9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht scharf genug

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.08.2022. Alexander Dugin ist kein Putin-Flüsterer schreibt Masha Gessen im New Yorker, aber auf vertrackte Weise nützlich war er für Putin schon. In der SZ beobachtet Historikerin Christina Morina, wie sich der "Schlussstrich" immer weiter von rechts nach links verschob. In der FAS erinnert Ronya Othmann das wohlwollende Publikum an die Fortexistenz des Islamismus. In der FAZ diagnostiziert Claudius Seidl: Die eigentliche Verschwendung in den Öffentlich-Rechtlichen ist das Programm. Und die New York Times ist fasziniert: Künstliche Intelligenz wird immer intelligenter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.08.2022 finden Sie hier

Europa

Die Russen spüren die Sanktionen, aber nicht in einem Ausmaß, das sie aufbegehren lässt. Der Krieg rückt näher, wie die Explosionen auf der Krim oder der Mord an Darja Dugina zeigen, aber die Bevölkerung verhält sich nicht anders als sonst, schreibt taz-Korrespondentin Inna Hartwich über den zu Ende gehenden Moskauer Sommer: "In der Anpassung hat die russische Gesellschaft Übung. Vom Staat erwarten die wenigsten etwas, für den Staat zählt der Einzelne nichts. Nahezu alle schauen, dass sie irgendwie überleben. Das politische System will es so. Die mangelnde Gestaltungsmöglichkeit für den Einzelnen erzeugt ein Gefühl der Ohnmacht und macht stumpf."

Alexander Dugin ist kein Putin-Flüsterer schreibt Masha Gessen, die sich für ein Buch mit Dugin beschäftigte, im New Yorker. Aber sein Einfluss lässt sich nicht leugnen. Das Verhältnis von Regime-Intellektuellen und Macht ist intrikat, so Gessen: "Dugin war der Ansicht, dass Putin vor acht Jahren in der Ukraine nicht weit genug gegangen ist. Dugin wetterte gegen das, was er als Schwäche des russischen Präsidenten empfand. In dieser Rolle war Dugin für Putin wohl genauso nützlich wie in seiner Funktion als eine Art Schattenideologe. Alle politischen Regime brauchen ihre Kritiker, um die Ränder zu markieren, damit sich der Führer in der imaginären Mitte positionieren kann. Dugins imperialistische Ambitionen ließen Putin moderat erscheinen."

Eine interessante Koalition hat sich gebildet, die die Arbeit des "Zentrums Liberale Moderne" (kurz libmod.de) unter die Lupe nimmt, jenes Thinktanks, der von den grünen Expolitikern und Eheleuten Ralf Fücks und Marielusie Beck gegründet wurde. Die beiden gehören zugleich zu den prominentesten proukrainischen Stimmen in Deutschland. Zunächst hatte der wohl eher der Linken zuzurechnende Moderator Friedrich Küppersbusch herausgefunden, dass das Zentrum unter anderem vom Bundespresseamt gefördert wird, hier das Video. Dann hat die AfD im Bundestag eine Anfrage gestellt, die unter anderem nach Förderungen für Libmod fragt. Über die Ergebnisse berichtet Florian Warweg (übrigens ehemals RT DE, mehr hier) im links- (oder rechts-?)konspirativen Blog Nachdenkseiten, allerdings ohne zu erwähnen, dass die Anfrage von der AfD kam. Die Ergebnisse: "Laut Antwort der Bundesregierung finanzierten alleine im Zeitraum von 2017 bis 2022 das Auswärtige Amt, das Innen- und Familienministerium sowie das Bundespresseamt insgesamt 19 Projekte des Zentrums Liberale Moderne in einer Gesamthöhe von fünf Millionen Euro. Darunter unter anderem Projekte wie 'Ukraine in Europa 21-22' im Umfang von 709.637 Euro, 'Die liberale Demokratie und ihre Gegner' mit 496.089 Euro sowie die zwei Projekte 'Russlanddeutsche Influencer:innen stärken' und 'Spätaussiedler für Demokratie im Netz', welche mit insgesamt 626.103 Euro vom Innenministerium gefördert wurden." Libmod hatte auf seiner Seite "Gegneranylse" übrigens seinerseits über das Blog Nachdenkseiten recherchiert und dafür laut Nachdenkseiten eine Förderung von über 300.000 Euro erhalten!

Der Dnepr, oder ukrainisch: Dnipro galt lange als die Grenze zwischen der westlich gesinnten und Ukraine und dem sich nach Osten öffnenden Chaos. Heute nicht mehr, schreibt Sonja Zekri, die für die SZ in die Ukraine gereist ist: "Nach sechs Monaten Krieg, nach versuchten und gescheiterten Flussüberquerungen, verteidigten und verlorenen Ufern, nach Zehntausenden Toten und verwüsteten Landstrichen trennt der Dnipro die westliche und die östliche Region der Ukraine nicht mehr, er vereinigt sie. Nicht nur Cherson, Saporischschja und Kiew liegen am Dnipro, sondern die ganze Ukraine."
Archiv: Europa

Wissenschaft

Künstliche Intelligenz ist viel schneller viel weiter gekommen, als alle es vorausgesagt haben. Ein bekanntes deutsches Beispiel ist die Übersetzungssoftware deepl, die häufig fast deprimierend gute Ergebnisse abliefert (der Perlentaucher nutzt sie jeden Tag). Und es gibt andere Beispiele wie etwa Sprachsoftware, schreibt Kevin Goose in einem Hintergrundartikel für die New York Times: "Inzwischen werden große Sprachmodellierer wie GPT-3 von OpenAI verwendet, um Drehbücher zu schreiben, Marketing-E-Mails zu verfassen und Videospiele zu entwickeln. (Ich habe GPT-3 sogar verwendet, um letztes Jahr eine Buchbesprechung für diese Zeitung zu schreiben - und wenn ich meine Redakteure nicht vorher informiert hätte, bezweifle ich, dass sie etwas geahnt hätten)." Ein anderes Beispiel ist Googles "Deepmind"-Programm, das mittels KI gelernt hat, die Faltung von Eiweißen zu beschreiben und vorauszusagen, offenbar ein gigantischer Fortschritt. Sowohl Risiken, als auch Chancen müssten dringend die Politik auf den Plan rufen, so Goose: "Ajeya Cotra, eine leitende Analystin bei Open Philanthropy, die sich mit den Risiken der künstlichen Intelligenz befasst, schätzte vor zwei Jahren, dass die Wahrscheinlichkeit einer 'künstlichen Intelligenz', die 'transformatorische' Eigenschaften aufweist, bei 15 Prozent liegt. Sie und andere definieren so KI haben, die gut genug ist, um weitreichende wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, wie zum Beispiel die Abschaffung wissensbasierter Angestelltenjobs - bis zum Jahr 2036. In einem kürzlich veröffentlichten Beitrag erhöhte Frau Cotra die Einschätzung dieser Wahrscheinlichkeit auf 35 Prozent und verwies auf die rasche Verbesserung von Systemen wie GPT-3."
Archiv: Wissenschaft

Medien

Die eigentliche Verschwendung in den Öffentlich-Rechtlichen ist das Programm, schreibt Claudius Seidl in der FAZ: All die Bozen-, Istanbul-, Potsdam-Krimis: Man kann zu jeder beliebigen Tageszeit eine Stichprobe machen und stets den gleichen Schrott ernten. Aber die Debatte um die Sender ist für Seidl auch ein Beispiel für die blockierte Öffentlichkeit, in der wir leben: "Die Kritik der öffentlich-rechtlichen Programme hat ja in den vergangenen Jahren so funktioniert, dass die AfD den ganzen Laden abschaffen wollte, weshalb jeder besonnene Gebührenzahler ihn verteidigen musste. Wenn es die Öffentlich-Rechtlichen nicht gäbe, müsste man sie erfinden, sagen die gern über sich selbst - und übersehen dabei, dass man sicher nicht diesen aufgeblähten, unbeweglichen, ständig unter seinen eigenen Möglichkeiten arbeitenden Riesenapparat erfände. Und erst recht nicht die daran angeschlossene Fiktionsindustrie."

Irgendwie benennt auch Carolin Emcke heute in ihrer SZ-Kolumne diese bei den Öffentlich-Rechtlichen eigenartig gehemmte Öffentlichkeit. "Vielleicht ist das der eigentliche Skandal, den es aufzuklären gilt: dass diejenigen, die das System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für eine unverzichtbare, großartige Institution halten, es nicht scharf genug kritisiert haben, wenn es erkennbar seinem Anspruch und Auftrag nicht nachkam."
Archiv: Medien

Religion

Der Papst wird an diesem Wochenende Kardinäle weihen. Das gesamte Kardinalskollegium wird aus diesem Anlass anreisen, auch jene Kardinäle unter achtzig, die bei einem Konklave abstimmen dürften. Das Ereignis wird in den noch an der katholischen Kirche interessierten Kreisen mit Nervosität erwartet, schreibt Daniel Deckers in der FAZ, der in den Reformwillen des Papstes keine allzu großen Hoffnungen setzt: "Franziskus hat bislang kein Jota daran geändert, dass ein Papst nichts und niemandem Rechenschaft schuldig ist - den Umgang mit Bischöfen und Kardinälen eingeschlossen, die in der von ihm als 'Feldlazarett' bezeichneten Kirche weniger als Heiler und Tröster unterwegs sind denn als Stümper, Scharlatane oder als Totengräber."
Archiv: Religion
Stichwörter: Franziskus

Politik

Völkermorde geschehen immer wieder. Die Öffentlichkeit nimmt sie oft nicht rechtzeitig wahr, weil sie sie nicht einordnen kann. Vergleiche helfen, können aber auch Wahrnehmung beeinträchtigen, sagt Tali Nates vom "Johannesburg Holocaust & Genocide Centre" im Gespräch mit Julia Hubernagel von der taz. Pragmatismus kann auch bei diesem Thema nicht schaden, findet sie: "Der amerikanische Professor für Völkermordforschung Gregory Stanton hat ein System aus zehn Stufen des Völkermords entwickelt, das uns hilft, Warnzeichen zu erkennen. Ich glaube, was sich im Laufe der Jahre geändert hat, ist, dass wir diese Verbindungen schneller herstellen. In der Ukraine werden gerade Beweise für Kriegsverbrechen gesammelt. Das ist in Myanmar oder im Irak nicht geschehen. Wir sind dabei, bestimmte Anzeichen früher zu erkennen oder zumindest darüber zu sprechen. Sind wir schon am Ziel? Nein, aber wir bewegen uns."
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Gesellschaft

Ronya Othmann  reicht es langsam. Sie kommt in ihrer FAS-Kolumne nochmal auf den Artikel der taz-Korrespondentin Julia Neumann (unser Resümee) zurück, die Kritik am Kopftuchzwang im Iran als "rechts" denunziert hatte. Aber der Islamismus ist immer noch virulent, insistiert Othmann mit Verweis auf den Mordversuch an Salman Rushdie. Und einiges sollte auch dem gewogenen deutschen Publikum klar werden: "Dass hierzulande Menschen von Islamisten bedroht werden. Dass die meisten eingeleiteten Terrorverfahren sich auch heute noch gegen Islamisten richten. Den Islamismus ernst zu nehmen bedeutet auch, endlich über den ideologischen, religiösen und politischen Nährboden zu sprechen, in dem er blüht und gedeiht. Und das, ohne die Täter gleich wieder zu Opfern umzudeuten (Opfer von Rassismus, Kolonialismus) und sich damit als Erklärung zufriedenzugeben."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

In der SZ blickt die Historikerin Christina Morina fasziniert auf die Debatte über Antisemitismus auf der Documenta. Der "wenig kompetente" Umgang der Documenta-Leitung mit dem Thema ist ihrer Ansicht nach auf "tektonische Verschiebungen in der politischen Kultur" zurückzuführen: Der Schlussstrich unter den Holocaust, an dessen Einforderung man früher rechte Beschöniger erkannte, wird heute von einem breiten Bündnis gefordert. "So offen wie nie zuvor (zumindest seit Martin Walsers Paulskirchen- und Björn Höckes Schandmal-Rede nicht mehr) machen sich Erinnerungsermüdung, Normalisierungsrhetorik und Politisierungslust in jüngster Zeit breit. Man wünscht ein 'Ende der deutschen Holocaust-Orthodoxie' und setzt atemberaubend kaltherzig auf das Aussterben der Überlebenden (Wolfgang Reinhard). Verflucht den 'Katechismus der Deutschen' (A. Dirk Moses), verengt die Vergegenwärtigung von Geschichte auf ihren Sinn und Nutzen für gegenwärtige Ungerechtigkeitskämpfe (Michael Rothberg), marschiert im schlimmsten Wutbürgerton gegen das 'Gebrüll' der 'Bataillone' von Anti-Antisemiten anschreiend über die 'Verantwortung für die angemessene Erinnerung' hinweg, die Deutschland halt nie wieder loswerde (Eva Menasse)." Der Vorstellung, man könne den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern in Deutschland diskutieren, abgetrennt "von der deutsch-jüdischen Geschichte" oder "der deutsch-jüdischen Gegenwart" erteilt Morina eine klare Absage.
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