9punkt - Die Debattenrundschau

Wie das Glas gefärbt ist

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.07.2020. Gegen den Mainstream hilft nur noch ein Dark Web. Der Mainstream, das sind für Simon Sahner in 54books die Feuilletons in den Mainstream-Medien, wo zuweilen noch Artikel erscheinen, die gegen die kulturalistische Linke argumentieren. Aber Simon Strauss sieht es in der FAZ ganz ähnlich, auch wenn er doch sozusagen anders jenseits des Mainstreams ist. Die Mainstream-Medien wie die SZ schreiben sich unterdessen Grundsatzpapiere, über die die Branche (naja, wenigstens Meedia) lacht. Deutschland ist in Rechtsextremismus Spitze, konstatieren zwei Forscher in Zeit online. Kant ist ein Aufklärer, aber es lohnt sich auch Georg Forster zu lesen, um Aufklärung zu verstehen, findet Wolf Lepenies in der Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.07.2020 finden Sie hier

Ideen

Im ehrgeizigen Feuilletonblog 54books versteht Simon Sahner nicht, dass die Argumente der kulturalistischen Linken nicht überall so glatt durch gehen wie in den Hauptseminaren an den Unis und erkennt in Gegenargumenten in Feuilletons (wo durchaus auch die andere Seite gut vertreten ist) ein Muster: "Das Muster ist und bleibt bei jedem Thema und seiner Wiederholung das gleiche: Aufgrund von gesellschaftlichen Veränderungen und kulturellen Verschiebungen sehen sich Vertreter*innen einer etablierten Haltung bedroht und unternehmen den Versuch, die Veränderung zu diskreditieren. Dabei werden Strohmann-Thesen und Popanze entworfen, die oft entweder auf unbegründeten Vermutungen, Generalisierungen oder auf Vorurteilen beruhen und eine Drohkulisse entwerfen, die einer differenzierten Betrachtung selten standhält." Sahner streitet heute auch an einer anderen Front, mehr in efeu.

Aber nicht nur im Blog 54books, auch in der FAZ erscheint heute ein Artikel gegen den intellektuellen Mainstream: Simon Strauss singt in der FAZ ein Loblied auf auf das "Intellectual Dark Web", das sich, wie der Name schon sagt, eher im Internet organisiert. Dazu zählen auch Autoren, die als "rechts" gelten, aber auch Leute wie Steven Pinker oder Ayaan Hirsi Ali: "Es geht um die sozialen Konsequenzen der Identitätspolitik, um die kulturelle Hegemonie des Dekonstruktivismus an Universitäten und ganz generell um das Aushalten von Unterschieden im Politischen, Geschlechtlichen oder Religiösen. Ein robustes Verständnis von Öffentlichkeit, ein tiefes Vertrauen in den Markt - sowohl den ökonomischen wie den diskursiven - mischen sich mit dem heroischen Widerstandsgefühl, aus dem Mainstream ausgeschert zu sein."

Gegen Kants systematisches Denken, das die Menschen in "Racen" einteilte, setzte der große Reisende Georg Forster auf die eigene Erfahrung - ebenfalls ein Prinzip der Aufklärung, insistiert Wolf Lepenies in der Welt: "In der ethnografischen Darstellung versuchte Forster dem Leser stets deutlich zu machen, 'wie das Glas gefärbt ist, durch welches ich gesehen habe'. Er hat die Wahrnehmungsverzerrungen, denen jeder Fremdbeobachter unterliegt, sorgfältig notiert. Werturteile, die er formuliert, insbesondere negative Einschätzungen fremder Sitten, die er nicht unterdrücken kann, werden von ihm stets durch Kennzeichnungen wie 'nach unseren Begriffen', 'in unseren Augen' oder 'unseren vaterländischen Begriffen nach' relativiert."

Linker Antisemtismus? Antisemitismus der 68er? Unmöglich, ruft Gretchen Dutschke-Klotz in Antwort auf einen Essay von Alan Posener im Blog starke-meinungen.de: "Menschen als antisemitisch zu beschimpfen, ist eine beliebte Form der Denunziation geworden, die übermäßig von Israel-Lobby-Organisationen durchgeführt wird, um alle Kritik an der israelischen Apartheid-Politik zum Schweigen zu bringen. Sie wird vor allem gegen Juden benutzt, die Israel kritisieren, und in Deutschland funktioniert das wegen der anhaltenden Schuldgefühle auch besonders gut."

Außerdem: In der SZ sucht Joseph Croituru nach Formfehlern bei der Definition des Begriffs "Antisemitismus" durch die Bundesregierung.
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Gesellschaft

Laut einem Trendreport zu Rechtsterrorismus und rechter Gewalt des Center for Research on Extremism (C-REX) an der Universität Oslo steht Deutschland in Westeuropa an der Spitze, was schwere Fälle rechtsextremer Gewalt angeht, erklären Anders Ravik Jupskås, Stellvertretender Leiter des Center for Research on Extremism (C-REX) an der Universität Oslo, und Daniel Köhler, Leiter des unabhängigen German Institute on Radicalization and De-Radicalization Studies (Girds), auf Zeit online. Ihre Forderung: "Die Behörden müssen mehr tun, auch in Deutschland. Zwar wurden hier die personellen Kapazitäten im Staatsschutz erheblich aufgestockt und endlich ein Instrument zur Risikoabschätzung für rechtsextremistische Gefährder entwickelt, doch erhalten Neonazis immer noch zu leicht Zugang zu Waffen. Und während das Bundeskriminalamt in jüngster Zeit mit sogenannten 'virtuellen Agenten' versucht, potenzielle Attentäter zu identifizieren, ist das Aufspüren onlinebasierter Radikalisierungsprozesse noch deutlich unterentwickelt. Die Behörden wissen zu wenig über neue Milieus rechtsextremer Radikalisierung, etwa in Messenger-Apps wie Telegram oder TikTok."

Außerdem: Wir brauchen gar nicht in die USA zu gucken, Deutschland hat sein eigenes Rassismusproblem, meint in der Berliner Zeitung der Schriftsteller Christopher Kloeble, schreibt dann aber doch mehr über den Kolonialismus Großbritanniens.
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Kulturpolitik

In der SZ empfiehlt die Juristin Sophie Schönberger, das Gutachten des Wissenschaftsrats zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz einmal "gegen den Strich lesen", dann werde nämlich klar, dass die Organisations- und Zuständigkeitsprobleme schon weit über der SPK beginnen: Laut Gutachten soll nämlich (als einzige?) die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (Monika Grütters) ihre "Ressortzuständigkeit" behalten. Doch die habe gar kein Ressort, weil sie kein Ministerium habe. "Die unklaren Kompetenzen und Verantwortlichkeiten, die die Gutachter des Wissenschaftsrats bei der SPK monieren, beginnen also auf der Ebene oberhalb der Stiftung. Die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, die den neu zu schaffenden Kultureinrichtungen übergeordnet bleiben soll, hat selbst ein umfassendes strukturelles Problem der eigenen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten gegenüber den Ländern einerseits und gegenüber der Bundesregierung andererseits. Auch auf verwaltungspraktischer Ebene leidet die Behörde darunter, dass sie kein Ministerium ist."
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Medien

Es gibt Themen, über die selbst auf Medienseiten offenbar ungern berichtet wird - keinerlei Echo gefunden hat Kai-Hinrich Renners Artikel über die doch recht bedeutsamen Revirements bei der Süddeutschen Zeitung (unser Resümee). Hinzukommt, dass die SZ gleichzeitig ein Grundsatzpapier über "Unseren Wert, unsere Werte" veröffentlicht hat, über das die ganze Branche lacht - so sehr klingt es als sei es aus einem Mediationsworkshop für Print und Online hervorgegangen: "Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der SZ hören einander zu, unabhängig von Alter, Geschlecht, Hierarchie und Betriebszugehörigkeit." Und: "Ein guter Text ist ein guter Text, egal, ob dieser digital ausgespielt oder gedruckt wird", versichert man da mit treuherzigem Augenaufschlag, und "Die Redaktionsmitglieder sind offen für die journalistischen Möglichkeiten neuer Kanäle und Technologien". Diskutiert wurden diese Grundsätze nirgends. Immerhin kommentiert Ben Krischke bei Meedia: "Jene, die den Laden besser kennen, wissen diese und weitere Banalitäten gleichwohl anders zu deuten. Denn was nach Selbstverständlichkeit klingt, ist bei der SZ alles andere als das. In Berg am Laim liegt im Jahr 2020 immer noch ein Hektar Brachland - nur vereinzelt durch Schleichwege verbunden - zwischen den Schützengräben der Printler hier und der Onliner dort."
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Stichwörter: Süddeutsche Zeitung

Überwachung

Julia Reda greift bei heise.de eine Recherche von Netzpolitik über die polnische Firma PimEyes auf, die Hunderte von Millionen frei verfügbarer Fotos im Internet zum Zweck der Gesichtserkennung scannt und das mühsam als ein Datenschutzansinnen kaschiert. In Europa, so Reda, gibt es bisher kaum ein Bewusstsein dafür, wie gefährlich Gesichtserkennung überhaupt ist - im Gegenteil: "Auch deutsche Behörden setzen vermehrt Gesichtserkennung ein. Die Anzahl der Abfragen von Gesichtserkennungsdatenbanken durch Bundespolizei und Kriminalämter nimmt rasant zu. Dennoch ist in Deutschland und Europa bislang eine breite gesellschaftliche Debatte darüber ausgeblieben, wie die immer weitere Verbreitung von Gesichtserkennung im Alltag nicht nur zu falschen Verdächtigungen beitragen kann, sondern auch unser Verhalten im öffentlichen Raum beeinflusst."
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Geschichte

Polen verdient sehr wohl ein eigenes Mahnmal in Berlin, denn die Vernichtung Polens war für die Nazis ein eigenes Ziel - und die Nazis radikalisierten damit eine traurige Linie deutscher Politik, schreibt Welt-Autor Thomas Schmid in seinem Blog. Hinzu kommt der Hitler-Stalin-Pakt: "Polen wurden deshalb Opfer der Deutschen Wehrmacht, der Sondereinheiten, der SS und der Roten Armee und des NKWD. Hitler und Stalin haben gemeinsam dazu beigetragen, den multiethnischen Charakter Polens zu zerstören. Unter Historikern ist es strittig, ob Stalin mit diesem Teufelspakt nur Zeit gewinnen wollte, um die Rote Armee für den deutschen Angriff aufzurüsten. Für die Nachkommen der Opfer und für alle Polen dürfte das freilich ohne Bedeutung sein."
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Politik

Donald Trump hat in Portland, Oregon, zur Niederschlagung der Demonstrationen bewaffnete Kräfte in Militäruniform eingesetzt, die mit der unbestimmten Aufschrift "Polizei" markiert waren. Inzwischen mehren sich die Zeichen, dass sie Teil einer speziellen Grenzpolizei sind, die normalerweise Drogengangs aufspürt. Dass sie jetzt von der Regierung gegen Demonstranten eingesetzt werden, ist für den Historiker Timothy Snyder ein deutlicher Hinweis, dass sich die USA in Richtung auf einen faschistischen Staat bewegen, erklärt in der New York Times Michelle Goldberg, die sich mit Snyder unterhalten hat. "Es stimmt, dass das C.B.P. keine paramilitärische Miliz ist und daher möglicherweise nicht genau in Snyders Schema 'Über die Tyrannei' passt. Aber als ich am Montag mit Snyder sprach, meinte er, die Unterscheidung sei nicht so bedeutsam. 'Der Staat darf Gewalt anwenden, aber nur nach dem Gesetz', sagte er. Diese Agenten, die außerhalb ihrer normalen Rollen agieren, verhalten sich allem Anschein nach gesetzwidrig. Snyder wies darauf hin, dass es in der Geschichte der Autokratie mehrere Beispiele dafür gibt, dass Grenzbeamte gegen Regimegegner eingesetzt wurden. 'Dies ist ein klassischer Weg, wie Gewalt in autoritären Regimen ausgeübt wird, sei es im Spanien Francos oder sei es im Russischen Reich', sagte Snyder. 'Die Menschen, die sich daran gewöhnt haben, an der Grenze Gewalt zu begehen, werden dann dazu gebracht, Gewalt gegen Menschen im Landesinneren zu begehen', so Snyder."
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