9punkt - Die Debattenrundschau

Klar, dass die Überschrift lizenzfrei bleibt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.01.2020. Der 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz - gestern offiziell in Yad Vashem gefeiert - steht im Zeichen unguter geschichtspolitischer Territorialkämpfe, beobachtet die taz, besonders mit Blick auf Wladimir Putins Äußerungen zum Zweiten Weltkrieg. In der Welt spricht Adam Krzeminski über die polnische Position. Die taz stellt das geplante neue Leistungsschutzrecht vor: Journalisten dürfen immerhin noch eigene Artikel zitieren. In der Welt geißelt Thomas Schmid die Unterwürfigkeit deutsche Bosse gegenüber China.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.01.2020 finden Sie hier

Geschichte

Der 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz - gestern offiziell in Yad Vashem gefeiert, wo auch Frank-Walter Steinmeier redete - steht im Zeichen unguter geschichtspolitischer Debatten, konstatiert Klaus Hillenbrand in der taz, vor allem mit Blick auf Wladimir Putins Äußerungen zum Hitler-Stalin-Pakt und zum Zweiten Weltkrieg. "Wenn Wladimir Putin Polen unterstellt, unter ihnen hätten sich die schlimmsten Antisemiten befunden, dann geschieht dies, um die eigene historische Verantwortung zu leugnen. Wenn die polnische Regierung als Reaktion mit dem Hinweis auf die verheerenden Folgen des Hitler-Stalin-Pakts antwortet, hat sie recht. Aber sie minimiert auch die Bedeutung der sowjetischen Streitkräfte für die Befreiung Europas, wobei diese wiederum für viele Menschen den Beginn einer neuen Diktatur bedeutete."

Um die Gedenkveranstaltung in Yad Vashem hat es auch in Israel Debatten gegeben, berichtet Judith Poppe ebenfalls in der taz: "Organisator der Veranstaltung ist der russische Oligarch und Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses, Moshe Kantor. Ihm wird nachgesagt, ein guter Freund des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu sein. Auseinandersetzungen um die verschiedenen Narrative haben im Vorfeld des Holocaust Forum zu Zerwürfnissen geführt. Ha'aretz sprach gar davon, dass Israel 'Stalins Handschlag mit Hitler' reinwasche." Gabriele Lesser berichtet über den polnischen Boykott der Veranstaltung in Yad Vashem.

Im gestrigen Dlf-Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann warf auch der polnische Journalist Adam Krzeminski Wladimir Putin Einflussnahme auf den Holocaust-Gedenktag im Yad Vashem vor, äußerte Verständnis für Andrezj Dudas Entscheidung, nicht an der Konferenz teilzunehmen und erinnerte: "Es gab eine polnisch-russische Kommission der Historiker, die eindeutig diese Lügen von Putin widerlegt hatten, und das waren russische Historiker. Derselbe Putin, der heute das sagt, hat 2009 auf der Westerplatte in Danzig den Hitler-Stalin-Pakt als moralisch verwerflich abgelehnt."

Putin steht mit seinem "gefährlichen" Geschichtsrevisionismus nicht allein da, ergänzt Stefan Kornelius in der SZ: "Das Europäische Parlament hat mit einer unrühmliche Entschließung zum Geschichtsbewusstsein in Europa Anlass zur Kritik und Putin eine neue Vorlage im Streit um die Deutung des Hitler-Stalin-Pakts gegeben. Die polnische Regierung hat mit ihrem Holocaust-Gesetz die schmerzhafte Befassung mit der eigenen Vergangenheit unter Strafe gestellt. Von der Ukraine bis zum Balkan verhindern Nationalismus und billiger Patriotismus die Aufarbeitung der Vergangenheit und stiften damit neuen Unfrieden. In Deutschland sät die AfD mit dem 'Vogelschiss der Geschichte' bittere Zwietracht."

Viel Ärger hat außerdem auf Twitter ein "Tagesschau"-Kommentar der HR-Reporterin Sabine Müller zu der Gedenkveranstaltung ausgelöst. Da heißt es: "Der Gedenktag in Yad Vashem wurde von den egoistischen Auftritten Israels und Russlands überschattet. Eine vertane Chance im Kampf gegen Antisemitismus."

Besprochen wird die Ausstellung "Medicus. Die Macht des Wissens" im Historischen Museum der Pfalz in Speyer, die laut Rudolf Neumaier im Feuilleton-Aufmacher der SZ Medizingeschichte faszinierend erlebbar macht.
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Europa

Die große Mehrheit der Muslime in den französischen Banlieues ist nicht fundamentalistisch, aber die Imame, die sie repräsentieren, werden immer dominanter und auch radikaler, berichtet Martin Bohne in einem Dlf-Feature, in dem er auch mit Gilles Kepel spricht: "Der Staat sehe dem weitgehend hilflos zu. Es gebe sogar oft eine Art Komplizenschaft zwischen Islamisten und lokalen Politikern, beobachtet Gilles Kepel: 'Die Abgeordneten fürchten als islamfeindlich dazustehen. Und deshalb umwerben sie in einer Reihe von Fällen die islamischen Organisationen. Weil die eine ganze Menge Stimmen kontrollieren. Und damit den Kandidaten bei einer Wahl sagen können, ich bringe Dir 200 Stimmen, wenn Du mir dafür das und das gibst.'"

Der türkische Kulturmäzen und Unternehmer Osman Kavala sitzt seit über zwei Jahren in türkischer Untersuchungshaft, vorgeworfen wird ihm der Versuch, die Regierung mit "Gewalt" zu stürzen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte Ende 2019 Kavalas Inhaftierung als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt und dessen Freilassung gefordert  - ohne Erfolg. Die SZ veröffentlicht einen Text, den Kavala in der Haft geschrieben hat und in dem er benennt, wie die türkische Justiz "Grundprinzipien zum Schutz individueller Freiheiten" verletzt: "Dabei geht es um die entscheidenden Begriffe 'Anfangsverdachts' und 'Willkür'. Der EGMR bestätigte, dass ein Anfangsverdacht 'die Existenz von Fakten und Informationen' erfordert, 'die einen objektiven Beobachter überzeugen, dass die betreffende Person das Vergehen begangen haben könnte'. Der EGMR erklärte auch, dass es sich um Willkür handelt, wenn der Grund der Freiheitsberaubung 'mit dem Ort und den Bedingungen der Haft in keinem Verhältnis steht'. In meinem Fall wurden weder im Text der Anklage, noch vor Gericht Beweise dargelegt, die meine Verhaftung rechtfertigen."
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Ideen

In der NZZ äußert der Philosoph Martin Rhonheimer Kritik an jenen (Klima-)Aktivisten, deren Verständnis von zivilem Ungehorsam auch das "Stellen der Systemfrage" beinhaltet: "Dieses offensichtlich jakobinische - oder populistische - Verständnis von zivilem Ungehorsam, gemäß dem das Volk grundsätzlich höhere Legitimität als seine verfassungsmäßigen Repräsentanten besitzt, ist mit der liberalen Vorstellung von Parlamentarismus und Demokratie unvereinbar. Es unterminiert auch die direkte Demokratie, da ja auch direktdemokratische Entscheidungsverfahren ihre rechtliche Verbindlichkeit durch die Verfassung erhalten und insofern Teil der 'konstituierten Gewalt' sind. Das 'radikaldemokratische' Verständnis von zivilem Ungehorsam ist deshalb in Wirklichkeit Widerstand gegen eine als illegitim wahrgenommene Ordnung. Es ist - wie anno 1968 - radikale Systemkritik, auch wenn seine Vertreter es nicht wagen, sich als solche zu outen."
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Internet

Google hat die Präsentation seiner Suchergebnisse neu gestaltet. Jon Porter erklärt im Techblog theverge.com, worum es dem Konzern gehen könnte: Der neue Design verwischt "die Grenze zwischen den organischen Suchergebnissen und den darüber liegenden Anzeigen... Offenbar absichtlich gibt es nur ein kleines 'Ad'-Symbol, das Anzeigen von Suchergebnissen unterscheidet. Es ist so gestaltet, dass es den neuen Favicons neben den Suchergebnissen ähnelt. Die Veränderungen, hat Digiday herausgefunden, mögen dazu beitragen, dass die Nutzer mehr auf Anzeigen klicken."

So sieht das im amerikanischen Google aus:


In Deutschland ist die Gestaltung - vielleicht wegen strengerer Vorschriften? - anders: Hier steht immerhin das Wort "Anzeige" vor der Werbung.
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Stichwörter: Google

Politik

Die deutsche Wirtschaft "versagt gesellschaftlich", verrät die freie Markwirtschaft und die liberale Demokratie und hängt an den "Rockschößen" der Politik, schreibt Thomas Schmid in der Welt (und in seinem Blog) mit Blick nach China: "Wer einmal die Gelegenheit hatte, im Tross der Bundeskanzlerin nach China zu reisen, hat dafür guten Anschauungsunterricht bekommen. Die meisten der anwesenden deutschen Unternehmer, CEOs und Manager hingen begeistert an den Lippen des chinesischen Staatspräsidenten und stellten ausnahmslos sehr freundlich, sehr brav und mitunter auch fast unterwürfig Fragen. Erkundigte man sich später nach dem Grund dieses ungewöhnlichen Verhaltens gegenüber dem Staatschef einer Diktatur, bekam man freimütig Auskunft. Die Herren waren von der Machtfülle des Präsidenten fasziniert. Und es gefiel ihnen ausnehmend, dass in China groß geplant und schnell gehandelt wird, dass Flughäfen und Industrieanlagen in Windeseile fertiggestellt werden können. Keine zeitraubenden Aushandlungsprozesse, keine Zivilgesellschaft, die sich einmischt."

Bereits in der gestrigen NZZ stellte Martin Kamp - mit zaghafter Kritik - das von China inzwischen für Unternehmen eingeführte Social Credit System (CSCS) vor: In einer Datenbank "werden sämtliche zu einem Unternehmen erhältlichen Angaben von so unterschiedlichen Behörden wie Finanzämtern, der Börsenaufsicht oder der Verkehrsüberwachung gesammelt und zusammengeführt. Mithilfe dieser Datenbank können die Behörden alle Aktivitäten der Firmen - so jedenfalls die Zielsetzung - minuziös überwachen. Algorithmen generieren sodann permanent ein Rating zum Verhalten des Unternehmens und entscheiden schließlich über allfällige Belohnungen oder Strafen. (...) Es ist eine permanente Überwachung und Bewertung, manche Beobachter sprechen von der Neuerfindung der Diktatur."

Spionage-Software, wie sie Mohammed bin Salman mutmaßlich auf Jeff Bezos' Handy installieren ließ, ist auch auf den Handys von Dissidenten, Menschenrechtsanwälten und Journalisten entdeckt worden, schreibt Georg Mascolo in der SZ und fordert: "Weder die Entwicklung noch ihr Verkauf gehören in private Hände. In einem ersten Schritt braucht es eine strikte Aufsicht über diese Cyber-Söldner. Wer seine Technik verkauft, um Dissidenten oder auch Jeff Bezos abzuhören, muss die Lizenz verlieren und strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Zudem darf nicht mehr zugelassen werden, dass diese Firmen gezielt ehemalige Geheimdienstler anheuern, die ihr Metier etwa beim amerikanischen Auslandsgeheimdienst NSA gelernt haben. Letztlich aber gehört ein so riskantes Geschäft sowieso nicht in die Hände von privaten Firmen."
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Medien

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) droht mit einer schnellen deutschen Umsetzung des neuen Leistungsschutzrechts auf europäischer Basis (nachdem das deutsche Gesetz schmählich scheiterte), berichtet Christian Rath in der taz, der den Entwurf referiert: "Lizenzfrei nutzbar sind weiterhin 'einzelne Worte oder sehr kurze Auszüge' eines Beitrags. Wie viele Worte kostenfrei genutzt werden können, lässt der Entwurf aber ebenso offen. Er stellt jedoch klar, dass die Überschrift lizenzfrei bleibt, ebenso Bild- und Tonsequenzen bis zu drei Sekunden sowie schlecht aufgelöste, kleine Vorschaubilder mit maximal 128 x 128 Pixel. Längere Zitate bleiben in Ausnahmen möglich. Journalisten können zudem eigene Beiträge auf ihren Websites mit längeren Snippets kostenlos bewerben."

Außerdem: Bei Radioeins schreibt Stefan Niggemeier über jüngste Meldungen zur Zeitungkrise und greift einen Vorschlag von Leonhard Dobusch auf, der öffentlich-rechtlich geförderten Lokaljournalismus will (unser Resümee).
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