9punkt - Die Debattenrundschau

Der Name Sahar

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.09.2019. Der Ruf "Wir sind das Volk" ist in einer Diktatur subversiv und in der heutigen Demokratie, in der die AfD ihn für sich reklamiert, nur kollektivistisch, schreibt Richard Herzinger im Perlentaucher. Emma.de bringt einige neue Details über die Geschichte der Sahar Khodayari, die sich anzündete, weil sie nicht ins Gefängnis wollte. Ihr Verbrechen: Sie war ein Fußballfan und hatte in Teheran einem Spiel zusehen wollen. Die taz bringt neue Belege für die Nazi-Sympathien der Hohenzollern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.09.2019 finden Sie hier

Europa

Es kommt nicht nur darauf an, was jemand sagt, sondern in welchem Kontext er es tut, schreibt Richard Herzinger in einer Intervention für den Perlentaucher: "Der Ruf 'Wir sind das Volk' war im Widerstand gegen den SED-Staat tatsächlich eine genuin demokratische Losung... In einem demokratischen Rechtsstaat verwandelt sich die Parole 'Wir sind das Volk' jedoch in den Ausdruck einer antidemokratischen, kollektivistischen und damit autoritären Geisteshaltung. Die Okkupation des Slogans durch eine gleichgerichtete, durch keine demokratische Legitimation dazu ermächtigte Minderheit suggeriert, 'das Volk' sei von einem einzigen Willen beseelt, der über dem Recht und der mühsamen institutionellen Aushandlung von Kompromissen zwischen unterschiedlichsten Interessen und Ansprüchen stehe."

In der taz analysiert Jan Feddersen zugleich, wie die AfD völkische Rhetorik weichkocht. Die Vokabel "Umvolkung" haben man aus Angst vorm Verfassungsschutz aufgegeben: "In Wahrheit aber wird dieses Framing der völkisch gesinnten Reinheit weiter bedient, nur äußert es Gauland zwischen den Zeilen, wenn er von der 'relative(n) Homogenität' spricht, die in Gefahr stehe."

In vielen Sicherheitsbehörden in Deutschland tummeln sich Netzwerke von Rechtsextremisten, warnen Heike Kleffner und Matthias Meisner im Tagesspiegel in einem Auszug aus einem Buch zum Thema: "Inzwischen hat die Öffentlichkeit erfahren, dass SEK-Beamte, ehemalige Bundeswehroffiziere und aktive Reservisten für einen Tag X die Internierung politischer Gegnerinnen und Gegner in Gestalt von Kommunalpolitikerinnen und -politikern aus Rostock, Schwerin und Umgebung planten, Zehntausende Schuss Munition horteten und 200 Leichensäcke und Löschkalk bestellt hatten."

Es gab schon mal eine Flüchtlingskrise. Das war 1989/90, schreibt Tom Strohschneider im Freitag und erinnert an ein paar Episoden, die schon in der Erinnerung verschüttet sind: "Die rechtsradikalen Republikaner ziehen im Januar 1989 mit auf Anhieb 7,5 Prozent ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Bei den Europawahlen im Juni wiederholen sie dieses Ergebnis knapp. Helmut Kohl, der als angeschlagener Kanzler und CDU-Chef ins Wendejahr gestartet ist, kritisiert, die Reps um Franz Schönhuber zögen 'aus den Ängsten der Menschen Stimmen', in der BRD seien 'das Asylantenproblem und die Ausländerfrage' mit der 'Aussiedlerfrage verknüpft' worden."

Wie sehr Wladimir Putin durch seine nationalistische Politik seinem eigenen Land schadet, kann man in einem Artikel Nikolai Klimeniouks bei libmod.de nachlesen, der zeigt, wie die Potenziale des Landes manipuliert und begrenzt werden - gerade im IT-Sektor: "Die russischen Dienste Yandex, Mail.ru und VK hätten auch international eine Herausforderung für Google, Facebook und Co. werden können. Dass das nicht passiert ist, liegt nicht zuletzt an der Politik des russischen Staates, der schon länger und immer stärker versucht, die IT-Branche auf Linie zu bringen und sie in die Strukturen seines Sicherheitsapparats zu zwängen, um mit ihrer Hilfe die Internetnutzer (und eigentlich die gesamte Gesellschaft) in Schach zu halten."
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Medien

Auf der Medienseite der FAZ schimpft Michael Hanfeld über Springer-Chef Mathias Döpfner, der gegenüber den großen Internetkonzernen eine Doppelstrategie fahre: "Für das umstrittene Leistungsschutzrecht, mit dem Verlage einen Rechtsanspruch erhalten, den sie gegen die Digitalkonzerne durchsetzen können, wenn sie wollen, ist gerade sein Verlag über all die Jahre vehement eingetreten. Zugleich aber macht Döpfner einen Rückzieher, sobald es damit zum Schwur kommt." Besonders erbost ist Hanfeld, dass Döpfner als oberster Chef des Zeitungsverlegeverbands eine Anzeigenkampagne, die das segensreiche Wirken der Presse für die Demokratie hätte unterstreichen sollen, torpediere. Netzpolitik hatte ein Papier über die Lobbystrategie von der VG Media und dieser geplanten Kampagne veröffentlicht (also "genau die richtige Adresse, wenn es gegen Presseverlage gehen soll", so Hanfeld). Überhaupt, für die VG Media war dies eine horrible Woche. Hier unsere Resümees.
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Überwachung

Edward Snowden hat ein autobiografisches Buch geschrieben. Deshalb erscheinen überall Interviews mit ihm und jede Zeitung tut so, als hätte sie ihr Interview weltexklusiv. In der Süddeutschen sagt er: "Wir sehen einen neuen Aufstieg des Autoritarismus. Verbunden mit immer neuen Überwachungsmethoden ist das eine gefährliche Entwicklung." Das Interview im Guardian darf man online lesen.
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Politik

Annika Ross bringt bei emma.de einige neue Details über die Geschichte der Sahar Khodayari, die sich mit Benzin übergoss und ansteckte, weil sie nicht ins Gefängnis wollte. Sie war als "blaues Mädchen" bekannt und verurteilt worden, weil sie als Mann verkleidet einem Fußballspiel der Teheraner Mannschaft Esteghlal Teheran  zusehen wollte (unser Resümee). Offiziell ist es Frauen verboten, Fußballspiele zu besuchen: "Das Regime hat sie ohne Beisein ihrer Familie außerhalb ihres Geburtsortes Qom begraben lassen, eine Trauerfeier wurde untersagt. Die iranische Presse durfte nicht über den Fall berichten." Aber Andranik Teymourian, der ehemalige Kapitän und erste Christ in der iranischen Nationalelf, erklärte zum "Blauen Mädchen": "Eines Tages in der Zukunft wird das Stadion den Namen Sahar tragen." Die Fifa sollte den Iran ausschließen, fordert Ross.
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Gesellschaft

Die wichtigsten Fortschritte für das queere Leben wurden erst nach dem Mauerfall erreicht - und durch den Mauerfall, bringt Jan Feddersen im Tagesspiegel in Erinnerung: "Der Paragraf 175, der seit dem späten 19. Jahrhundert nie einem anderen Zweck diente, als schwule Männer als Objekte des Verfehlten zu skandalisieren und zu missachten, wurde erst 1994 aus dem Strafgesetzbuch getilgt. Und das nur, weil die letzte DDR-Regierung dieses in den Einigungsvertrag hineinformulierte. Wäre es nach den Konservativen der Union gegangen, gäbe es diesen menschenrechtswidrigen Paragrafen, der als moralische Entwertungsvorschrift bis heute in den Gemütern schlummert, womöglich noch."

Den Ursprung des "SUV" macht Arno Frank in einem längeren kulturhistorischen Stück für die taz nicht in den USA aus, sondern im Range Rover, der "quasi als automobiler Botschafter einer 'upper class' dahergekommen sei, "die eigentlich auf dem Land zu Hause ist - sonst würde sie Jaguar oder Bentley fahren, wouldn't they? Ein Fahrzeug für die 'Gentry' also, den Adel. Hier, nicht in den USA oder Japan, liegt der Keim für die Gentrifizierung des Fahrens in den neoliberalen achtziger Jahren, der Ära von Margaret Thatcher."
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Internet

Auch am Media Lab des MIT gab es Sexisten. Das berühmte Institut, das auch für die Idee eines offenen Internets einsteht, steht im Kontext der Epstein-Affäre (unsere Resümees) im Fokus. Der berühmte verstorbene KI-Forscher Marvin Minsky, der am Media Lab lehrte, ist besonders ins Gerede gekommen. (Der ebenfalls hier lehrende Richard Stallman, einer der Miterfinder der Freien-Software-Idee, hat Minsky in einer Mail verteidigt, was auch nicht gut ankam, hier mehr). In einem viel retweeteten Medium-Artikel erinnert sich die  Microsoft-Programmiererin und -Autorin Danah Boyd an ihre Studienzeit am Media Lab: "Ich studierte von 1999 bis 2002 am MIT Media Lab. Beim Einführungsabendessen für die neuen Studenten setzte sich ein älteres Mitglied der Fakultät neben mich. Er sah mich an und fragte, ob es Liebe gebe. Ich runzelte die Stirnm während er darüber sprach, dass Liebe eine Fata Morgana sei, aber dass Sex und Vergnügen real seien. Das war meine Einführung in Marvin Minsky und in meine neue institutionelle Heimat."
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Geschichte

Andreas Fanizadeh zitiert in der taz einen Satz des Kaisers Wilhelms II. im Exil, der offenbar zu den Beweisstücken der Historikerin Karina Urbach in einer neuen Studie gehört - er ist so obszön, dass man ihn  kaum wiedergeben mag: "Juden und Mücken sind eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muss. Ich glaube, das Beste wäre Gas." Die Hohenzollern wollen einiges von dem Besitz zurück, das einst ihre Bürger für sie produziert haben. Das dürfte allerdings zumindest in den Neuen Ländern rechtlich an ihrer Sympathie für den Nationalsozialismus scheitern, so Fanizadeh. Die Studie "Nützliche Idioten - Die Hohenzollern und Hitler" soll in den nächsten Tagen auf der Internetplattform perspectivia.net erscheinen.

Außerdem: In diesen Tagen feiert man Alexander von Humboldts 250. Geburtstag. Die Stadtschlossattrappe wird zwar noch nicht eröffnet, aber dafür eine von Bénédicte Savoy kuratierte Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, in der sich unter anderem herausstellt, das Humboldt nicht ganz so astrein antikolonial drauf war, wie man sich das heute wünschte. Susanne Memarnia unterhält sich darüber mit Savoy auf den Berlin-Seiten der taz. Hier der Hintergrund. Außerdem in der heute mal wieder unerschöpflichen taz ein Gespräch mit dem Archäologen Bernhard Heeb, der im Auftrag der Stiftung Preußischer Kulturbesitz versucht, die Herkunft von 1.200 menschlichen Schädeln aufzuklären -  ein Teil der noch größeren "Luschan-Sammlung". In der Jungle Word stellen Irene Eidinger und Josefine Haubol die Frage, die die Erinnerung an den Holocaust aussehen soll, wenn die letzten Zeugen gestorben sind.
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