Efeu - Die Kulturrundschau

Die schmelzenden Vorhalte

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26.03.2016. Die NZZ feiert Moga, das japanische modern girl. Die Welt bestaunt in Berlin das deutsche modern girl. Die FAZ lässt sich von Beethoven und Christian Thielemann Heil und Trost spenden. Die SZ hört den Blues enttäuschter Hoffnungen. Die Welt besucht Mario Vargas Llosa.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.03.2016 finden Sie hier

Kunst

Kobayakawa Kiyoshi: Tipsy, 1930Kobayakawa Kiyoshi: Tipsy, 1930
Dass japanische Holzschnitte trotz der aufkommenden Fotografie Anfang des 20. Jahrhunderts noch einmal populär wurden, lag nicht zuletzt an einem neuen Frauentyp, der hier gefeiert wurde: der emanzipierten Frau, schreibt Philipp Meier in einem schönen Essay in der NZZ. "Das 'Moga', eine Kurzform für das von 'Modern Girl' abgeleitete japanische 'Modan gaaru', wurde erstmals 1924 in einer Frauenzeitschrift zum Thema - just im Erscheinungsjahr von Junichiro Tanizakis Novelle 'Naomi oder eine unersättliche Liebe', die von einer japanischen Femme fatale handelt. Als apolitisch, autonom, frei von altmodischen Konventionen, kokett sowie erotisch aktiv und promiskuös, anarchistisch, militant und vor allem verwestlicht wurde dieser brandneue Frauentypus charakterisiert. Mit kurz geschnittenem Haar und ebenso kurzen Röcken, Make-up und Schmuck tragend, suchten die Mogas die Bars, Cafés, Warenhäuser, Kinos und Tanzlokale des neuen Tokioter Ginza-Quartiers auf, immer Ausschau haltend nach attraktiven jungen Männern, den sogenannten Mobos."

Eva Kemlein (1909 - 2004) © Stadtmuseum BerlinEva Kemlein (1909 - 2004) © Stadtmuseum Berlin
Auch dem deutschen modern girl ist derzeit eine Ausstellung gewidmet, "Berlin - Stadt der Frauen" im Ephraim-Palais in Berlin. Tilman Krause hat sie für die Welt wohlwollend durchwandert: Die Ausstellung, die die Jahre 1850 bis 1950 umfasst, präsentiert vor allem "weibliche Selbstentwürfe und Selbstverwirklichungen von Frauen aus dem Bürgertum. Ikonen der Arbeiterbewegung wie Rosa Luxemburg oder Clara Zetkin müssen diesmal draußen bleiben. ... Dafür gelangen jede Menge Frauen aus den Kreativberufen, aber auch Naturwissenschaftlerinnen und Unternehmerinnen ins Spiel. Und zwar solche, denen das Leben schwergemacht wurde. Die sich aber nicht unterkriegen ließen und nicht selten - her mit den weiblichen Waffen! - dank Tatkraft, Charme, Erfindungsreichtum eine erstaunliche Durchsetzungsfähigkeit entwickelten, obwohl sie alle noch vor dem Zeitalter der Gleichberechtigung agierten."

Für die FAZ hat Thomas David den Autor Tomi Ungerer bei der Hängung seiner Collagen im Museum Folkwang in Essen begleitet. Dabei konnte er auch schon einen Blick auf neue, unter den Eindrücken jüngster politischer Entwicklungen entstandene Arbeiten werfen: Bei diesen handelt es sich um "grandiose, den Betrachter verstörende Collagen aus dem Fundus einer nicht einzudämmenden, bis in die Gegenwart wabernden Vergangenheit ... 'Ekel und Zorn waren eigentlich schon immer die größte Inspiration meiner Arbeit", sagt er, "aber im Moment passiert auf der Welt so viel, dass ich wieder reagiere wie mit zwanzig.'" Die neuen Arbeiten sind ab Ende April in Berlin zu sehen.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Holbein in Berlin" im Bodemuseum in Berlin (taz) und Amie Siegels Ausstellung "Double Negative" in der Villa Stuck in München (SZ).
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Film

Passend zu den Feiertagen wirft Anke Westphal in der Berliner Zeitung einen Blick auf neue Bibelfilmproduktionen, die in den USA mit Blick auf die so finanzkräftige wie gläubige Zielgruppe gedreht werden. Hanns-Georg Rodek tut dasselbe in der Welt. In der Jungle World resümiert Alina Schwermer das Berliner Fußballfilm-Festival.

Besprochen werden Zack Snyders neuer Batman/Superman-Film (FR, unsere Kritik hier), Bill Murrays neue Komödie "Rock the Kasbah" (ZeitOnline, FAZ) und Maike Brochhaus im alternativen Milieu angesiedelter Alternativ-Porno "Schnick Schnack Schnuck" (Jungle World).
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Literatur

Schorsch Kamerun kennt man als Sänger der Goldenen Zitronen und seit einiger Zeit auch als widerständigen Theaterregisseur. Mit seinem autobiografisch gefärbten Romandebüt "Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens" ist er nun auch unter die Schriftsteller gegangen. Warum er diesen Disziplinwechsel gewagt hat, erklärt er Philipp Kressmann von der Spex: "Ich als Autodidakt sehe das als Möglichkeit, Neues auszuprobieren. Die Idee war, über einen Schmerz zu schreiben, den eine bestimmte Zeit mit sich brachte, ohne diesen direkt auf mich zu beziehen. Dafür habe ich Protagonisten gesucht, weil das Konzept des personalisierten Autors das nicht hergegeben hätte. Dabei habe ich auch probiert, mich zu öffnen. Das ist anders als bei den Zitronen, die nicht imstande wären, ein Liebeslied zu schreiben. In meinem Buch erlebt man durchaus Nähe. Das lässt unsere Band genauso wenig zu wie meine Theater- und Collagentexte."

Weiteres: Im Interview mit der Presse spricht Sibylle Lewitscharoff über Gott und ihren neuen Roman. In der NZZ erzählt der Schriftsteller Erwin Mortier von den Sorgen um Angehörige bei den Bombenanschlägen auf Brüssel. Georg Renökl porträtiert den Prä-Dadaisten Arthur Cravan. Für die SZ erinnert sich die Schriftstellerin Lena Gorelik daran, wie sie 1992 als Flüchtlingskind nach Deutschland kam. In der SZ gratuliert Ralf Hammerthaler Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa zum 80. Geburtstag. Marco Martin besucht für die Welt Vargas Llosa in Madrid und lernt: "alles andere als ein Glamour-Greis".

Besprochen werden Tom McCarthys "Satin Island" (Jungle World), Wilfrid Lupanos Comic "Ein Ozean der Liebe" (taz), Paul Theroux' Hotel Honolulu" (taz), Amélie Nothombs "Die Kunst, Champagner zu trinken" (FAZ), Alexander Wendts "Du Miststück" (FAZ), Reinhard Jirgls "Oben das Feuer, unten der Berg" (Berliner Zeitung), Ingvild H. Rishøis "Winternovellen" (Berliner Zeitung), Garth Risk Hallbergs "City on Fire" (SZ), Péter Esterházys "Die Markus-Version" (SZ) und der Briefwechsel zwischen Peter Suhrkamp und Annemarie Seidel (FAZ).
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Architektur

Besprochen wird die Ferdinand-Kramer-Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt (Tagesspiegel).
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Bühne


Elfriede Jelinek, Die Schutzbefohlenen. Konzerttheater Bern. Foto: © Philipp Zinniker

In Bern hat Claudia Meyer Elfriede Jelineks polyphones Flüchtlingsstück "Die Schutzbefohlenen" als Multimedia-Darbietung inszeniert. Angemessen, findet das Beatrice Eichmann-Leutenegger in der NZZ. Das Ensemblespiel "gehorcht einem dynamischen Wechsel zwischen lauten und leisen Sequenzen, setzt schonungslos Körpersprache ein und siedelt sich so an der Schnittstelle von Schauspiel und Tanz an". Auf Claude Bühler von der nachtkritik machte die Inszenierung eher einen verworrenen Eindruck: "Nicht nur die vielen, offenen Fragen, warum jenes so?, was bedeutet dies?, verhindern den Eindruck eines großen Ganzen: Zu gefühlt jeder fünften Zeile wird, dicht am Text und drauf auf den Text, eine neue Szene kreiert. Die Aufführung wirkt wie ein Nummernabend."

Besprochen werden außerdem Heinrich Marschners Oper "Der Vampyr" an der Komischen Oper Berlin (NZZ), Jürgen Flimms Inszenierung von Glucks Oper "Orfeo ed Euridice" an der Berliner Staatsoper im Schillertheater (NZZ), die Uraufführung von Volker David Kirchners Oper "Gutenberg" in Erfurt ("ein konventionelles Biopic", schreibt Udo Badelt im Tagesspiegel), Simon Stones mit drei Frauen in der Hauptrolle inszenierter "Peer Gynt" am Hamburger Schauspielhaus (nachtkritik), "Exodus" nach DJ Stalingrad, inszeniert von Sebastian Klink an der Volksbühne in Berlin (nachtkritik) und David Böschs Inszenierung der "Drei Schwestern" am Wiener Burgtheater (so brav, so brav, so brav, seufzt Leopold Lippert in der nachtkritik).
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Musik

Bei den Osterfestspielen in Salzburg hat Christian Thielemann den Chor des Bayerischen Rundfunks und die Dresdner Staatskapelle dirigiert, gegeben wurde Beethovens "Missa solemnis" - einfach perfekt, schwärmt Jan Brachmann in der FAZ: Denn "Thielemann weiß etwas von Heil und Trost. Man kann seine begütigende Lesart der Missa, die alles Unschlüssige ausräumt und, besonders in den Fugen im Gloria und Credo, Schlüssigkeit herstellt, im Sinne einer idealistischen Kunstreligion deuten: Das Kunstwerk überwindet die innerweltliche Entzweiung und nimmt die Versöhnung vorweg. Die schmelzenden Vorhalte von Fagott, Oboe und Klarinette am Ende des Kyrie haben bereits etwas Segnendes. Das Violinsolo des Konzertmeisters Matthias Wollong im Benedictus ist eine seelische Wundsalbung, wie sie lindernder nicht sein könnte." Auf br-Klassik kann man das Konzert online nachhören.

Mit einem eigens programmierten Tool grast der Produzent James Hinton Youtube nach kaum aufgerufenen Videos ab, um daraus Samples für sein neues, unter dem Namen The Range veröffentlichtes Album "Potential" zu entnehmen. Resultat wie Konzept findet SZler Jan Kedves schlicht "ausgezeichnet": Denn keineswegs wolle der Produzent gescheiterte Musiker vorführen, "es geht dem 28-Jährigen um den Blues enttäuschter Hoffnungen, einerseits. Andererseits will er das im Audiomaterial der Videos steckende Potenzial herausarbeiten. Es ist tatsächlich vorhanden, nur war es bislang unerkannt geblieben: Trugen die Performer das falsche Outfit? War die Auflösung zu schlecht?" Hier eine Kostprobe:



Weiteres: In der taz stellt Andreas Hartmann das auf Neue Musik und Klangexperimente spezialisierte Label Edition RZ vor. Für den Tagesspiegel unterhält sich Atila Altun mit dem Soulsänger Bilal. FAZlerin Eleonore Büning spricht mit dem Dirigent René Jacobs über seine neue Aufnahme von Bachs Johannes-Passion BWV 245.

Besprochen werden eine CD-Reihe mit Jean-Sibelius-Aufnahmen (NMZ), Patti Smiths neuer Memoir "M Train" (taz), das neue Album von Zayn Malik (Welt), ein Konzert des Cellisten Yo-Yo Ma (Tagesspiegel), ein Konzert von Sunrise Avenue (FR) und ein Konzert der iranischen Sängerin Sara Nadschafi, die in ihrer Heimat wegen des dort herrschenden Auftrittverbots für Frauen ignoriert wird (ZeitOnline).

Außerdem kann man beim WDR jetzt das am 30. Januar gespielte Programm "Schönes Wochenende" des Düsseldorfer Festivals für modernes Hören online nachhören:

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