Efeu - Die Kulturrundschau

Jenseits des Zeig­baren

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.02.2017. In der NZZ beklagt Felix Philipp Ingold die Stillosigkeit der heutigen Literatur. In der Zeit lernt Isabelle Huppert den Kompromiss. Die Presse bewundert die wie Glaskörper geschliffenen Ölbilder Svenja Deiningers. Die Berliner Zeitung lässt sich beim Club Transmediale den Metabolismus mit Infraschallbässen verwirren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.02.2017 finden Sie hier

Kunst


Svenja Deininger, Untitled, 2016, Öl auf Leinwand. Courtesy Galerie Martin Janda, Wien

Presse-Kritikerin Almuth Spiegler geht von der Ausstellung der abstrakten Malerin Svenja Deininger in der Wiener Secession in die große Biedermeierglas-Ausstellung im MAK und stellt überrascht fest, dass die beiden einiges gemeinsam haben. Deininger "ist eine Meisterin ihres Materials", schreibt Spiegler. "Als wäre das Ölbild ein durchscheinender Glaskörper wird es geschliffen, geschnitten, bemalt, es wird mit freigelassenen Stellen, mit Durch- und Aufsicht, mit Lichteffekten und achtsam gezogener Kontur gespielt, ein irreales Vakuum, in dem Abstraktion und Gegenstand gleichberechtigt nebeneinander existieren können. Im Biedermeierglas wurde dieses Spiel perfektioniert, mit völlig anderem Material, unter völlig anderen Voraussetzungen, aber derart gefinkelt, dass die Künstler des Jugendstils (Secessionisten, Kolo Moser) nach der stilistischen Sackgasse des Historismus begeistert zurückgriffen auf die Formfindungen und technischen Skills dieser Zeit zwischen 1780 und 1840 - im Ornament an sich und der Glaskunst im Speziellen, wie man im MAK jetzt durch die Parallelführung der Sonderausstellungen über Biedermeier- und Jugendstilglas selbst erforschen kann."

Besprochen werden außerdem die Schau "Unheimlich schön. Stillleben heute" im Museum moderner Kunst Kärnten (Standard) und die große Cy Twombly-Schau im Pariser Centre Pompidou (FAZ).
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Literatur

Unsere Sprache verludert, verwildert, kommt auf den Hund, klagt in der NZZ der Schriftsteller Felix Philipp Ingold. Begünstigt durch die schnelle, digitale Kommunikation nähert sich die literarische Sprache immer mehr der Umgangssprache an: "Stillosigkeit" herrst, der Kunstcharaker literarischer Sprache geht verloren. "Wenn sich Literatur jedoch als Kunst behaupten will, muss sie sich von der automatisierten Alltagsrede emanzipieren, sich merklich von ihr abheben, um im Gegensatz dazu einen eigenen Wirkungsraum zu erschließen, eine besondere Wirkungsweise zu entfalten, um als Garant für eine Sprache eigener Ordnung gelten zu können, eine Sprache, die nicht allein im Dienst des Gesagten steht. ... Nur als dichterische Rede lässt sich das Sprechen von der bloßen Informationsübermittlung, mithin von vorgegebener Bedeutung und vorgespurtem Verstehen abkoppeln. Nur so kann es zu einem Akt subjektiver sinnlicher Erfahrung werden, statt lediglich eine Mitteilungsfunktion zu erfüllen."

Weiteres: Für die NZZ unterhält sich Claudia Kramatschek mit dem indischen Autor Aravind Adiga über Kricket in Indien, das auch in seinem Roman "Golden Boy" eine wichtige Rolle spielt.

Besprochen werden Paul Austers "4321" (Tagesspiegel, FAZ), Nathan Hills Geister" (NZZ), Umberto Ecos "Pape Satàn" (Welt), Ales Rasanaus "Von nah und fern" (NZZ), Denis Johnsons "Die lachenden Ungeheuer" (ZeitOnline), Paco Rocas Comic "la casa" (taz), Mark Billinghams "Die Schande der Lebenden" (SZ) und eine Neuausgabe von Siegfried Lenz' "Deutschstunde" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Architektur

Im Interview mit dem TagesAnzeiger darf Regula Lüscher, Senatsbaudirektorin in Berlin, ihre größten Erfolge selbst vorstellen: Das Kulturforum, den Raum ums Rote Rathaus und - da wendet man sich dann schaudern ab - "Ich habe im größten Stadtentwicklungsgebiet, das ich verantworte, am Hauptbahnhof, vor dem Regierungswechsel noch alle Bebauungspläne durchs Parlament gebracht, als abgeschlossenes Paket." Genauso sieht es dort auch aus.

Besprochen wird die Walter-Pichler-Ausstellung "Radikal: Architektur & Prototypen" im Museum der Moderne in Salzburg (FAZ).
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Film


Keine Regung bleibt dem Off überlassen: Asghar Farhadis "The Salesman".

Asghar Farhadis
an Arthur Miller angelehnter "The Salesman" stößt bei taz-Kritiker Ekkehard Knörer auf gemischte Reaktionen. Einerseits balanciert der Regisseur "am Rand des vom totalitären Regime Erlaubten", schreibt er und staunt, "dass der Zensor die ausdrückliche Erwähnung des Zensors durchgehen ließ. Die Nuancen des moralischen Kräftespiels sind (...) manchmal sicher eher zu ahnen als genau zu bestimmen." Das ist durchaus gut gemacht, meint Knörer. "Es ist aber auch ein Kino, das von Überdeutlichkeiten nicht frei ist. ... Es verkörpert sich filmisch in einer redundanzreichen Schuss-Gegenschuss-Inszenierung, die keine emotionale Regung dem Off überlässt." Schwächen, die auch Andreas Kilb in seiner von der FAZ online nachgereichten Kritik erkennt. Doch sei's drum: "Einen großen Regisseur soll man nicht an seinen Meisterwerken messen, sondern an dem, was sonst noch im Kino läuft." Und da könne Farhardi ohne weiteres brillieren. Mehr Aktuelles zu Farhadi hier und dort.

"Zu leben heißt, den Kompromiss zu lernen", sagt Isabelle Huppert im Interview mit der Zeit und erklärt, was das für ihren Film "Elle" bedeutet, in dem die weibliche Hauptfigur Kontakt zu ihrem Vergewaltiger aufnimmt: "Sie schwankt zwischen Schock und Anziehung. Die Vergewaltigung führt sie zurück zu dem, was ihr Vater ihr in ihrer Kindheit angetan hat. Man könnte auch sagen: Sie verweigert sich dem Trauma, weil sie sowieso schon im Trauma lebt. Deshalb hatte ich von Anfang an beschlossen, sie als nicht emotionale Persönlichkeit zu spielen. Natürlich hat diese Frau Gefühle, aber sie befinden sich auf einer anderen Ebene, jenseits des Zeig­baren. In ­ 'Elle' geht es um mentale Zustände, um eine verstörende, brutale Erfahrung, nach der diese Frau ihre eigene Sexualität, ihr Begehren anders erleben wird. Sie bekommt ein Bewusstsein ihres Beschädigtseins durch Gewalt." In der NZZ wird "Elle" besprochen.

Weiteres: Im Freitag-Essay macht sich Georg Seeßlen Gedanken zum Verhältnis zwischen Trump und Hollywood. Im Standard spricht Dominik Kamalzadeh mit dem Regisseur Bruno Dumont über dessen absurde Komödie "Die feine Gesellschaft" (mehr dazu hier). Für epdFilm hat sich Urs Spörri auf die Suche nach dem deutschen Independentkino begeben - und es auf de Filmfestival gefunden. Im Filmdienst blickt Michael Töteberg auf Fassbinders Fernsehserie "Acht Stunden sind kein Tag" zurück, die als restaurierte Fassung bei den Berliner Filmfestspielen laufen wird. Für die WOZ hat Lukas Foerster die Solothurner Filmtage besucht, wo er sich als deutscher Gastkritiker, der mit dem Schweizer Kino bislang wenig in Berührung gekommen ist, eine "eigene Kinoschweiz" zusammengebasteltCarolin Weidner verweist in der taz auf eine Werkschau Helke Sander im Berliner Bundesplatzkino.

Die Berliner Filmkritik berichtet unterdessen aus den Vorab-Pressevorführungen der in einer Woche startenden Berlinale: Nadine Lange bringt im Tagesspiegel einen Überblick über die Filme aus dem Panorama. Ihre Kollegin Christiane Peitz war im Forum. Und für Analogfilm-Fetischisten hat Thomas Groh in seinem Blog alle 35mm-Vorführungen des Festivals zusammengesucht.

Besprochen werden Ang Lees Irakkriegs-Satire "Die irre Heldentour des Billy Lynn" (taz, FR, critic.de), Theodore Melfins "Hidden Figures" (NZZ, Tagesspiegel, Welt), Nicolas Pesces Kunst-Horrorfilm "The Eyes of My Mother" (Jungle World), der Mafiathriller "Live by Night" von und mit Ben Affleck (SZ), Klaus Martens' Dokumentarfilm "Erzähl es niemandem" über Lillian Crott Berthung (taz) und Andreas Dresens "Timm Thaler"-Neuverfilmung (NZZ, SZ).
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Bühne

Besprochen werden die die Uraufführung von Avner Dormans Oper "Wahnfried" im Badischen Staatstheater Karlsruhe (Standard) und die amerikanische Erstaufführung von Ferdinand von Schirachs Gerichtsdrama "Terror" am Colony Theatre in Miami Beach (FAZ).
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Musik

In der Berliner Zeitung berichtet Jens Balzer von seinen wilden Erlebnissen beim Berliner Festival Club Transmediale, wo es "Voodoorituale zur spirituellen Wiedererweckung eines verstorbenen hermaphroditischen Zwillings, Infraschallbässe zur Verwirrung des Metabolismus sowie nervenzerfetzenden Klanghagel von einem mumifizierten Franzosen" zu bestaunen gab.

Weitere Artikel: Unabhängigkeit ist wichtiger als Erfolg, erklärt im Interview mit dem TagesAnzeiger der Komponist Philip Glass: "Jede Anerkennung ist künstlerisch ein Desaster." Ulrich Amling berichtet im Tagesspiegel sehr embedded von Daniel Barenboims in New York aufgeführtem Bruckner-Zyklus (eine Aufnahme der Neunten Sinfonie gibt es bei medici.tv). In der NZZ resümiert Marcus Stäbler das Festival zur Eröffnung der Elbphilharmonie, wo sich mitunter "phänomenale Hörerlebnisse" boten. In einem online nachgereichten Zeit-Artikel fasst Daniel Haas die Positionen in der Debatte um den Klang des neuen Hamburger Konzerthauses zusammen. Zum Tod von John Wetton schreiben Daland Segler (FR) und Ronald Pohl (Standard).

Besprochen werden das Debüt des RnB-Musikers Sampha (Tagesspiegel) und Jace Claytons Buch "Uproot: Travels in 21st-Century Music and Digital Culture" (SZ).
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