Efeu - Die Kulturrundschau

Schwarze, geduckte, tonnenschwere Spannung

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22.12.2015. Physik verkauft sich besser als Sex! Der Spectator besucht den von seinem Bucherfolg noch ganz verdutzten Carlo Rovelli. Die NZZ besucht das von Herzog & de Meuron erweiterte Museum in Colmar. Die Welt steht gebannt vor dem Isenheimer Altar. Der Merkur bewundert Igor Levits Tanz zu den Goldberg-Variationen. Die Welt ärgert sich über ein geschöntes Biopic zu den Hollywood Ten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.12.2015 finden Sie hier

Architektur


Das Museé Unterlinden mit Erweiterungsbau

Karin Leydecker besucht für die NZZ den von Herzog & de Meuron gestalteten Erweiterungsbau für das Musée Unterlinden im mittelalterlichen Colmar: "Diese Aufgabe erforderte Fingerspitzengefühl, denn schließlich ging es nicht um irgendeinen Neubau auf der grünen Wiese, sondern um den Umbau alter Bausubstanz und um geschickte Integration von alten und neuen Gebäuden auf einem heiklen Bauplatz im historischen Zentrum von Colmar an der Place Unterlinden. Dies gelang durch den genialen Kunstgriff einer 'Stadt in der Stadt': In Maßarbeit implementierten Herzog & de Meuron ihre kleine Museumsstadt in den urbanen Kontext und figurierten als zentrales Element einen signifikanten Platz. 'Wir wollten einen Ort schaffen, der für Colmar wichtig ist und zu dem jeder gerne hingeht, auch wenn er nicht das Musée Unterlinden besuchen will', beschreiben die Architekten die Herausforderung."


Detail von der Rückseite des Isenheimer Altars

Währenddessen steht Welt-Autor Hans-Joachim Müller vor Colmars größtem Schatz, dem Isenheimer Altar des Matthias Grünewald: "Toter ist der tote Christus kaum einmal gezeigt worden, hilfsbedürftiger als in den Armen seiner Mutter war er nie. Und wenn einen auch längst keine Engelsfrage mehr bewegt, dann gehen einem doch die schwarzgrünen Himmel nicht aus dem Kopf, und man sucht in Colmar noch eine 'Winstub' und muss immerzu daran denken, dass es keine aufgehende Sonne gibt im Werk des Malers Grünewald und keine Venus mit dem Amorknaben."
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Literatur

In England ist Carlo Rovellis "Sieben kurze Lektionen über Physik" Penguins am schnellsten verkauftes wissenschaftliches Debüt überhaupt, in Italien hat das Buch sogar "Fifty Shades of Grey" überholt, berichtet im Spectator Ian Thomson, der den von seinem Erfolg noch völlig verdutzten Autor getroffen hat: "'Mein Ziel war immer, ein Buch für Laien zu schreiben', sagt er. Tatsächlich begann es mit einer Reihe von Zeitungsartikeln - die Idee dahinter war, nur die interessantesten Sachen zu behandeln. 'Ich beschloss, mich auf die Schönheit der modernen Physik zu konzentrieren und alles, was langweilig klang, wegzulassen.' Damit führt er eine Tradition des jargonfreien wissenschaftlichen Schreibens von Galileo bis Darwin weiter - eine Kunst, die im letzten Jahrhundert mit der akademischen Spezialisierung verschwand."

Weiteres: Vor dem Kinostart des neuen "Peanuts"-Animationsfilm hat sich Lars von Törne vom Tagesspiegel mit Jean Schulz, der Witwe des Autors der Vorlage, Charles M . Schulz getroffen: Hier berichtet er von dem Treffen, bei dem er auch ein Interview geführt hat. Für den Tagesspiegel liest Gregor Dotzauer die neue Ausgabe der Zeitschrift WestEnd, die sich in ihrer neuen Ausgabe mit dem wiederentdeckten Roman "Stoner" von John Williams befasst.

Besprochen werden Witold Gombrowicz' aus dem Nachlass herausgegebenes Tagebuch "Kronos" (NZZ), Jean-François Haas' Dorfkrimi "Dunkler Weg zum Teich" (NZZ), ein Band über den "Nutzen der Architekturfotografie" (NZZ), Michail Ossorgins wiederaufgelegter Roman "Eine Straße in Moskau" aus dem Jahr 1929 (SZ), F. Scotts Fitzgeralds erstmals auf Deutsch erschienener Reisebericht "Die Straße der Pfirsiche" (Tagesspiegel), Josh Weils "Das gläserne Meer" (Zeit) und Lynne Schwartz' "Für immer ist ganz schön lange" (FAZ).
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Kunst

Besprochen wird die Ausstellung "Ich bin hier - Von Rembrandt zum Selfie" in der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe (FAZ).

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Stichwörter: Selfies, Rijn, Rembrandt van

Musik

Auch Helmut Müller-Sievers zeigt sich im Merkur-Blog außerordentlich beeindruckt von der New Yorker Performance mit Marina Abramovic und Igor Levit, der Bachs Goldberg Variationen spielte: Es war "ein schöner, lehrreicher und am Ende sehr bewegender Abend. Zunächst wegen Levits Spiel, das man sich klarer, emphatischer und durchdachter nicht vorstellen kann. Jede Variation war ihm wichtig, jeden Tanz tanzte er mit. Er ist ein sehr kinetischer Pianist, doch scheinen seine Bewegungen alle aus dem Flügel selbst zu kommen, nicht aus dem Willen, ihn zu beherrschen. Überhaupt der Flügel: Wie er so langsam in die Halle gefahren wurde, musste man wieder einmal bestaunen, welche Meisterleistung der Ingenieurskunst der große Konzertflügel in seiner schwarzen, geduckten, tonnenschweren Spannung ist."

Weiteres: Für die Retrokolumne der SZ hört sich Andrian Kreye durch diverse Re-Issues aus den "spirituellen, brachialen und linksradikalen Ausbrüche des Jazz" der 60er und 70er. In der Zeit stellt Arno Frank den Austropopper Der Nino aus Wien vor. Für die FAZ besucht Irene Bazinger das der Sopranistin Birgit Nilsson gewidmete Museum auf der schwedischen Halbinsel Bjäre. Besprochen wird ein Erdmöbel-Konzert (FR),

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Bühne

In der Ukraine geht die Zeit, nach ersten Versuchen, die Theaterarbeit zu modernisieren, wieder zurück, berichtet in der NZZ Tom Mustroph, der sich beim Theaterfestival in Kiew umgehört hat: Nataliya Vorozhbyts "Maidan-Tagebücher" oder die Performancereihe "Wo ist der Osten?" findet man nur in kleinen, abgelegenen Spielstätten. "Etablierte Theaterhäuser hingegen bringen keine politischen Aktualitäten auf die Bühne: 'Das will unser Publikum nicht', meinte bei einer der Diskussionen während des Festivals brüsk der Bühnenbildner und Videokünstler Petro Bogomazov, der auch als Sohn des künstlerischen Leiters des zweitgrößten Theaterhauses im Lande Gewicht hat."

Weiteres: Die Freie Szene war auch schon mal wilder, anarchischer, aufregender. Dass sie sich derzeit konsolidiert und professionalisiert, findet Günther Grosser, Leiter des English Theatre Berlin, in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel allerdings gar nicht schlecht.

Besprochen werden der Ballettabend "Restless" im Opernhaus Zürich (NZZ), Dieter Dorns Berliner Inszenierung von Giuseppe Verdis "Traviata" (taz, FAZ, SZ, mehr hier), Daniel Forsters Inszenierung von Strindbergs "Fräulein Julie" im Schauspiel Frankfurt (FR), der Theaterabend "Curtain Call" mit Judith Rosmair und Uwe Dierksen in Frankfurt (FR) und Aszure Bartons in München uraufgeführte Choreografie "Adam is" (SZ).
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Film


Szene aus "Trumbo" mit Helen Mirren als Hedda Hopper und Bryan Cranston als Dalton Trumbo

In der Welt ist Hannes Stein supergenervt von dem verlogenen antifaschistischen Widerstand Hollywoods, der sich in den immer wieder filmisch gefeierten Hollywood Ten zeigt, die 1947 die Aussage vor McCarthys "House Un-American Activities Committee" verweigerten. Dazu gehörte auch der Drehbuchautor Dalton Trumbo, dem jetzt ein Biopic gewidmet ist: "Die Verlogenheit beginnt damit, dass im Vorspann behauptet wird, Trumbo sei der Kommunistischen Partei erst 1943 beigetreten - und zwar aus purem, lauterem Antifaschismus. In Wahrheit war Trumbo schon Ende der dreißiger Jahre ein Kommunist. Und von 1939 bis 1941 folgte er brav der Parteilinie. Das heißt, er verteidigte den Ribbentrop-Molotow-Pakt und war strikt dagegen, dass die Vereinigten Staaten die Briten in ihrem einsamen Kampf gegen Hitler unterstützten."

Besprochen wird außerdem die Verfilmung von Hape Kerkelings Bestseller "Ich bin dann mal weg" (SZ).
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