9punkt - Die Debattenrundschau

Das bittersüße Privileg des Erwachsenwerdens

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.03.2017. Heute sind Wahlen: Zeit online bringt ein Loblied auf die Niederländer und ihre antiautoritären Reflexe. Im Perlentaucher sieht Max Thomas Mehr dagegen Emmanuel Macron als einen neuen Politikertypus. Atlantic fragt: "Warum ist das Silicon Valley so grässlich zu den Frauen?" Die SZ kritisiert das Kopftuchurteil des Europäischen Gerichtshofs, die taz findet es gut. Die Deutsche Welle begrüßt den großen Prozess gegen die rechtsextreme Terrorgruppe von Freital.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.03.2017 finden Sie hier

Internet

Kam zu spät für unsere gestrige Magazinrundschau: Der Atlantic stellt die interessante Frage "Warum ist das Silicon Valley so grässlich zu den Frauen?" Das optimistische Resümee von Liza Mundys Artikel: Das kann alles mit einem guten Diversity-Training bewältigt werden, und selbstverständlich geht Google voran. Aber in dem Artikel gibt es auch einen interessanten historischen Aspekt: "Als sich das Silicon Valley nach dem Krieg entwickelte wurde das Programmieren von Software als Routine und unglamourös angesehen, irgendwie eine Sekretärinnentätigkeit, und darum Frauensache. Die glitzernde Zukunft, so dachte man damals, lag in der Hardware. Aber sobald Software ihr Potenzial und ihrer Profitabilität zeigte, kamen die Kerls an und Programmieren wurde Männersache."

Justizminister Heiko Maas möchte mit einem neuen Gesetz die Sozialen Netzwerke unter hohen Strafandrohungen dazu verpflichten, Hass-Postings und Fake News schneller zu löschen. Damit legt er unsere Meinungsfreiheit jedoch in die Hände dieser Unternehmen, erklärt Markus Reuter auf Netzpolitik: "Für einen Nutzer, dessen Inhalte ungerechtfertigterweise gelöscht wurden, ist diese Art der Rechtsdurchsetzung allerdings ein gravierender Nachteil. Würde zuerst ein Gericht über den Inhalt entscheiden, wäre die Entscheidung vorgelagert. Bei der vorgesehenen Regelung kann der Nutzer nur widersprechen, um dann gegebenenfalls Monate oder Jahre später eine gerichtliche Entscheidung in der Hand zu halten. Die sozialen Netzwerke werden mit dem Gesetz, unter Androhung von Geldstrafen bis zu fünf Millionen Euro, dazu gezwungen, juristische Entscheidungen zu treffen."

Derweil geht auch die pakistanische Regierung verstärkt gegen die sozialen Netzwerke vor: Sie sollen "gotteslästerliche Inhalte" löschen, meldet Zeit online: "Ministerpräsident Nawaz Sharif wies das Innenministerium an, umgehend alle Seiten und Foren mit solchen Inhalten zu sperren. 'Alle Agenturen sollen aktiv versuchen, die Schuldigen zu finden und sicherzustellen, dass sie dem Gesetz gemäß bestraft werden', sagte Sharif. In Pakistan kann Blasphemie mit dem Tod bestraft werden. Sharif forderte das Außenministerium dazu auf, mit internationalen Institutionen und sozialen Netzwerken in Kontakt zu treten, um das Problem zu lösen."
Archiv: Internet

Europa

Wenig Aufregung herrscht in der Berichterstattung über die rechtsextreme "Gruppe Freital", die im Jahr 2015 in der sächsischen Stadt veritable Terroranschläge geplant hatte. Volker Wagener berichtet bei der Deutschen Welle: "Dass die Taten der 'Gruppe Freital' nun in einem großangelegten Prozess bewertet werden, ist Verdienst der Bundesanwaltschaft. Sie hat den Fall an sich gezogen und damit der sächsischen Landesjustiz eine schwere Blamage zugefügt. Das Verfahren ist ein Signal an die rechte Szene, die in der Vergangenheit nur allzu oft von Behörden verharmlost wurde. Mit dem Prozessauftakt - vorerst sind 62 Verhandlungstage geplant - wird inzwischen gegen die dritte rechtsradikale Terrorvereinigung verhandelt."

Heute sind Wahlen in der Niederlanden, wo die Parteien zu einem bunten Spektrum zerfallen sind. Überall in Europa stellt sich das Problem der geschwächten Mitte. Max Thomas Mehr sieht Emmanuel Macron in einem Perlentaucher-Essay als eine neuen Politikertypus, der sich sehr vorteilhaft von deutschen Alternativen - dem Retrodesign eines Martin Schulz oder der Minderheitenpolitik von Rot-Rot-Grün in der Stadt Berlin - abhebt: "Er versucht den Citoyen dort anzusprechen und politisch einzubinden, wo er sich bewegt, im städtischen öffentlichen Raum und nicht in den Vereinszimmern der alten Parteiendemokratie mit all ihren Funktionären. Macrons Bewegung ist der erste von einem Demokraten unternommene Versuch, die defizitär gewordene repräsentative Demokratie aus den Hinterzimmern der politischen Klasse herauszuführen, sie zu transformieren und ihr wieder zu mehr Legitimation zu verhelfen."

Auf Zeit online singt der Politikwissenschaftler Tom van de Meer ein Loblied auf die Niederländer. Die seien nämlich keineswegs zu Demokratieverächtern geworden, wie es ihnen die "Schwarzmaler" in den Medien unterstellten: Gesundes Misstrauen gegenüber den herrschenden Kräften sei schließlich urdemokratisch. "Bis in die späten sechziger Jahre sorgte die niederländische 'Versäulung' dafür, dass die meisten ihr ganzes Leben lang die Partei wählten, die gewöhnlich ihre Eltern schon gewählt hatten. Das ist heutzutage nicht mehr der Fall. Trotzdem sind die Wähler nicht launenhaft, wie Kommentatoren allzu häufig annehmen. Zwar stehen sie nicht mehr loyal zu einer einzigen Partei, aber doch zu ihren eigenen Werten. So haben sie eine begrenzte Auswahl von üblicherweise zwei oder drei ideologisch ähnlichen Parteien, die sie in Erwägung ziehen. Das ist eine Emanzipation der Wähler, keine Launenhaftigkeit."

Ralf Streck erläutert in Telepolis die Taktiken der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon und ihrer Londoner Kollegin Theresa May bezüglich eines neuen schottischen Referendums: "Sturgeon will die Schotten entscheiden lassen will, solange sie noch EU-Bürger mit allen Rechten sind (was einen Verbleib über eine Übergangsregelung deutlich vereinfacht). May dagegen will eben die Schotten zunächst mit aus der EU herausreißen, damit sie danach einen neuen Aufnahmeantrag stellen müssten. Genau das würde die Chancen wieder verringern, dass die Schotten für einen Austritt aus UK stimmen, hofft man bei den Konservativen in London."

Katie Morley erzählt unterdessen im Telegraph, auf welch rührende Weise die britische Regierung ihre Bürger auf den Brexit vorbereitet: "Online-Käufern wird möglicherweise nach dem Brexit ein 'Buy British'-Button geboten, um ausländische Produkte auszusortieren, haben Parlamentsmitglieder wissen lassen."

In der SZ kritisiert Heribert Prantl ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das einem belgischen Unternehmer, der keine Hidschabträgerin als Empfangsdame wollte, recht gab: "Es handelt sich um ein kleines Stück Stoff; dieses Stück Stoff verhüllt nicht das Gesicht, es dient nicht der Verschleierung; es ist nur ein Symbol. Aber dieses ist in den vergangenen Jahren mächtig aufgeladen worden. Darauf reagieren die EU-Richter. Sie stellen nicht die Frage, wie es so weit gekommen ist. Sie stellen fest, dass es so ist."

Simone Schmollack differenziert in der taz: "Es ist weder ein Anti-Kopftuchurteil noch eines gegen kopftuchtragende Musliminnen, sondern ein Urteil für Religionsneutralität: Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat entschieden, dass Unternehmen das Tragen eines Kopftuchs verbieten dürfen, wenn auch andere religiöse Symbole nicht erlaubt sind."

Insgesamt scheinen deutsche Firmen allerdings sehr entspannt mit dem Thema Kopftuch umzugehen, wie man diesem Bericht in der SZ entnehmen kann. Auf ein etwas schräges Ergebnis verweist Wolfgang Janisch, ebenfalls in der SZ: Mit dem Urteil des EuGH wird das Recht auf weltanschauliche Neutralität bei Unternehmern höher geschätzt als das Gebot staatlicher Neutralität gegenüber dem Bürger. Denn: "Das Bundesverfassungsgericht hat 2015 die individuelle Glaubensfreiheit höher angesiedelt als das staatliche Neutralitätsgebot - und damit eine bemerkenswerte Abkehr von seinem Urteil aus dem Jahr 2003 vollzogen."

In einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt vom Wochenende beklagt Autor Feridun Zaimoglu die Verblendung der Multikulturalisten, die mit der jüngsten Türkeikrise offenbar wurde: "Was waren wir verdutzt, als Erdogan 2010 sagte, Assimilation sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im letzten Jahr erst fragten wir uns, wohin Merkels Flüchtlings-Kuhhandel mit Erdogan führt. Und jetzt sehen wir die Denkfaulheit der Fähnchenschwenker. Dieser Hang zu Lug und Trug, dieses Anti-Aufklärerische, dieses Sich-die-Welt-schönmalen! Wenn man sich die ganze Situation als jemand betrachtet, der sich ein hohes Gut wie Freiheit nicht nehmen lassen will, dann sieht man bei vielen Türken den Willen zur Selbstbetäubung. Man sieht auch Frauen- und Minderheitenverachtung."
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Ideen

Wie man sich als Opfer inszeniert, kann man bestens von Donald Trump lernen, meint in der NZZ Daniele Giglioli, der dieser Sehnsucht nach dem Opferstatus etwas geradezu infantiles bescheinigt: "Ein Kind hat keine Pflichten, nur Ansprüche. Mehr noch, das Kind kann noch nicht einmal die Möglichkeit bedenken, nicht geliebt zu werden. Das Kind, dem die Liebe verweigert wird, ist die Quintessenz des Opfers. Sich darüber Rechenschaft zu geben, dass uns nicht alle lieben, dass nicht alle gehalten sind, uns zu lieben, ist das bittersüße Privileg des Erwachsenwerdens."

Außerdem: In der FAZ erkundet Gina Thomas die letzte Bastion der Linken in Britannien - die Universitäten und verweist auf das Free Speech University Ranking der Zeitschrift Spiked. Und auf den Geisteswissenschaftenseite der FAZ schreibt Christina Dongowski nochmal eine ganze Seite über Didier Eribons Feuilletonhit "Rückkehr nach Reims".
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Geschichte

Nomarussia Bonase arbeitet in Südafrika mit Frauen, die unter der Apartheid sexualisierte Gewalt erlebt haben. Im taz-Interview mit  Johannes Drosdowski  spricht sie nicht so begeistert über die berühmten Versöhnungskommissionen in dem Land: "Die Täter sollten vorsprechen und um Vergebung bitten. Während dieser Zeit haben wir, als gewöhnliche, nicht privilegierte Überlebende der Apartheid, gedacht: Die wollen alle Täter sprechen. Was ist mit den Opfern? Warum wurden sie nicht gerufen? Diese Täter, wen bitten die denn um Vergebung? Nur die Leute im Parlament? Ist das Gerechtigkeit? Also wurde Khulumani gegründet. Khulumani, das heißt, 'frei seine Meinung sagen'. Wir müssen erst über uns selbst sprechen, um darüber reden zu können, was für die Versöhnung getan werden kann."
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Stichwörter: Südafrika, Apartheid