung" findet Götz Hamann in der Zeit äußerst unglücklich: Der Schutz der Unternehmen vor staatlicher Willkür unterscheide die EU von Russland, wo das Parlament "derzeit eine Verstaatlichung von Tochterfirmen westlicher Konzerne in Erwägung zieht". In der FAZ verweist Adrian Lobe auf einen Forbes-Bericht über den Interessenkonflikt, der entsteht, wenn Medien wie Buzzfeed von den gleichen Investoren finanziert werden wie zum Beispiel der Taxi-Konkurrent Uber.
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Medien

Es gibt einen Nachfolger für Wolfgang Büchner als Chefredakteur, behauptet turi2 heute morgen. Es handelt sich um Klaus Brinkbäumer, der schon seit 1993 in der Redaktion des Print-Spiegel arbeitet: "Die Machtfülle von Büchner, der Print und Online beim Nachrichtenmagazin zusammenführen sollte, wird Brinkbäumer vorerst nicht haben. Selbst die schwierige Konstruktion einer Doppelspitze mit einem Mann (oder einer Frau) von extern an Brinkbäumers Seite wird erwogen."

(Via Netzpolitik) Golem berichtet über eine Bundestagsanhörung entsetzter Experten zum Leitungsschutzrecht. Kritisiert wurde auch das Verhalten der VG Media, die Google gegenüber anderen Suchmaschinen bevorzugt , um weiterhin Linkjuice zu erhalten: Nach Ansicht des Rechtsprofessors Thomas Hoerens "darf die VG Media rechtlich dem Suchmaschinenkonzern Google keine Gratislizenz erteilen, wie Ende Oktober geschehen: "Einen Freifahrtschein einer Verwertungsgesellschaft kann es überhaupt nicht geben." Das Vorgehen der VG Media sei ein Armutszeugnis und die Erklärungen dafür "sehr befremdlich"."

In der Zeit stellt WDR-Intendant Tom Buhrow vage einen finanziellen Reformkurs seiner Anstalt in Aussicht, um dann die Printverlage zu bitten, nicht so viel gegen die Öffis zu schießen und statt dessen lieber gemeinsam Google zu attackieren. Und Alexander Cammann erwartet sich von einem neuen FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube eher "eine Phase der Konsolidierung".
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Geschichte

Abgedruckt ist in der Zeit ein Auszug aus den Erinnerungen Klaus Harpprechts: Wie der Krieg Anfang 1945 für mich zu Ende ging.
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Europa

Angst vor Deutschland? Der französische Schriftsteller und Präsidentenberater Alain Minc winkt im Interview mit der Zeit ab: "Jeder weiß um das deutsche Demografieproblem. Die deutsche Konkurrenzfähigkeit wird aufgrund der zahlreichen Lohnerhöhungen, die auch auf einem Arbeitskräftemangel gründen, unvermeidlich nachlassen. Die absurde deutsche Energiepoliitk trägt ihren Teil dazu bei. Schließlich werden die Chinesen irgendwann selbst lernen, wie man Werkzeugmaschinen herstellt. Deutschland hat seinen Zenit überschritten." Putin besorgt den Rest, ist er überzeugt.
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Stichwörter: Demografie, Minc, Alain

Politik

Wolf Biermann schreibt in der Welt einen Brief an einen Freund, den ehemaligen Politiker des Neuen Forums, Matthias Büchner und macht seiner Resignation und Abscheu gegenüber der möglichen Wahl Bodo Ramelows zum Thüringer Ministerpräsidenten Luft. Die "Thüringer Würstchen" warnt er: "Mich widert es an, wenn die Funktionäre der Linkspartei im Parlament populistische Sprüche klopfen und alle anderen belehren wollen über Freiheit, über Frieden, über Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Diese vier Begriffe bilden ja den Glutkern unserer Gesellschaft. Und genau auf diesen Gebieten haben diese smarten Diktaturprofis weder Kompetenz noch Verdienste. Die Freiheit haben Gysi und seine Genossen jahrzehntelang systematisch geknebelt. Sie haben diverse Kriege verteidigt, befördert und 1968 auch mitgemacht. Sie haben die Demokraten verachtet und geächtet."

Weitere Artikel: John Kornblum, amerikanischer Botschafter in Berlin a.D. antwortet in der FAZ auf die in der gleichen Zeitung erschienene, von dem Blogger Stephan Richter verfasste Liste von 45 Gründen für den Niedergang Amerikas. Erstaunt stellt er fest: "Unser Hauptproblem scheint letztlich darin zu bestehen, dass wir nicht deutsch sind." In der NZZ beschreibt Andrea Köhler die unterschiedlichen Versionen des Tathergangs in Ferguson.

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Überwachung

Im FAZ-Interview mit Ursula Scheer spricht der Enthüllungsjournalist Glenn Greenwald über seine Begegnung mit Edward Snowden, die Folgen des Überwachungsskandals, Google und das Internet, an dem er, vielleicht zum leichten Unbehagen dieser Zeitung, auch etwas Gutes findet: "In einem Punkt hat das Internet den Journalismus verändert, und zwar zum Guten: Früher zählte die Marke einer Publikation. Deren Regeln musste man sich unterwerfen. Heute zählen die Individuen, die einzelnen Journalisten - sie sind die Marke."



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Kulturpolitik

Die Sanierung der Berliner Staatsoper wird nicht nur 93 Millionen Euro teurer als bisher geplant, berichtet der Tagesspiegel, sie wird auch später fertig als geplant, nämlich erst 2017/18: "Also nicht nach drei Jahren Sanierungszeit wie zunächst angekündigt, auch nicht nach fünf Jahren, wie dann korrigiert. Sondern erst nach sieben Jahren." Und Kerstin Krupp stöhnt in der Berliner Zeitung: "Von Anfang an wurden die wahren Kosten verschleiert und offenbar schlampig erstellte Berechnungen veröffentlicht." Vielleicht hätte die Presse nachfragen sollen?

 

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