9punkt - Die Debattenrundschau

Der Meinungsfreiheit zumindest ebenbürtig

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.01.2015. In der Zeit kritisiert Art Spiegelman die New York Times und andere Zeitungen, die Charlie Hebdo-Zeichnungen zensieren. Überall wird über Blasphemie diskutiert. Neu ist, dass Intellektuelle und Redakteure sich inzwischen offensiv zu Selbstzensur bekennen, meint Thierry Chervel im Perlentaucher. In Le Monde marschiert Alain Badiou mit der roten Fahne gegen alle Faschismen. Wird sich das Humboldt-Forum mit dem Haus der Kulturen vertragen, fragt die Welt. Alphablogger Andrew Sullivan hört auf und erklärt warum.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.01.2015 finden Sie hier

Europa

Im Gespräch mit Michael Naumann in der Zeit geißelt Art Spiegelman die Scheinheiligkeit amerikanischer Zeitungen, die aus Rücksicht auf ihre Leser die Charlie-Hebdo-Karikaturen nicht abdruckten. Doch auch Frankreich oder Deutschland machen sich für ihn der Scheinheiligkeit schuldig, weil sie antisemitische Äußerungen oder die Leugnung des Holocaust verbieten: "Wenn man anfängt, gegenüber einer Gruppe vorsichtig zu sein und Rücksicht zu nehmen und gegenüber anderen nicht, dann ist es schon vorbei mit der Meinungsfreiheit... Was auch immer die juristisch-schoalstische Logik dahinter ist, antisemitische Meinungen zu verbieten - es ist verrückt. Alles, was man damit tut, ist, die Außenseiter in den Banlieues weiter zu unterdrücken, diejenigen, die keinen Ausweg haben."

Thierry Chervel schließt seine kleine Artikelreihe zur Kritik an den Zeichnungen in Charlie Hebdo und setzt sich unter anderem mit der neuen Bildpolitik der New York Times auseinander, die Signalcharakter hat: "Die neue Qualität nach den Pariser Massakern ist eigentlich nicht, dass die Zeichnungen nicht gedruckt würden. Bei den dänischen Karikaturen vor acht Jahren war die Schüchternheit eher noch größer. Neu ist, dass Redakteure und Intellektuelle offensiv, ja geradezu programmatisch nach Argumenten für die Selbstzensur suchen. Überall ist plötzlich von "Redaktionslinien" die Rede. Der "Respekt vor Religion" ist jetzt ein Prinzip, das dem der Meinungsfreiheit zumindest ebenbürtig ist."

Gegen die überall aufploppenden Plädoyers zur Selbstbeschränkung der Meinungsfreiheit schreibt Alexander Kissler bei Cicero: "Ich bin kein Freund der Blasphemie. Meistens ist sie das Resultat einer intellektuellen Unreife und eines grundlegenden Mangels an Umgangsformen. Auch geistige Pöbelei ist rüpelhaft, Spott ziert keinen Ehrenmann. Doch wenn ich die Wahl habe zwischen einer freien Gesellschaft, in der Spott und Unreife um der Freiheit willen geduldet werden, und einer Gesellschaft, die aus Angst einen islamophilen Schutzwall errichtet und so sich selbst kasteit, dann ist meine Wahl klar: Ich ziehe die freie Gesellschaft mit all ihren Abgründen vor."

Beim Ausmessen von Meinungsfreiheit kommt es offenbar auf deren Feind an, konstatiert Rüdiger Schaper im Tagesspiegel: "Auf den mutmaßlichen Hacker-Angriff aus Pjöngjang hat das Weiße Haus scharf reagiert, an der Trauerfeier der Millionen in Paris mit etlichen Staatsgästen nahm kein hochrangiger Politiker aus Washington teil."

Henryk Broder wendet sich in der Welt gegen den Juraprofessor Christian Hillgruber, der in der FAZ vorschlug, die "Diffamierung von Religion" juristisch zu verbieten (unser Resümee): "Eine Kausalität zwischen "Religionsdiffamierung" und mangelnder Bereitschaft zur Integration herzustellen bedeutet eine Aufforderung an die Mehrheitsgesellschaft, sich an die Regeln der Parallelgesellschaften anzupassen."

Weil ihre Arbeit nicht mehr nur von ihrer Zielgruppe, sondern, durch das Internet verbreitet, in aller Welt wahrgenommen wird, müssen satirische Zeichner inzwischen immer damit rechnen, ungewollte Reaktionen hervorzurufen, meint Marc Zitzmann in der NZZ: "Der Anschlag auf Charlie Hebdo zeugt - auch - von der tragischen Unmöglichkeit für ein Nischenprodukt, im Zeitalter der globalen Vernetzung ungestört in seiner Nische zu leben... Den Zeichnern von Charlie Hebdo wird so eine Verantwortung aufgebürdet, deren Last für sie schwer auszuhalten ist."

Weiteres: In der SZ porträtiert Hakan Tanriverdi auf Seite 3 den Berliner Imam Taha Sabri, der in klaren Worten gegen den Terror einsteht.
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Ideen

Nein, so richtig an die Republik glauben will der kommunistische Philosoph Alain Badiou auch nach den Pariser Massakern und der großen Demo in Paris nicht und schreibt in Le Monde: "Es gab in Frankreich immer zwei Arten von Demonstrationen, jene unter der roten Fahne und jene unter der Trikolore. Glauben Sie mir: Auch um diese kleinen faschistischen und todbringenden Banden zu bekämpfen, ob sie sich zu extremen Formen des Islam, auf die französische Nation oder die Überlegenheit des Westens berufen - es sind nicht die Trikoloren, die uns von unseren Herren gereicht werden, die da wirken. Es sind die anderen, die roten Fahnen, die man zurückholen muss."
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Stichwörter: Badiou, Alain

Politik

Nachdem die Kurden in Kobane den Islamischen Staat erfolgreich abgewehrt haben, ist es an der Zeit, das PKK-Verbot aufzuheben, fordert Deniz Yücel in der taz: "Es ist an der Zeit, die schizophrene Situation zu beenden, dass die amerikanische Luftwaffe mit PKK-Kämpfern zusammenarbeitet und die US-Regierung den "kurdischen Kämpfern und denen der Freien Syrischen Armee" dankt, diese kurdischen Kämpfer aber nicht beim Namen benennen kann, weil die PKK auch in den USA als Terrororganisation gilt. Es ist an der Zeit, dies zu ändern. Wenigstens hier kann sich Deutschland nützlich machen."

Letzte Woche kam Hoffnung auf, dass dem saudischen Blogger Raif Badawi wenigstens ein Teil seiner drakonischen Strafe erlassen werden könnte. Bis die öffentliche Auspeitschung nicht offiziell aufgehoben ist, richtet die Zeit eine wöchentliche Kolumne ein. In der erster Ausgabe spricht Mohamed Amjahid mit Badawis in Kanada lebender Ehefrau Ensaf Haidar, die sich gegen den Vorwurf der Blasphemie verwahrt: "Mein Mann hat niemals etwas gegen den Islam oder irgendeine andere Religion gesagt oder geschrieben. Er hat immer nur die "Männer der Religion" kritisiert, die den Glauben der Menschen für ihre Zwecke ausnutzen. Er hat das System kritisiert. Es gibt kein Gesetz, das es verbietet, die Verhältnisse zu kritisieren, sogar in Saudi-Arabien nicht."

Weiteres: Der Südasienforscher Axel Michaels schildert in der FAZ die schwierige politische Lage in Nepal, das die Interessen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in eine neuen Verfassung austarieren will.
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Kulturmarkt

Christopher Schmidt sieht in der SZ eine ganze Generation von Alphatieren im Kulturbetrieb abtreten ("Unter den Old Boys des deutschen Kultur- und Geisteslebens gehört die Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz, die nun ihren Rückzug aus dem operativen Geschäft angekündigt hat, zweifellos zu den härtesten Kerlen"). Für die Zeit besucht Alexander Cammann den Verleger Wolfgang Beck und seinen Sohn Jonathan, die die Übergabe der Leitung des C. H. Beck Verlags von der sechsten zur siebenten Generation vorbereiten.

Weiteres: Das Blog Deutsche-Startups.de meldet, dass der Berliner E-Book-Pionier txtr in die Insolvenz gegangen ist.
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Überwachung

Vor fünf Monaten hatte Innenminister Thomas de Maiziere noch angekündigt, Verschlüsselung zu fördern, um Bürgen Sicherheit zu geben. Nun kündigt er das genaue Gegenteil an - zur Empörung Sascha Lobos in seine Spiegel-online-Kolumne. Und sie ist nicht die einige: "Kurz zuvor hatten der britische Premier Cameron, dessen Namen man nicht in einem Satz mit "Rechtsstaat" verwenden sollte, wie auch Barack Obama scharf gegen die Verschlüsselung geschossen. Eine international konzertierte Aktion also, die den Auftakt bilden könnte zu einem neuen "Crypto War". So nannte die Hackerszene in den Neunzigerjahren den Feldzug vor allem der US-Regierung gegen die Verschlüsslung selbst."

"2015 muss auch ein Jahr des Datenschutzes in Europa werden", fordert Justiz- und Verbraucherschutzminister Heiko Maas in einem Gastbeitrag auf Zeit Digital und skizziert ein neues europäisches Datenschutzrecht: "Wir müssen Privatheit schützen und die Selbstbestimmung stärken, das neue Recht muss tatsächlich für alle in Europa gelten und es muss in der gesamten EU auch einheitlich durchgesetzt werden."

Weiteres: Patrick Bahners berichtet in der FAZ von einem Prozess gegen einen Whistleblower, der dem New York Times-Reporter James Risen Informationen gab und nun mit Gefängnis rechnen muss. Ebenfalls in der FAZ fordern die Informatiker Thomas Hofmann und Bernhard Schölkopf gesetzlich verankerten Schutz gegen Big Data.
Archiv: Überwachung

Geschichte

"Die Platzhirsche aus der Geschichtswissenschaft waren eher rar vertreten", stellt Jan Feddersen in der taz mit Blick auf die überwiegend jungen weiblichen Vortragenden auf der 5. Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung in Berlin erfreut fest. Mit dem Generationenwechsel geht auch ein Perspektivwechsel einher: "Als fruchtbar erwiesen sich vor allem die damals gesammelten Berichte: Dokumente der Oral History, von der offiziellen Geschichtsschreibung als untauglich verworfen. Was können Opfer schon berichten, wenn man doch besser die Strukturen politischer Herrschaft klärt?"
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Internet

Andrew Sullivan, dessen The Daily Dish gewissermaßen das Alphablog der Alphablogs ist, hört auf und begründet es in einem Blogpost. Einer der Gründe ist, "dass ich vom digitalen Leben genug habe und in die eigentliche Welt zurückkehren möchte. Ich bin ein Mensch, bevor ich ein Autor bin und ein Autor, bevor ich ein Blogger bin. Und obwohl es eine Freude und Privileg war, Pionier einer neuen Form des Schreibens zu sein, habe ich Sehnsucht nach anderen, älteren Formen. Ich möchte wieder langsam und gründlich lesen. Ich möchte schwierige Bücher absorbieren und sie eine Weile mit mir herumtragen."
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Stichwörter: Blogger, Sullivan, Andrew

Gesellschaft

Wegelagernde Polizisten, Selbstjustiz übende Bonzen - in Russland ist die Straße ein Modell für gesellschaftliche Machtverhältnisse, erklärt die Schriftstellerin Sonja Margolina in der NZZ: "Der "Hochadel", also Neurussen und Banditen, liefert sich Statusschlachten und riskiert dabei schwere Unfälle. Je protziger das Auto, desto mehr Freiheiten nehmen sie sich heraus. Ein Mittelklassewagen darf den Lada an den Rand drängen und überholen, sollte aber nicht versuchen, einen BMW, Lexus oder ähnliche Luxusmarken von hinten zu bedrängen und sie zum Spurwechsel zu zwingen. Die Elite hat stets Vorfahrt."
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Stichwörter: Margolina, Sonja, Russland

Kulturpolitik

Das entstehende Humboldt-Forum wird einen Intendanten brauchen, und dieser Intendant - wird es Neil McGregor? - wird viel Geld haben wollen. Eckhard Fuhr sieht in der Welt Ärger in der Berliner Kulturwelt hochziehen: "Die Haushaltspolitiker werden also die Bestände der Bundeskultur durchforsten, und es wird nicht lange dauern, bis sie darauf stoßen, dass da hinter dem Kanzleramt in der ehemaligen Kongresshalle ein Paradiesgärtlein des Multikulturalismus blüht, das Haus der Kulturen der Welt, dessen Programm und Auftrag sehr nach Humboldt-Forum klingen, wenn auch stark verkopft und theorieselig. Dort gibt es Stellen und Mittel."
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Medien

Der Guardian hat seine Website von Grund auf renoviert und gibt es hier bekannt.
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Stichwörter: Guardian