9punkt - Die Debattenrundschau

Überhaupt keine Handlungspotenziale

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2015. Was ist nur aus der "linken Kritik" geworden, ächzt Isolde Charim in der taz. Ideen haben nichts mit Gewalt zu tun, meint Jörg Baberowski in der FAZ. Ebendort sagt Reinhard Merkel weitere Hunderte Millionen Flüchtlinge an. Die Berliner Zeitung schlägt vor, den geplanten Berliner Flughafen aufzugeben und einfach ganz neu anzufangen. Netzpolitik veröffentlicht neue Geheimdokumente aus dem BND.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.09.2015 finden Sie hier

Ideen

In ihrer taz-Kolumne liest Isolde Charim die Streitschrift "Der wunde Punkt" des österreichischen Radiomanns Thomas Edlinger und lernt, was schiefgelaufen ist mit der linken Kritik: "Sie ist zu einem leeren Ritual verkommen, einer "autoritären Besserwisserei", einer selbstgerechten Feier der eigenen, allerkritischsten Position. Vor allem in jener Form, die Edlinger als "Hyperkritik" bezeichnet. Hyperkritik - das ist jene Sackgasse, in der eine überbordende Identitätspolitik gestrandet ist. Vor lauter Partikularismen, Minderheiten und Opfersucht (wer ist das größte Opfer?) sei Kritik in einen Strudel geraten, zu einem Fetischismus der Differenz geworden, einer Versteifung auf Unterschiede."

Baschar al-Assad und der Islamische Staat sind noch gar nix, wartet erst ab, bis der Klimawandel kommt, dann gibt"s Hunderte von Millionen Flüchtlinge, kündet ganzseitig in der FAZ der Publizist und Rechtsprofessor Reinhard Merkel: "Warum sollte jemand, der einem solchen Elend entkommen will, hier und anderswo fraglos abgewiesen werden dürfen, während einem homosexuellen Mann, den sein Heimatstaat mit dem Strafrecht drangsaliert (wie es die Bundesrepublik bis 1973 getan hat), ebenso fraglos und völlig zu Recht Asyl zu gewähren ist?"

Im Interview mit Simon Strauss in der Sonntags-FAZ (jetzt online) erklärt der Historiker Jörg Baberowski, der in seiner Jugend für Pol Pot warb und sich heute etwas unklar darüber äußert: "Ich glaube, dass Ideen überhaupt keine Handlungspotenziale haben. Mit Ideen kann man Gewalt rechtfertigen, aber die Tat als solche wird ja nicht von den Vorstellungen, die man von der Welt hat, motiviert, sondern durch Aggressionen, durch Befehle, die jemand bekommen hat, durch die Tatsache, dass man Gewaltopfer ist und sich wehren muss. Das sind die Situationen, in denen Gewalt Bedeutung gewinnt. Ideologische Motive sind in diesem Zusammenhang belanglos."

In der NZZ berichtet Manuela Lenzen vom Kongress der Analytischen Philosophie in Osnabrück, wo unter anderem für die Programmierung selbstfahrender Autos getestet wurde, ob Menschen in Notsituationen eher ein Kind oder einen alten Mann überfahren.
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Politik

In der Berliner Zeitung gibt Brigitte Fehrle den Berliner Flughafen, dessen Entrauchungsanlage nicht nur nicht funktioniert, sondern auch zu schwer für die Dachkonstruktion ist, verloren: "Deshalb hilft nur: dicht machen, einmotten - und wo anders neu bauen. Es wäre nicht die erste verpfuschte Baustelle, die der Natur zurückgegeben würde."
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Internet

Nie waren Nutzer im Internet so wenig geschützt wie heute, seufzt Bernd Graff in der SZ mit Blick auf die Ashley-Madison-Affäre und die neuen Supercookies, die über Websites auf dem eigenen PC deponiert werden.
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Kulturmarkt

Oyster, ein Streamingdienst für Ebooks, macht zu, aber Google übernimmt sein gesamtes Personal, meldet Peter Kafka bei recode.net. Der einstige FDP-Politiker Hermann Otto Solms spricht sich in der Welt in seiner frischgebackenen Eigenschaft als Vorsitzender der Stiftung Eigentum gegen das Kulturgutschutzgesetz aus, auch in seiner abgemilderten Form.
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Europa

Kenan Malik analysiert in seinem Blog den Erfolg von Jeremy Corbyn und sieht ihn als Ausdruck eines populären Missbehagens an den Mainstream-Parteien, von dem bislang in Europa Rechts- und Linkspopulisten profitierten: "Was Corbyns Erfolg allerdings unterscheidet, ist, dass hier erstmals eine sozialdemokratische Partei aus dem Mainstream selbst zum Vehikel einer Politik gegen den Mainstream wird."

Der Spiegel bringt in seiner aktuellen Ausgabe (mit dem einfältigen Merkel-Cover, mehr beim Altpapier) auch ein schönes Interview mit Charlie-Zeichner Luz, dessen Band "Katharsis" über die Pariser Anschläge jetzt auch auf Deutsch erscheint. Sehr nachvollziehbar erklärt er, warum er nicht mehr bei Charlie Hebdo arbeiten kann: "Wenn ich keine Idee hatte, habe ich einfach mal angefangen jemanden zu zeichnen, gegen den ich politisch arbeiten wollte, Sarkozy, Le Pen oder andere. Das funktioniert nicht mehr. Gar nichts funktioniert mehr." Und der Spiegel pocht gar nicht auf das letzte Wort. Nach der Schlussformel ("Wir danken Ihnen für dieses Gespräch") darf Luz weitersprechen: "Nein, ich danke Ihnen. Es gut, immer wieder über die Dinge zu reden. Es ist gut, weil ich feststelle, wie viel es darüber doch immer noch sagen gibt. Auch neue Sätze, die ich noch nie gesagt habe. Das zeigt mir, dass es vorangeht. Habe ich erzählt, dass wir ein Kind bekommen? Im Dezember ist es so weit. Das Leben ist schön."

Material zum Piggate: "So so, David Cameron war jung und leichtfertig, ein Glück für ihn, dass er nicht jung, leichtfertig und arm war", schreibt Gary Younge im Guardian. In Vice fragt Sam Kris: "Is Britain ruled by a secret pig fucking cabal?" Und bei politico.eu fragt Robert Colville: "Who on earth is Lord Ashcroft?"
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Medien

Die sorgenvolle amerikanische Debatte über Adblocker geht weiter. Das schlimmste ist, dass sie so gut sind, schreibt Zeynep Tufekci bei medium.com. "Ich hatte beschlossen, keinen zu benutzen, weil ich über diese Themen schreibe und das Internet in seinem unbereinigten Zustand sehen will. Aber ich kann nicht mehr darauf verzichten, denn anders kann ich kaum noch surfen. Meine Interneterfahrung ist viel besser seit ich AdBlock plus Ghostery benutze. Niemand, der das tut, wird zurückgehen." Der Mangel an Reklame schnürt unabhängigen Internetmedien die Luft ab - Tufekci fällt nur noch ein Spotify für Inhalte ein (und scheint den niederländischen, auch in Deutschland aktiven Dienst Blendle noch gar nicht zu kennen).

(Via turi2) Der Axel Springer Verlag will für den Business Insider laut Recode.net 500 Millionen Euro hinlegen.
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Überwachung

300 Millionen Euro bekommt der BND, um seine Internetüberwachung auszurüsten. Netzpolitik.org veröffentlicht die dazugehörigen Geheimpapiere und erläutert, dass der BND von seiner Kooperation mit der NSA viel gelernt hat: "Jetzt will der BND solche Abhöraktionen auch alleine durchführen können. Die Snowden-Enthüllungen über Fähigkeiten und finanzielle Ressourcen der Five-Eyes-Geheimdienste sind für den BND keine Warnung, sondern eine Wunschliste. Der BND will "auf Augenhöhe mit den westlichen Partnerdiensten" mitspielen."
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Stichwörter: Geheimdienste, Netzpolitik, BND