9punkt - Die Debattenrundschau

Spezielle Rechtsform

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.07.2019. Gynäkologinnen müssen in Schweden studieren, wenn sie lernen wollen, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, erzählt eine Medizinstudentin bei bento. Die Festung Europa züchtet durch ihre immer inhumanere Politik eine ganze Industrie von Kidnapping und Sklaverei an, schreibt Kenan Malik in Expressen: "Und es herrscht fast vollständiges Schweigen darüber." Im Perlentaucher prangert Richard Herzinger den Defätismus der Europäer gegenüber Wladimir Putin an, der den Liberalismus für überholt hält. Die taz fragt: Ist Thüringen demnächst das erste Bundesland ohne Zeitungen?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.07.2019 finden Sie hier

Europa

Auf Bento/Spon erzählt die Medizinstudentin Leonie, dass sie von der Berliner Charité nach Schweden gehen musste, um die medizinische Durchführung einer Abtreibung zu lernen: "Der Schwangerschaftabbruch ist in Deutschland oft gar nicht im Medizinstudium vorgesehen. An der Charité gab es lange nur ein Seminar zur Pränataldiagnostik, in dem der Schwangerschaftsabbruch maximal für zehn Minuten zur Sprache kam. Seit einem Semester gibt es jetzt ein Seminar, nachdem die MSFC dafür gekämpft hatten. Aber da geht es weiterhin nur um die politischen, ethischen und psychologischen Aspekte - nicht ums Medizinische."

Die Europäer fühlen sich Trump und seiner Grenzpolitik moralisch oft so überlegen. Schiere Heuchelei, schreibt Kenan Malik in einem Artikel für Expressen, den er auf Englisch in seinem Blog präsentiert. 35.000 Migranten sind seit 1993 bei dem Versuch gestorben, nach Europa zu gelangen, schreibt er. "Die Festung Europa steht wie eine Zitadelle gegen Immigration: von Gesetzen bewehrt, die Migranten fast jeden legalen Zugang nehmen, geschützt von Mauern und Kriegsschiffen, überwacht von Satelliten und Drohnen. Die Festung erstreckt sich weit über Europa hinaus. Im letzten Jahrzehnt hat Europa eine ganze Reihe von Verträgen mit verschiedenen Behörden in Nordafrika, der Sahel-Zone, am Horn von Afrika und im Nahen Osten - mit der Türkei, Marokko, Libyen, Niger, Mali und Senegal - geschlossen, damit diese als Europas Einwanderungspolizei fungieren. Die EU händigt riesige Geldsummen aus, damit angebliche Migranten festgenommen und weggeschlossen werden, bevor sie die Küsten des Mittelmeers erreichen. Allein in Libyen werden mindesten 20.000 Migranten von der Regierung festgehalten. Tausende mehr werden von Milizen und kriminellen Gangs gefangengehalten. Sie werden unter den schlimmsten Bedingungen gehalten, viele von ihnen werden gefoltert und sexueller Gewalt ausgesetzt, und die europäischen Regierungen handeln als Komplizen." Maliks Urteil über Europa ist sehr scharf: "Was Europa hier subventioniert, ist eine riesige neue Kidnapping- und Gefängnisindustrie. Die europäische Politik hat Migranten zu einer Geldquelle gemacht. Es ist einer der großen Skandale unseres Zeitalters. Und es herrscht fast vollständiges Schweigen darüber."

Eleonore Grahovac, die in der taz nochmal über die Tat der Kapitänin Carola Rackete nachdenkt, kann nur zustimmen: "Ja, das ist Europa in diesen Zeiten: Es lässt nicht nur massenhaft und immer wieder Menschen auf jenem Meer ertrinken, das einst Sehnsuchtsort war und heute mehr denn je ein Todesort geworden ist; es bringt auch diejenigen in Gefahr, die den Humanismus, auf dem die EU gründet, verinnerlicht haben und leben."

Der Westen scheint vor Wladimir Putin, der jüngst die Idee des Liberalismus als "überholt" verhöhnte, zurückweichen zu wollen, schreibt Richard Herzinger in einer Kolumne für die ukrainische Zeitung Tyzhden, die der Perlentaucher übernimmt: "In scharfem Kontrast zu der fortschreitenden Selbsterniedrigung des demokratischen Westens erhebt sich jedoch derzeit in Georgien die Gesellschaft gegen Putins Neoimperialismus und seine Helfershelfer im eigenen Land. Angesichts ihres mutigen Freiheitsstrebens müssten die Putin-Appeaser in den westlichen Hauptstädten eigentlich vor Scham in den Boden versinken. Leider ist aber nicht damit zu rechnen, dass die Georgier von dort die notwendige Unterstützung erhalten werden."
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Gesellschaft

Annette Ramelsberger und Rainer Stadler ziehen in einer großen SZ-Reportage ein Jahr nach dem Ende des NSU-Prozesses noch einmal Bilanz über rechtsextremistischen Terror in Deutschland: "Das Gericht hatte bei der Urteilsverkündung erklärt, der NSU habe aus drei Personen bestanden: Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die beide tot sind, und Beate Zschäpe. Auf der Anklagebank saßen zudem vier ihrer Helfer. Alle fünf Angeklagten wurden verurteilt. Doch darüber hinaus konnte das Gericht keine Strukturen entdecken, welche die zehn Morde des NSU unterstützt und vielleicht sogar erst ermöglicht haben. Doch lässt sich das, ein Jahr später, im Juli 2019, noch halten?" Allein in diesem Jahr, so Stadler und Ramelberger, seien neben dem Mord an Walter Lübcke mehrere rechtsextreme Mordkomplotte aufgedeckt worden, oft waren Polizisten als Täter verwickelt. Auch die taz berichtet über rechtsextremen Terror unter Beteiligung von Polizisten und Soldaten.
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Überwachung

Weltweit - oder naja, in einigen Ländern der westlichen Welt - entstehen Bewegungen, Gesichtserkennung durch Überwachungskameras zu verbieten. Leon Kaiser schreibt bei Netzpolitik über Versuche der Londoner Polizei, die tatsächlich an einigen Standorten Kriminelle per Gesichtserkennung aus der Masse herausfiltern wollte, dabei aber nicht sehr erfolgreich war: "Die Erkennungsraten in London sind noch nicht sehr hoch: Bei den sechs Testläufen zwischen Juni 2018 und Februar 2019, die die Forscher beobachten konnten, lieferte das System 42 Treffer. Nur bei acht davon handelte es sich auch um polizeilich gesuchte Personen. Doch für diese magere Ausbeute wurden Tausende Passanten automatisch erfasst und ihre biometrischen Merkmale in Echtzeit mit jenen von gesuchten Personen auf verschiedenen polizeilichen Listen abgeglichen."
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Religion

Eine Journalistin von Correctiv hat Klage gegen die Katholische Kirche eingelegt, um Auskunft über die Verwendung von Kirchensteuern zu bekommen. Da es sich um eine Steuer handelt, so die Journalistin, müsse die gleiche Transparenz gelten wie bei anderen Steuern. Das Gericht gab der Kirche recht, da sie keine Behörde sei - ließ aber Berufung in höheren Instanzen zu. Der "Koordinierungsrat säkularer Organisationen" (Korso e.V.) begrüßt dies bei hpd.de: "In der Tat muss sich die katholische Kirche die Frage gefallen lassen, wie sie es rechtfertigt, sich das Beste aus beiden Welten herauszupicken ohne die entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Erst staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen und sich auf diese Weise staatliche Autorität zu verschaffen und sich dann, nachdem die staatlichen Behörden ihren Zweck erfüllt haben, auf die Privilegien ihrer speziellen Rechtsform zurückzuziehen."
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Internet

In der NZZ fürchtet Adrian Lobe die Macht von Google Maps: "Wenn der Raum informatisiert ist - wie lassen sich diskursiv Grenzen bestimmen? Politik bedeutet ja auch, Räume zu gestalten, zu öffnen, zu schließen, zu definieren. Doch was ist der Raum des Politischen, wenn der physische und der virtuelle Raum von privaten Konzernen kontrolliert werden?"
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Stichwörter: Google Maps, Lobe, Adrian

Ideen

Jens-Christian Rabe fordert in der SZ einen linken Kommunitarismus und bezieht sich dabei etwa auf Michael Walzer, Charles Taylor oder Wolfgang Streeck. Sonst lasse sich der "demokratische Republikanismus" nicht wirklich verfechten, glaubt er: "Wenn keiner an ihn glaubt, funktioniert er nicht. Und an etwas zu glauben, funktioniert wiederum am besten, wenn es wie im Kommunitarismus als alltägliche Praxis erlebt wird."
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Medien

In Thüringen hält die Funke-Mediengruppe mit den Titeln Thüringer Allgemeine (TA), Thüringische Landeszeitung (TLZ) und Ostthüringer Zeitung (OTZ) mehr oder weniger das  Zeitungsmonopol. Gedruckt werden die heute bis auf das Lokale mehr oder weniger identischen Zeitungen in Erfurt - auf veralteten Druckmaschinen und mit hohen Vertriebskosten, so dass der Verlag über die Einstellung der gedruckten Zeitungen nachdenkt, berichtet Anne Fromm in der taz: "Wenn die Funke-Zeitungen wegfallen oder zumindest viel weniger gelesen werden, weil sie nur noch digital zu haben sind, dann entsteht in weiten Teilen des Bundeslandes das, was sie in den USA 'Nachrichtenwüste' nennen. Und das in dem Bundesland, wo der NSU seine Wurzeln hat. Wo die Höcke-AfD drei Monate vor der Landtagswahl in Umfragen mit gut 20 Prozent drittstärkste Partei ist. Wo Sozialforscher seit Jahren ein Verfestigen rassistischer Tendenzen bei rund der Hälfte der Bevölkerung beobachten." Hm, jetzt wäre noch die Frage zu klären, warum die Präsenz der Zeitungen das auch nicht verhinderte?

Die bis heute verehrten großen Journalisten der Geschichte waren eigentlich Blogger, schreibt Rainer Stephan, ehemals Süddeutsche Zeitung, bei kontext: "An wen erinnern wir uns, wenn wir an große deutsche Publizisten denken? An Maximilian Harden, der sich im Untertanenklima des deutschen Kaiserreichs nicht scheute, den Monarchen persönlich in die Schranken zu fordern. An Karl Kraus - als die tonangebenden Geistesgrößen 1914 unisono den Krieg begrüßten, überzog er sie unnachgiebig mit seinen Wut- und Intelligenztiraden. Weil die großen Zeitungen das nicht ertrugen, gründeten Harden wie Kraus kurzerhand eigene Blätter, Die Zukunft und Die Fackel, die sie praktisch im Einmannbetrieb gestalteten."

Außerdem: China sperrt einige internationale Medien für den Hortus conclusus des eigenen Internets, darunter die FAZ und tagesschau.de, berichtet Hendrik Ankenbrand auf der Medienseite der FAZ. Und alle Medien würdigen den großen Reporter und ehemaligen Stern-Chefredakteur Michael Jürgs, darunter Nils Minkmar in Spiegel online (hier), Mathias Döpfner im Tagesspiegel (hier), Steffen Grimberg in der taz (hier), Klaus Brinkbäumer bei Zeit online (hier), Hans Leyendecker in der SZ (hier), Ulrike Simon in Horizont (hier) und Klaus Pokatzky in Dlf Kultur (hier).
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