9punkt - Die Debattenrundschau

Der Autokrat will gar nicht überzeugen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.02.2017. In The Dissident prangert Jean-Pierre Bekolo die französische Politik der Frankophonie in Afrika an. In der FR wirft Martin Gehlen einen traurigen Rundblick durch die arabische Welt ein paar Jahre nach dem arabischen Frühling. Die britischen Parlamentarierer haben gegen ihre Überzeugung pro Brexit gestimmt, und der Guardian fragt sich, wessen Performance kläglicher war, die von Labour oder die der Tories. Die SZ enthüllt den Sinn der Lüge in der Autokratie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.02.2017 finden Sie hier

Politik

In einem flammenden Text kritisiert der kamerunische Autor Jean-Pierre Bekolo in The Dissident die französische Afrikapolitik, die - wie er am Beispiel des Kameruns zeigt - zum großen Teil auch eine Sprachenpolitik ist: "Die Spaltung zwischen der frankophonen und der anglophonen Bebvölkerung im heutigen Kamerun geht weit über dieses Land hinaus. In allen panafrikanischen Zusammenhängen ist das Unbehagen gegenüber den Frankophonen zu spüren. Die Frankophonen werden oft kritisiert, dass sie 'französisch' reden, um nichts zu sagen und vor allem nichts zu tun und dass sie die geringste Entscheidung hinauszögern, weil sie wissen wollen, was Frankreich denkt." Aufrechte Patrioten schreiben Kamerum darum mit "K" - denn das Land ist eigentlich von den Deutschen gegründet worden.

Martin Gehlen wirft in der FR einen lesenswerten und ausführlichen Rundblick in die arabische Welt einige Jahre nach dem Scheitern des arabischen Frühlings. Die Bilanz fällt katastrophal aus: "Nahost und Demokratie - das war noch nie eine vielversprechende Kombination. Nach Ende des Kalten Krieges 1989 und dem Fall der Mauer war die arabische Welt die einzige Staatengruppe auf dem Globus, die völlig unberührt von diesem weltgeschichtlichen Beben in ihren autoritären Bahnen fortfuhr. Das Scheitern des Arabischen Frühlings ein Vierteljahrhundert später unterstreicht den Verdacht, dass der Region fundamentale Voraussetzungen fehlen für offene und partizipatorische Gesellschaften."

Zu Sinn und Zweck von Lügen kann der China-Korrespondent Kai Strittmatter einige Erläuterungen geben: "Kurz nach Trumps Amtsantritt entspann sich in den amerikanischen Medien eine Debatte, ob man eine Lüge auch dann eine Lüge nennen solle, wenn sie aus dem Mund des Präsidenten kommt. Die New York Times tat das dann als erste Zeitung, und unter Berufung auf die Wörterbücher sagten viele: Wenn 'die Absicht zur Täuschung' dahintersteckt, dann, ja, ist das eine Lüge. Bloß: Das trifft es nicht im Falle autoritärer Persönlichkeiten und Systeme. Hier ist die erste Absicht nicht Täuschung, sondern Einschüchterung. Der Autokrat will gar nicht überzeugen - er will unterwerfen."

Außerdem: Patrick Bahners untersucht in der FAZ die genaueren Umstände der Entlassung der amerikanischen Justizministerin Sally Yates und stellt die Frage, ob sich die Gewaltenteilung in den USA angesichts des neuen Regimes bewähren wird.
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Internet

Die großen Internetuntenehmen haben die Struktur des Netzes, das auf Links basiert, schon weitgehend zentralisiert - viele nutzen das Netz nur noch per App auf dem Mobilfon. Nun machen zwei Gerichtsurteile Webseiten und Nutzer für Links verantwortlich, die sie auf andere Seiten setzen, zum Beispiel wenn diese Seiten Urheberrechtsverstöße enthalten. Svenja Bergt warnt in der taz vor einer Fragmentierung des Netzes: "Wenn Abmahnanwälte erst einmal das Potenzial der Entscheidungen erkannt haben und sich herumspricht, dass ein arglos gesetzter Link ziemlich teuer werden kann, beginnt der vorauseilende Gehorsam. Wer einen teuren Rechtsstreit vermeiden will, wird auf Links verzichten. Und wenn diese Auswirkungen nicht von anderen Gerichten mit gegenteiligen Entscheidungen gestoppt werden, dann werden die Urteile zum letzten Baustein. Zum letzten Baustein, der eine Entwicklung, die sich schon seit einigen Jahren abzeichnet, beschleunigt und schließlich zum Ende bringt. Und bei der das Netz immer mehr in Einzelteile zerfällt."

Außerdem: Zum Thema Fake News regt der Medienwissenschaftler Karl-Heinz Ladeur im Interview mit René Martens in der taz Schiedsgerichte an.
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Stichwörter: Internet, Hyperlinks, Links, Fake News

Europa

Die Linke kann nur gewinnen, wenn sie sich endlich nicht mehr von den Rechten links überholen lässt, meint Slavoj Zizek mit Blick auf die Wahlen in Frankreich in der Zeit und nennt als Beispiel Polen, wo die regierende PiS "die größten Sozialtransfers der gegenwärtigen polnischen Geschichte" unternommen hat mit einer drastischen Erhöhung des Kindergelds, kostenloser Versorgung mit Medikamenten für Menschen über 75 und einer Absenkung des Renteneintrittsalters 67 Jahren auf 60 für Frauen und 65 für Männer: "Anders gesagt: Die PiS macht in Polen das, was auch Marine Le Pen für Frankreich verspricht, nämlich eine Kombination aus Maßnahmen gegen die Sparpolitik - Sozialtransfers, von denen keine linke Partei zu träumen wagt - und einer Vision von Ordnung und Sicherheit, die die nationale Identität bekräftigt und mit der Bedrohung durch Einwanderung fertigzuwerden verspricht. Wer kann diese Kombination schlagen, die zwei der großen Sorgen der gewöhnlichen Menschen unmittelbar aufgreift?"

Tayyip Erdogan ist mit der Entmachtung des willigen türkischen Parlaments schon einen Schritt weiter als Donald Trump, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Einmal ehrlich, beneidet Trump Erdogan nicht zu Recht? Verfügte doch Trump nur über dessen Kompetenzen! Dann könnten Staatsanwälte und Richter, die seine Dekrete auch nur zu beurteilen wagen, als 'Putschisten' verhaftet werden"

Das ganze Grauen der gestrigen Pro-Brexit-Entscheidung des britischen Parlaments, in der die meisten Parlamentarierer gegen ihre Überzeugung stimmten, bündelt sich in diesen paar Zeilen des Guardian: "Aber die klägliche Aufführung von Labour ist nicht der eigentliche Skandal der Abstimmung am Mittwoch, wer das behauptet, spielt das Spiel von Remain. Der eigentliche Skandal ist, dass sich die Remainer der Tory-Partei mit der bemerkenswerten Ausnahme Ken Clarkes beugten."
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Ideen

Ja, die Verfechter der Postmoderne haben den neuen Autokraten perfekt in die Hände gespielt, aber gleichsetzen möchte der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sie dann doch nicht. Er wünscht sich in der Zeit jetzt "eine wache, interventionsbereite Ideologieanalyse, um jenseits der spektakulär inszenierten Paradigmen­ kämpfe für den Wert einer offenen Gesellschaft zu streiten. Es gilt, gegen einen autoritären, bizarren Irrationalismus anzugehen, der Wahrheitsfuror und Beliebigkeitsdenken eigentümlich vermischt. Dafür ist echte Skepsis notwendig, das freie, elastische, an­tiautoritäre Denken der Postmoderne, aber eben auch ein Bestehen auf Gewissheiten und als gültig erkannten Realitäten. Realistische und postmoderne Erkenntnistheorien wären - so betrachtet - Kom­munikationsstrategien, die man im öffentlichen Raum situationsabhängig einsetzt, eben nach prak­tischen Erfordernissen. Im Anschein des Allgemeingültigen stehen sie jeweils kläglich da."

Vor zwei Wochen verteidigte Christian Staas in der Zeit die Political Correctness gegen ihre Gegner, die sie als "Totschlagargument" benutzten. PC sei heute nur ein "Stigmawort", ein "Kampfbegriff der Konservativen". Fest stehe: "Es gibt kein 'Korrektes Manifest', es existiert kein Parteiprogramm der Political Correctness, keine Allgemeine Erklärung der Korrektheitsrechte unterdrückter Minoritäten, kein Urtext, an dem sich die Ideologie der PC studieren ließe."

Das sieht Josef Joffe heute in der Zeit ganz anders: "Den Zustand der gebotenen Antidiskriminierung hat PC längst verlassen. Sie ist zum politischen Entwurf geworden, der Gesellschaft und Staat umkrempeln soll - realer geht's nicht. Wie es programmatisch und nicht als 'Taschenspielertrick' funktioniert, zeigt der Koa­li­tions­ver­trag des Berliner Rot-Rot-Grün-Senats: 'Christ' oder 'christlich" kommen null Mal vor; die LSBTTIQ* (Lesben, Schwule ...) 27 Mal. Deren 'Förderung' - Berlin als 'Regenbogenhauptstadt' - werde die 'Arbeit der Koalition bestimmen'. Dieses Faktum lässt sich ironisieren, nicht negieren."
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Gesellschaft

Anlässlich der Ausstellung "S(e)oul Food" im Zürcher Völkerkundemuseum meditiert Philipp Meier in der NZZ über die Bedeutung des Essens für Emigranten. "Mit dem Doppelbegriff entdeckte die Ethnologie eine Kulturtechnik von beträchtlicher Bedeutung. 'Soul-Food' wurde als Terminus erstmals im Zusammenhang mit der Erforschung der Südstaatenküche der ehemaligen Sklaven in den USA verwendet. Als die Sklaven in der Neuen Welt eine eigene Identität finden mussten, spielte die Küche, die sich aus Eigenem und Neuem zusammensetzte, eine wesentliche Rolle. So zeigte sich, dass während Übergangsphasen zu einer neuen Identität Minimalmuster eigener Esskultur kulturelle Sättigung ermöglichen. Soul-Food hilft, Verlorenes mit Vorgefundenem, kulinarische Erinnerung mit neuem Essen und schließlich Herkunft mit Zukunft zu verbinden."
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Stichwörter: Soul Food, Ethnologie

Medien

Der Begriff "Fake News" dient als Passepartout zur Erklärung aller nicht so ohne weiteres erklärbaren Ereignisse. Jacob L. Nelson stellt nun in der Columbia Journlism Review eine erste systematische medienwissenschaftliche Untersuchung zum Thema vor. Die Ergebnisse erstaunen: "Erstens ist das Publikum für Fake News klein verglichen zum Publikum realer Nachrichten - zehn mal so klein im Durchschnitt... Auch haben wir herausgefunden, dass das Fake-News-Publikum nicht in einer Filterblase lebt. Besucher von Fake-News-Medien besuchten Medien mit realen Nachrichten genaus so oft wie die Nutzer realer Nachrichten. Manchmal besuchten die Fake-News-Nutzer die realen News-Seiten sogar häufiger: Zum Beispiel besuchten 56 Prozent der Nutzer von Infowar im Oktober die New York Times, während nur 40 Prozent der Washington-Post-Nutzer dies taten."
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