9punkt - Die Debattenrundschau

Sogar an Sonntagen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2016. Nach der VG-Wort-Entscheidung versuchen nun auch die Buchverlage, ein Leistungsschutzrecht durchzusetzen - Börsenvereinsjustiziar Christian Sprang hofft im Börsenblatt auf EU-Kommissar Günther Oettinger. Die NZZ fürchtet den globalen "Digital Divide". Jacob Appelbaum wehrt sich auf Twitter sehr entschieden gegen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs. In der NZZ spricht Jean Hatzfeld über das Grauen in Ruanda.  Das AfD-Programm widerspricht dem Grundgesetz, meint Verfassungsrechtler Joachim Wieland in der taz. Und der New Yorker fragt: Warum lieben Evangelikale tote Atheisten?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.06.2016 finden Sie hier

Kulturmarkt

Das Börsenblatt meldet "Massenentlassungen" beim Berlin Verlag, der zu Piper und also zur Bonnier-Gruppe gehört. Drei Viertel der rund zwanzig Mitarbeiter sollen gehen. Der Betriebsrat protestiert gegen die lapidare Art der Kommunikation: "Die Unterrichtung der Belegschaft habe sich im Zeigen zweier Powerpoint-Folien erschöpft. Bis heute liege dem Betriebsrat keine einzige DIN A4-Seite mit schriftlicher Information zur anstehenden Betriebsänderung vor."

Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs, dass den Verlegern vom "Geistigen Eigentum" der Autoren gar nichts zusteht, obwohl die VG Wort ihnen die Hälfte der Kopierabgaben überwiesen hatte, machen die Lobbyisten starken Druck für ein Leistungsschutzrecht der Buchverlage. Börsenvereinsjustiziar Christian Sprang erläutert dazu im Börsenblatt: "Aufgrund des Umstands, dass das europäische Urheberrecht dem Urheberrecht der EU-Mitgliedstaaten übergeordnet ist, ist insbesondere ein Handeln des europäischen Richtliniengebers unabdingbar. Es ist ein gutes Zeichen, dass Digitalkommissar Günther Oettinger, in dessen Zuständigkeit das Urheberrecht fällt, bereits einen Konsultationsprozess eingeleitet hat, um eine Änderung der einschlägigen EU-Urheberrechtsrichtlinie vorzubereiten." Im ersten Teil seiner Ausführungen hatte Sprang seine Forderung nach einem Leistungsschutzrecht erläutert.
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Geschichte

Seit 1994 berichtet der französische Journalist Jean Hatzfeld immer wieder über den Völkermord in Ruanda und die Folgen, zuletzt in seiner gerade erschienenen Erzählung "Plötzlich umgab uns Stille", deren Hauptprotagonist ein Überlebender des Massakers ist. Im Interview mit der NZZ erzählt Hatzfeld, wie vollkommen irre und motivlos dieses Gemetzel war. Sogar Priester nahmen daran teil. Und die Katholische Kirche - ebenso wie die Weltöffentlichkeit - schwieg: "Das Gemetzel begann Anfang April 1994 und hielt an bis Ende Juni. Während dieser drei schrecklichen Monate hat keine katholische Autorität sich geäußert. Der Vatikan schwieg. Wenn der Papst ein Ende des Gemetzels gefordert hätte und gesagt hätte, sie sollten aufhören, ihren Nächsten zu töten, vielleicht hätten sie auf ihn gehört. Aber er schwieg, ebenso wie die Uno. Das Gemetzel und die Expeditionen, die jeden Tag, sogar an Sonntagen, in die Sümpfe unternommen wurden, um Tutsi aufzuspüren und zu töten, wurden nicht verurteilt. Allenthalben dieselbe Blindheit."

Sieglinde Geisel besucht für die NZZ in der Zitadelle Spandau eine Ausstellung der ausrangierten Denkmäler Berlins. Kernstück sind die im Zweiten Weltkrieg stark beschädigten Statuen, die Kaiser Wilhelm II. auf der Siegesallee im Tiergarten hatte aufstellen lassen. "Die Figurengruppen der Siegesallee haben denn auch einiges hinter sich: Im Rahmen der Planungen von Albert Speer, Hitlers Lieblingsarchitekten, waren sie umgesetzt worden, und nach dem Krieg forderte der alliierte Kontrollrat die Beseitigung aller Denkmäler mit militaristischem oder nationalsozialistischem Charakter. Um sie zu retten, vergrub man die noch erhaltenen Statuen 1954 beim Schloss Bellevue. 1978 wurden sie schließlich im Lapidarium Kreuzberg eingelagert."
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Europa

Das AfD-Programm widerspricht zum Teil der Verfassung, meint der Verfassungsrechtler Joachim Wieland im Gespräch mit Sabine am Orde in der taz, besonders mit Blick auf den Islam: "Man versucht, sich durch die Formulierung 'wir akzeptieren die Religionsfreiheit' abzusichern, in den Einzelheiten aber macht man genau das nicht. Die Religionsfreiheit ist im Grundgesetz uneingeschränkt gewährleistet, auch die Freiheit, diese Religion auszuüben. Dazu gehören auch die Freiheit, religiöse Gebäude zu bauen, und der Muezzinruf - solange die allgemeinen Gesetze eingehalten werden. Das Baurecht gilt für Minarette und Kirchtürme, das Emissionsschutzgesetz für den Muezzinruf und die Kirchenglocken gleichermaßen. Die Religionsfreiheit hängt nicht davon ab, dass man eine Überzeugung hat, die den Werten der AfD entspricht."
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Kulturpolitik

Andreas Kilb verfolgte für die FAZ - zumindest so weit sie öffentlich war - eine Berliner Konferenz über das syrische Kulturerbe, wo ihm klar wurde, dass man mit dem Teufel paktiert, um den Beelzebub abzuwehren: "Die russischen Flieger mögen die Symeonskirche und die unweit gelegenen 'Toten Städte', ein weltweit einmaliges Netz von Dörfern aus der Spätantike, in den Grund bomben, aber immerhin haben sie geholfen, den IS aus Palmyra zu vertreiben."
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Stichwörter: Palmyra, Syrien, Kulturerbe

Ideen

Global gesehen nimmt die Ungleichheit zwischen Armen und Reichen derzeit ab. Das sieht beim Zugang zu Informationen ganz anders aus, schreibt Adrian Lobe in der NZZ. Riesige Flecken in Afrika und Asien haben noch keinen Internetzugang, andere haben nur eingeschränkten Zugang: "Die Frage nach der Bereitstellung von Informationen ist von großer politischer Tragweite, konstituieren die zu Wissen verdichteten Informationen doch erst den mündigen Bürger. Nur wer informiert ist, kann auch legitimerweise am Gemeinwesen partizipieren. Der digital divide, das digitale Gefälle zwischen Vernetzten und Nichtvernetzten, wird von der Forschung zunehmend als Gerechtigkeitsproblem erkannt."

Außerdem denkt Lobe in einem ebenfalls lesenswerten Artikel auf Zeit online über die Frage nach, ob Programmiersprache freie Rede ist, also unter die Meinungsfreiheit fällt. So hatte Apple vor Gericht argumentiert, um sein Iphone nicht für das FBI entschlüsseln zu müssen.
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Wissenschaft

Thomas Thiel wendet sich in der FAZ immerhin nicht vollständig gegen das von der Politik immer mehr gewünschte Open Access in der Wissenschaft. Das bisherige System ist einfach eine zu große Geldverschwendung: "Das Oligopol der Großverlage (Springer, Elsevier, Wiley) erzielt damit traumhafte Gewinnmargen zwischen 25 und 35 Prozent. Und die wenigsten Daten sind bisher frei - für die Forschung ein erheblicher Nachteil. Dass dieses System abgeschafft wird, ist kein Grund zur Trauer. Die ungewollte Nebenfolge ist aber, dass im gleichen Zug die vielfältige Landschaft von kleinen und mittleren Verlagen absehbar ein zweites Mal zugunsten der Großverlage Schaden nehmen wird."
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Stichwörter: Elsevier, Open Access

Politik

Im Interview mit der Welt erklärt Stewart O'Nan, warum so viele "kleine Leute" in den USA Donald Trump unterstützen: "In der öffentlichen Wahrnehmung ist Trump ein Demagoge, der schreckliche, schrecklich dumme Sachen sagt. Aber schauen Sie sich sein Programm an, soweit ein solches Programm überhaupt sichtbar wird: Es ist liberaler als das von Ted Cruz. Oder das von Marco Rubio. Oder das von John Kasich, das auch gegen Frauen, gegen Immigranten, gegen Schwarze und gegen Schwule war. So gesehen, ist Trump fast so etwas wie ein Kompromisskandidat. Auch wenn er persönlich wie ein totales Arschloch rüberkommt." O'Nan ist allerdings auch überzeugt, dass Hillary Clinton Trump "zerstören" wird.
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Religion

Das Phänomen evangelikaler Christen, die behaupten, dass berühmte Atheisten noch auf ihrem Sterbebett zum Christentum konvertiert seien, ist nicht neu, schreibt Lawrence M. Krauss im New Yorker. Christopher Hitchens ist nur das jüngste Beispiel für eine solche Vereinnahmung (unser Resümee). Bei Darwin hatte es bereits ähnliche Gerüchte gegeben. "Kann es sein, dass Evangelikale berühmte Tote bekehren wollen, weil sie über ihren eigenen Glauben unsicher sind? Wenn sie behaupten können, dass bewunderte Intellektuelle - Darwin, Wilde, Hitchens - letztlich mit ihnen übereinstimmten, dann bestätigt das ihren eigenen Glauben."
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Überwachung

Gestern wurden Vorwürfe sexuellen Missbrauchs gegen Jacob Appelbaum bekannt, die auf einer Pranger-Website veröffentlicht wurden. Jacob Appelbaum, der aufgrund der Vorwürfe nicht mehr beim Tor-Verschlüsselungsprojekt arbeitet, wehrt sich sehr entschieden auf Twitter: "Ich glaube, diese Taktiken eines Rufmords sind für unsere Community extrem schädlich, zumal wenn man ihre hässliche Geschichte in Bezug auf Mitglieder der LGBT-Community kennt. Es schmerzt mich, dass die Community, der ich einen so großen Teil meines Lebens widmete, sich in ein derart selbstzerstörerisches Betragen hineinsteigert. Trotzdem bin ich gewillt, rechtliche Schritte zu ergreifen, um meinen Ruf gegen diese üblen Nachreden zu verteidigen. ... Um es ganz klar zu sagen: die Anklagen gegen mich wegen sexuellen Fehlverhaltens sind vollkommen falsch."

Auf Zeit online fasst Patrick Beuth die hässliche Geschichte noch einmal zusammen und hat sich auch die Webseite angesehen, auf der die Vorwürfe erhoben werden: "Ein 'FAQ' unter den Berichten legt nahe, dass die Verfasser aus verschiedenen Gründen nicht vorhaben, Strafanzeige zu stellen oder ihre Identität offenzulegen. Ob und inwieweit ihre Vorwürfe der Wahrheit entsprechen oder frei erfunden sind, lässt sich nicht feststellen."Übrigens sind nicht nur die Kläger anonym, "auch derjenige, der die Webseite eingerichtet hat, nutzt einen Anonymisierungsdienst, um seine Identität zu verschleiern", berichtet in der SZ Johannes Boie.
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