9punkt - Die Debattenrundschau

Eine neue Klaustrophobie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.04.2020. "Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden", sagt der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier in der SZ zum Thema Triage. In der Zeit wendet sich der italienische Premier Giuseppe Conte ans deutsche Publikum und fordert eine gemeinsame europäische Anstrengung. Libération zeigt, warum die Angaben über Todesfälle in Frankreich und Italien untertrieben sind. NZZ und taz berichten über evangelikale Superspreader in Brasilien und Südkorea.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.04.2020 finden Sie hier

Europa

Der italienische Premierminister Giuseppe Conte wendet sich in einem sehr diplomatischen Text in der Zeit an das deutsche Publikum (sofern man das von einem Text sagen kann, der nicht online steht) und wiederholt indirekt seine Forderung nach Corona-Bonds. "Wenn wir eine Union sind, dann ist jetzt der Zeitpunkt, dies zu beweisen. Unsere Volkswirtschaften verfügen über ausreichend personelle und materielle Ressourcen, um die Krise auch aus eigener Kraft zu überwinden. Aber die Anstrengungen selbst der stärksten europäischen Volkswirtschaften würden sehr bescheidene Ergebnisse bringen im Vergleich zu dem, was wir erreichen können, wenn wir einander unterstützen. Die Mitgliedschaft in unserer Union muss bedeuten, dass wir ihre Stärke nutzen können, um den durch diese Pandemie verursachten Schaden durch eine stabile, langfristige Finanzierung mit den so garantierten niedrigen Zinssätzen zu bekämpfen."

Im Wirtschaftsteil der Zeit erläutern Mark Schieritz und Georg Blume zu den Corona-Bonds: "In der Diskussion ist ein Modell, bei dem über eine solche Anleihe einmalig Finanzmittel in Höhe von tausend Milliarden, also einer Billion Euro aufgenommen werden, die dann je nach Bedarf in die Mitgliedsstaaten fließen. Für die Rückzahlung würden die teilnehmenden Staaten dann gemeinsam haften. Auf diese Weise würden Länder mit hohen Schulden von den günstigen Finanzierungskosten der soliden Länder profitieren." Die Idee der Coronabonds, so Blume und Schieritz wird inzwischen auch von unternehmernahen Wirtschaftsinsituten unterstützt - und auch von einigen europäischen Intellektuellen, darunter Jürgen Habermas und Daniel Cohn-Bendit, die einen Aufruf im Zeit-Feuilleton publizieren. Mehr zum Thema auch bei politico.eu.

In der taz schildert ein Reporterteam die drangvolle Enge in Flüchtlingheimen, wo jetzt die Ansteckungsgefahr besonders groß ist. Das Foto zur Garnierung sieht aus, als sei ein Heim von Polizei geradezu belagert. Auf Seite 1 der taz fordert Dinah Riese, dass Flüchtlinge über leerstehende Hotels verteilt werden sollen.
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Wissenschaft

Sowohl in Frankreich, als auch in Italien sind die Statistiken über Corona-Todesfälle wohl eher noch untertrieben, zeigt Pauline Moullot  in einem sehr gut recherchierten Artikel für ein Factchecking-Blog bei Libération auf. In Frankreich werden zur Zeit nur Todefälle in Krankenhäusern gezählt, nicht aber in Pflegeheimen, die zum Teil stark betroffen sind. Und in Italien leben ältere Menschen häufig zu Hause: "Das Problem der Zählung stellt sich also vor allem bei Menschen, die zu Hause sterben. Allerdings, so Alessandro Solipaca, wissenschaftlicher Direktor des Gesundheitsobservatoriums der Katholischen Universität Rom, werden Todesfälle zu Hause nur selten gezählt, da die Menschen im Allgemeinen nicht getestet wurden."
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Stichwörter: Coronakrise, Corona, Krankenhaus

Religion

Aktualisierung um 16 Uhr: Hier ist der Perlentaucher auf eine April-Fakenews hineingefallen! Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit fand am Montag eine Razzia in sämtlichen Diözesen Deutschlands statt, um Akten für die Klärung von Missbrauchsfällen sicherzustellen, berichtet hpd.de. Ziemlich heftig klingt ein von hpd.de zitiertes Statement des Sprechers des Generalbundesanwalts: "Nachdem aufgrund der freiwilligen Herausgabe von Akten durch die Bistümer keine einzige Anklage erhoben werden konnte, müssen wir leider davon ausgehen, dass die Bistumsverantwortlichen den Ermittlungsbehörden bewusst nur jenes Material zur Verfügung gestellt haben, das nicht genügend Hinweise für ein Strafverfahren liefert oder bei denen die Taten verjährt beziehungsweise die mutmaßlichen Täter bereits verstorben sind. Daher mussten wir nun selbst aktiv werden."
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Stichwörter: Katholische Kirche, Razzia

Medien

Im SZ-Interview mit Stefan Fischer erklärt Rainer Robra, Chef der Staatskanzlei von Sachsen-Anhalt, weshalb sich das Land bisher bei der Entscheidung zur Erhöhung des Rundfunkbeitrags enthalten hat: "Wenn die Anstalten so wirtschaften wie bisher, steht uns Mitte der 2020er-Jahre abermals eine Beitragserhöhung erheblichen Ausmaßes ins Haus. Deshalb brauchen wir jetzt von den Anstalten verbindliche Zusagen, dass sie allen Hinweisen der KEF auf Einsparpotenziale und Wirtschaftlichkeitsreserven nachgehen und die Empfehlungen umsetzen. Bisher liegen noch keine zufriedenstellenden Erklärungen vor. Speziell für die ostdeutschen Länder fordern wir bei den Tochterunternehmen der Anstalten eine angemessene Berücksichtigung, und auch das seit Jahren ohne große Resonanz."
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Gesellschaft

Wenn sich die derzeitigen Einschränkungen längere Zeit hinziehen, "dann hat der liberale Rechtsstaat abgedankt", sagt der Staatsrechtler und ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier bei allem Einverständnis mit den aktuellen Maßnahmen im SZ-Gespräch mit Wolfgang Janisch. Auch die Empfehlungen, die Medizinische Fachgesellschaften an Ärzte herausgegeben haben, für den Fall, dass diese triagieren müssen, findet er mit Blick auf das Luftsicherheitsgesetz rechtlich problematisch: "Das Bundesverfassungsgericht hat damals betont: Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden. Jedes Leben ist gleichrangig und gleich wertvoll, es genießt den gleichen Schutz. Und es geht nicht an, dass dann jemand entscheidet, dieses oder jenes Leben ist vorzugsweise zu schützen oder zu retten. Ich kann den Ärzten also nur raten, sich an diese Empfehlungen nicht blindlings zu halten. Es kann ja immerhin um den möglichen Vorwurf der fahrlässigen Tötung gehen."

Der wirtschaftliche Schaden der Krise kann nicht gegen Menschenleben aufgewogen werden, schreibt der Philosoph Gunzelin Schmid Noerr in der FR mit Blick auf die Ausgangsbeschränkungen: "Kant zufolge sind (…) alle Mittel, die Menschen zu ihrem Nutzen einsetzen, letztlich austauschbar und durch das allgemeine Tauschmittel Geld verrechenbar, nicht aber die Zwecksetzung selbst, die Ausdruck der menschlichen Freiheit ist. Als vernunftbegabte Wesen haben Menschen eine unverrechenbare Würde, und es ist gegen diese Würde, sie auf bloße Mittel zur Erlangung fremder Zwecke zu reduzieren. Daraus folgt: Ethische und wirtschaftliche Gesichtspunkte lassen sich nicht verrechnen, es sei denn, man verstünde die ethischen Gesichtspunkte selbst bloß als Kostenfaktoren."

In der NZZ möchte sich Pascal Bruckner gar nicht ausmalen, wieviele Corona-Tagebücher uns im Herbst als "Heldenepen" verkauft werden. Überhaupt mahnt er zur Relation: "Der Krieg, den wir laut Rhetorik des französischen Präsidenten jetzt alle führen, ist für die Masse ein vergleichsweise angenehmer." (…) "Fast könnte man sagen, dass sich in dieser Krankheit die Ängste unserer Gesellschaft spiegeln, wenn auch auf verzogene Weise: Gestern noch fürchteten wir die Fremden, heute versetzt uns der Mieter von nebenan in Sorge. Von einer Angst sind wir so zur anderen gekommen: Die Agoraphobie der Globalisierung, die Furcht vor großen Räumen ohne Wälle und Grenzen, ist einer neuen Klaustrophobie gewichen, wir zittern jetzt vor der Enge der Selbstbegrenzung."

Weitere Artikel: Auf Zeit Online stellen Lisa Hegemann und Meike Laaf zuversichtlich das Framework für die angedachten Apps vor, die über den Kontakt mit Corona-Infizierten aufklären und zugleich Daten schützen sollen.
Archiv: Gesellschaft

Politik

In Nigeria sind Fake News im Gesundheitssystem nichts Neues und so weigern sich viele Nigerianer zu glauben, dass das Coronavirus überhaupt existiert, schreibt Idayat Hassan, Direktorin des Thinktanks Centre for Democracy an Development in Nigeria, auf Zeit Online. Die Bedrohung durch Fake News sei in Nigeria seit dem Ebola-Ausbruch 2014 noch gewachsen: "Für die schon jetzt überforderte nigerianische Seuchenbekämpfungsbehörde NCDC (Nigerian Centre for Disease Control) bedeutet das: Sie muss nicht nur gegen das Coronavirus vorgehen, sondern auch gegen Fake News.  Am Centre for Democracy and Development haben wir das Fake-News-Ökosystem seit dem ersten bestätigten Fall von Covid-19 in Nigeria untersucht. Dabei ist zu beobachten, dass jene, die solche Informationen verbreiten, verschiedene Ziele haben: Panik schüren, Hamsterkäufe auslösen, falsche Heilmittel anbieten, medizinische Empfehlungen untergraben, Hatespeech gegen Nichtafrikaner propagieren, insbesondere gegen Chinesen, und generell eine Polarisierung entlang politischer Orientierungen befördern."

Die südkoreanische evangelikale Shincheonji-Sekte hielt sich nicht an das von der Regierung verordnete Social Distancing und wurde so zum Superspreader, berichtet Hoo Nam Seelmann in der NZZ und wirft einen Blick in die Geschichte koreanischer Sekten: "Ende des 19. Jahrhunderts (…) wurde Korea von vielen westlichen Ländern - der Imperialismus war voll im Gange - gezwungen, einen ungleichen Vertrag zu unterzeichnen. Eine Klausel war darin enthalten, dass Korea Missionsfreiheit zu gewähren habe. Dies führte dazu, dass unkontrolliert Missionare ins Land strömten. Mit der Ankunft der amerikanischen Version der evangelischen Kirchen war der Same der Spaltungen gesät, der dann im religiösen Vakuum wunderbar aufging. Denn die einheimischen koreanischen Religionen und deren Institutionen wurden während der japanischen Kolonialzeit (1910 bis 1945) weitgehend zerstört. Die christliche Religion kam so in einer sehr verformten Gestalt bereits in Korea an und erfuhr hier weitere Verbiegungen, deren seltsame Blüten man heute erlebt."

In der FAZ weist auch Kerstin Holm auf die Bedeutung von Religion als "Hotspot der Pandemie" hin: "In vielen asiatischen Ländern ist die enge Allianz von Religion und Politik ein Faktor, der es den Machthabern schwermacht, Gotteshäuser zu schließen und religiöse Veranstaltungen abzusagen. In Pakistan wurde Covid-19 von Pilgern eingeschleppt, die von einem Heiligtum in Iran zurückkehrten. Pakistans Präsident Arif Alvi twitterte zwar, er bete nur noch zu Hause, bat aber zugleich Allah für diese 'Sünde' um Verzeihung und begründete sie nicht medizinisch, sondern mit einer Koransure, wonach Kranke und Gesunde nicht zu vermischen seien. Sogleich erklärte ein prominenter islamischer Fernsehprediger das Rezitieren von Koranversen zum Heilmittel gegen Corona."

Berechnungen zufolge werden die Evangelikalen in Brasilien im Jahr 2032 die Mehrheit der Bevölkerung stellen, schreibt Niklas Franzen in der taz. Mit Rückendeckung von Jair Bolsonaro machen sich führende Evangelikale auch die Krise derzeit zunutze, etwa der landesweite bekannte Pastor Edir Macedo: "Der Gründer der Universalkirche des Königreichs Gottes sagte nicht nur, dass Corona eine 'Strategie Satans und der Medien' sei, um die Menschen in Panik zu versetzen. Macedo erklärte auch, dass der Glauben die beste Medizin gegen das Virus sei. Paulo Junior ging noch weiter: Der Pastor aus Sao Paulo schwadronierte, Europa sei das Epizentrum der Pandemie, weil es ein 'post-christlicher Kontinent' sei und dort 'Atheismus, Islamismus und Homosexualismus' herrsche."

Weitere Artikel: Im FAZ-Interview mit Hannes Hintermeier erklärt die in Brasilien lebende Autorin Ute Craemer, wie sich das Coronavirus in den brasilianischen Favelas ausbreitete: "Das ist keine Premiere. Auch die Drogen kamen über die Oberschicht in die Favelas."
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Kulturmarkt

Der PEN-Club Deutschland hat seine einstige Bedeutung seit Jahrzehnten eingebüßt. Nun meldet er sich mal wieder und fordert laut Börsenblatt, dass Buchhandlungen und Bibliotheken öffnen. Im Aufruf heißt es: "Der Zugang zu Büchern und damit zu Wissen und Information darf in einer freiheitlichen Demokratie unter keinen Umständen eingeschränkt werden. Buchhandlungen und Bibliotheken müssen daher umgehend wieder geöffnet werden! Gerade in Zeiten von Schulschließungen ist die beratende Funktion des Buchhandels für Eltern unverzichtbar."

Literatur ist systemrelevant, schreibt Mely Kiyak auf Zeit Online, die ebenfalls die Wiedereröffnung der Buchläden fordert. Von den Verlagen wünscht sie sich mehr Mut: "Wie bezeichnend, dass Autoren auf eigene Faust das auf die Beine stellen, was eigentlich die Aufgabe der 'Branche' wäre. Die Schriftsteller sind im Moment vor allem agil und die Verlage vor allem bräsig. Staunend retweeten sie, was die Autoren mit wackeligen Kameras und miesem Ton auf die Beine stellen. Dabei hätten die Initiativen auch von den Verlagen ausgehen können. Schon allein deshalb, um den Ausfall der Lesehonorare aufzufangen. Denn was die Autoren jetzt veranstalten, veranstalten sie auf eigene Kosten und kostenlos." In der NZZ schildert auch Rainer Moritz die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Verlagsbranche.
Archiv: Kulturmarkt

Ideen

Dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks droht der "digitale Leninismus" chinesischer Prägung über den Liberalismus zu triumphieren, auch wenn die Corona-Krise von China ausging, meint Adam Soboczynski in der Zeit: "Der Westen ist in lebenserhaltende Abhängigkeit von der größten und mächtigsten Diktatur auf Erden geraten. Manager und Politiker nennen diese zweifelhafte Entwicklung seit Jahrzehnten feierlich Globalisierung, weil sie uns als Handelsnation über lange Zeit so herrlich genutzt hat und man die tollen deutschen SUVs exportieren konnte."
Archiv: Ideen