9punkt - Die Debattenrundschau

Lack der Machthaber

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.03.2018. Die taz erzählt, wie sich sämtliche irische Regierungen an einer längst fälligen Reform des Abtreibungsrechts vorbeimogelten. In der NZZ zieht Slavoj Zizek Parallelen zwischen  Feminismus und islamischen Fundamentalisten. Welt und FR denken über Reformen bei den Öffentlich-Rechtlichen nach. In Polen gehen die schmerzhaften Debatten über polnischen Antisemitismus weiter, berichten die Welt und die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.03.2018 finden Sie hier

Europa

Endlich scheint per Referendum und Parlamentsabstimmung ohne Fraktionszwang in Irland eine Lockerung des totalen Abtreibungsverbots möglich. Für die taz berichtet Ralf Sotschek: "Dabei ist das Gesetz seit mehr als einem Vierteljahrhundert überfällig. 1992 hatte das höchste irische Gericht entschieden, dass ein Abbruch bei Lebensgefahr für die Schwangere zulässig sei. Dazu zählten die Richter Suizidgefahr. Das Urteil bezog sich auf eine 14-Jährige, die nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war. Das Landgericht hatte dem Mädchen die Ausreise zu einer Abtreibungsklinik in England verwehrt. Sämtliche irische Regierungen haben sich seitdem gedrückt, ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden."
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Gesellschaft

Nachklapp zum Tag der Frau: In der New York Times porträtiert Alex Hagwood die iranische, heute in Chicago lebende Modebloggerin Hoda Katebi, die sich in schickem Hidschab "gegen herabsetzende Darstellungen Hidschab-tragender Frauen" stark macht. Die BBC meldet, dass eine iranische Frau, die sich auf einen Stromkasten stellte und aus Protest ihr Kopftuch abnahm, ins Gefängnis geworfen wurde.

Slavoj Zizek sieht in der NZZ Parallelen zwischen einigen Ausprägungen des Feminismus und islamischen Fundamentalisten: Beide betrachten den Mann als Herren der Schöpfung, wie Zizek am Beispiel Monica Lewinsky, die laut eigener Zeugenaussage aus den Neunzigern das sexuelle Verhältnis zu Bill Clinton selbst initiierte, ihm später jedoch "Machtmissbrauch" vorwarf, nachzuweisen versucht: "Wenn sie behauptet, dass er es als älterer, erfahrener Mann hätte 'besser wissen' müssen und ihre Avancen hätte zurückweisen sollen - bleibt da nicht etwas Scheinheiliges in der selbst zugewiesenen Rolle eines Opfers? Muslimische Fundamentalisten argumentieren genau gleich, nur mit vertauschten Rollen: Einen Mann, der eine Frau misshandelt hat, trifft keine Schuld, weil er insgeheim von dieser verführt wurde."
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Ideen

Eine einheitliche Aufklärung hat es nie gegeben und angesichts von Weltkriegen, Holocaust oder Sklaverei muss man sich fragen, ob man die europäische Kultur überhaupt als aufgeklärt bezeichnen könne, schreibt Urs Hafner in der NZZ. Die gegenwärtige Anrufung der Aufklärung diene nur der "Selbstvergewisserung", meint er: "Aufgeklärt sind 'wir', unaufgeklärt 'die Anderen'. Oft heißt es: Weil das Abendland die Aufklärung durchlaufen habe, sei die westliche Gesellschaft freiheitlich, tolerant, individualistisch, humanitär - und christlich. 'Der Islam', der dies alles nicht sei, brauche daher dringend eine Aufklärung, er müsse den Rückstand aufholen. Sämtliche Differenzen innerhalb der arabischen und islamischen Welt verschwinden in dieser einfältigen Sicht."
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Geschichte

Noch vor dem "Madagaskar-Plan" der Nazis, hatte die polnische Regierung 1937 die Idee, Hunderttausende polnische Juden auf die Insel auszusiedeln, schreibt der US-Historiker Peter Hayes in seinem Buch "Warum? Eine Geschichte des Holocaust". Ist es nach dem neuen polnischen Holocaust-Gesetz nun strafbar, darüber zu schreiben, fragt Sven Felix Kellerhoff in der Welt und nennt weitere von Hayes auf Grundlage verschiedener Quellen zusammengetragene Beispiele für polnischen Antisemitismus: "Aufgrund judenfeindlicher Übergriffe an Polens Universitäten ging die Zahl jüdischer Studenten von 1928 bis 1938 um fast zwei Drittel zurück, von 20,4 auf 7,5 Prozent. Ab 1937 gab es für Juden unter den Studenten speziell gekennzeichnete Sitzbänke in den Hörsälen. Juden verloren alle Funktionen in Geschäften der staatlichen Monopolverwaltung wie dem Tabak-, Alkohol- und Bauholzhandel. Fast alle jüdischen Mitarbeiter der nationalen und kommunalen Verwaltung wurden entlassen oder zum 'freiwilligen' Ausscheiden gedrängt, ebenso bei Eisenbahn und Post."
 
Polen gedenkt derweil der antisemitischen Kampagne, die 1968 Tausende Juden in die Emigration trieb, schreibt Florian Hassel in der SZ: "Der Kattowitzer Parteichef Edward Gierek hetzte am 14. März 1968 vor 100.000 Menschen gegen 'Revisionisten und Zionisten, die dem Imperialismus dienen'; KP-Chef Gomułka sagte in einer vom Fernsehen übertragenen Rede am 19. März, dass solche, deren Loyalität Israel gelte, in Polen nichts verloren hätten - der geifernde Saal schrie: 'Gleich!' und 'Noch heute!' Tausende polnische Juden verloren ihre Arbeit. 'Ende mit dem Judentum! (…) Wer Jude ist, hat heute nichts in Polen verloren!', erklärte ein Beamter des Kulturministeriums, nachdem dessen jüdischer Generaldirektor Stanisław Neumark aus der Partei ausgeschlossen worden war. Viele polnische Juden, vor allem ältere, fürchteten wieder um ihr Leben." Hassel weiter: "Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bekräftigte indes, er wisse nicht, warum Polen sich entschuldigen solle, (…) Polens Juden seien keine Fremden gewesen, alle antisemitischen Kundgebungen seien 'von der kommunistischen Macht vorbereitet' worden."

Ergänzt: Etwas umständlich bat der polnische Präsident Andrzej Duda am Donnerstag die Opfer um Verzeihung, meldet die FAZ: "Duda sagte zunächst, das 'heutige freie, unabhängige Polen, meine Generation, trägt dafür keine Verantwortung und muss nicht um Vergebung bitten'. Er fügte jedoch hinzu: 'Denen, die starben, die vertrieben wurden, möchte ich sagen: Bitte vergeben Sie der Republik, vergeben Sie den Polen, vergeben Sie dem damaligen Polen.'"
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Medien

Das schöne Presse-Selbstbild von der "vierten Gewalt" unterschlägt, dass es in der Regel nur wenige Journalisten oder Medien sind, die etwas wagen, während alle anderen brav mitmachen, schreibt in der taz der Anwalt Tora Pekin, der sich für die Cumhuriyet-Redakteure in Haft einsetzt: "Von den regimetreuen Medien brauchen wir erst gar nicht zu reden. Wir schämen uns für sie. Aber in der Türkei gibt es auch Medien, denen man nicht direkt ansieht, dass sie mit der Macht verbändelt sind. Zaghaft bezeichnen sich ihre Mitarbeiter*innen als Journalist*innen. Manchmal behaupten sie sogar, ihre Tätigkeit sei für das Gemeinwohl. Aber Journalismus, der nicht am Lack der Machthaber kratzt, wäre ein Oxymoron. Journalist*innen einzusperren heißt, die Bewegungsfreiheit des Journalismus einzugrenzen."

Nach der Niederlage des "No Billag"-Referendums gab es große Erleichterung, auch bei deutschen Sendern. Aber der Refombedarf bleibt bestehen, findet Perlentaucher Thierry Chervel in einem Gastbeitrag für die Welt und fordert eine Neuformulierung der Idee öffentlich-rechtlicher Information, die vom Internet aus denkt. Unter anderem schlägt er "ein öffentlich-rechtliches Netflix" vor, "das nicht nur die Mediatheken und Archive der Sender pflegt, sondern auch als eine Internet-Kinemathek funktioniert... Denn Netflix wird sich nicht um das filmische Erbe von Fritz Lang bis Fassbinder kümmern, und die Sender senden nur 'Tatort' und Mankell... Wäre das öffentlich-rechtliche System reformfähig, dann ließen sich solche innovativen Ansätze finanzieren, indem man die Redundanzen der Anstalten reduziert und Geld abzweigt. Mit einer Milliarde Euro ließe sich schließlich schon eine Menge anfangen."

Außerdem: Angesichts rechtspopulistischer Angriffe, etwa durch die AfD, fordert Klaus Staeck in der FR die Öffentlich-Rechtlichen auf, "deutlichere Zeichen ihres Reformwillens" erkennen zu lassen.

(Via turi2) Offenbar hat die taz mal wieder eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die über die Zukunft ihrer Zeitung nachdenkt. Das Thesenpapier wird im Netz präsentiert: "Laut, plakativ, geistreich - so ist die taz. Auf Papier. Online ist unser Journalismus limitiert und schlecht durchdacht. Dabei sind dort unsere Leser*innen. Und bald nur noch dort. Es muss unsere absolute Priorität sein, das taz-Profil ins Netz zu bringen. Dabei müssen wir nicht die Ersten sein, die neue Technologien ausprobieren, aber wir sollten schneller das übernehmen, was uns hilft, besseren Journalismus zu machen."

Die saudische Sendergruppe MBC hat türkische Serien, darunter die Seifenoper Noor, aus dem Programm genommen, meldet Dunja Ramadan in der SZ. Neben dem türkischen Verhältnis zu Katar stoße den Saudis die "Freizügigkeit" türkischer Serien auf, vielen Klerikern sei die Serie zu "unislamisch", so Ramadan: "Seit Jahren warnen sie vor dem negativen Einfluss auf die arabische Gesellschaft. So soll die Anzahl der Scheidungen nach der Ausstrahlung von Noor rasant angestiegen sein - nachweisen lässt sich das natürlich nur schwer. 'Viele Frauen schalten den Fernseher an und sehen wie Muhanad dieser Frau - wie heißt sie noch mal - ah ja, Noor, hinterherrennt und dann vergleichen sie ihn mit ihrem Mann. Dabei ist das Schauspielerei! Ich schwöre bei Gott, es ist Schauspielerei. Sie bekommt Geld dafür ihn zu lieben, in Wahrheit mag sie ihn wahrscheinlich gar nicht', empört sich etwa der jordanische Scheich Wassim Youssef im arabischen Fernsehen. Tatsächlich sind in den letzten Jahren die Scheidungszahlen in der Region angestiegen: So lassen sich im ultrakonservativen Saudi-Arabien 30 Prozent der Ehepaare scheiden."

Außerdem: Die New York Times präsentierte gestern eine schön aufbereitete Liste von 167 Frauen, die sie in ihren Nachrufen nicht gewürdigt hatte.
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Internet

Laut einer Studie des amerikanischen Magazins Science verbreiten sich Fake News schneller als echte Nachrichten, meldet Andrea Diener in der FAZ. Grund sei die emotionale Manipulation der Leser: "Verifizierte Nachrichten bedienen üblicherweise eine breite Gefühlsklaviatur von Freude, Erwartung, Traurigkeit bis hin zu Vertrauen. Die meisten Fake News hingegen rufen primär Angst, Überraschung und Abscheu hervor. Jene berühmte Gemütslage der Dauerempörung also, die Twitter-Nutzer von politischen Auseinandersetzungen im Netzwerk leider allzu gut kennen und die den gemäßigteren Stimmen die Diskussionen in vielen Foren verleiden. Falschnachrichten bedienen also jenseits jeder Logik eine Gefühlslage, die einige Nutzer besonders anspricht."
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Stichwörter: Fake News