Efeu - Die Kulturrundschau

Grundiert durch eine tiefere Melancholie

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.11.2018. In Zürich wurde Mozarts "Così fan tutte" aufgeführt, nach den Vorgaben des in Moskau unter Hausarrest stehenden Regisseurs Kirill Serebrennikow. Die NZZ sieht darin den Beweis, dass sich Kunst nicht so leicht "unter die Knute von Willkürherrschern" zwingen lässt. Die SZ bejubelt eine der aufregendsten Così-Inszenierungen der letzten Jahre. Die Welt feiert die Fotografin und Humanistin Martine Franck, der die Fondation Henri Catrier-Bresson endlich eine Retrospektive widmet. Im Logbuch lässt sich Matthias Jügler fantastische Geheimdienstgeschichten aus Usbekistan erzählen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.11.2018 finden Sie hier

Bühne

Kirill Serebrennikows "Così fan tutte" am Zürcher Opernhaus. Foto: MOnika Rittershaus


Nach dem Regiebuch des in Moskau unter Hausarrest stehenden Regisseurs Kirill Serebrennikow hatte am Zürcher Opernhaus Mozarts "Così fan tutte" eine triumphale Premiere. In der NZZ stellt Christian Wildhagen unmissverständlich klar, dass er nicht nur Politik, sondern herausragende Kunst gesehen hat: "Dass sich die Kunst nicht so leicht unter die Knute von Willkürherrschern jeglicher Couleur zwingen lassen will, ist das eine. Dass sie im Kampf um die Freiheit gleichwohl Kunst bleibt und nicht herabsinkt auf das Niveau von Agitation und Gegenpropaganda, bedeutet eine kaum geringere Herausforderung. Doch genau diese Balance gelingt jetzt am Opernhaus, allen Widrigkeiten zum Trotz. Dieser Mozart-Abend ist ein eindrucksvoller Akt des Widerstands, keine Frage; zugleich aber ist er leicht, manchmal komödiantisch überzeichnet, aber nie oberflächlich; er hat Witz, ein fast bruchlos durchgehaltenes Tempo und wird bei allen - mitunter auch plakativ-zeitgeistigen - Zuspitzungen doch grundiert durch eine tiefere Melancholie."

Auch SZ-Kritiker Egbert Tholl betont nicht nur, wie souverän das Zürcher Opernhaus vor dem politischen Hintergrund agiert, mit Einführungen im Foyer und einem "brillanten Essay" der russischen Theaterkritikerin Marina Davydova (muss man etwas runterscrollen), sondern auch künstlerisch: "Serebrennikovs Arbeit ist eine der aufregendsten 'Così'-Inszenierungen der letzten Jahre." Nur in der FAZ tritt Jan Brachmann die Inszenierung eiskalt in die Tonne.

Besprochen werden außerdem Frank Castorfs Dostojewskis-Inszenierung "Ein grüner Junger" am Schauspiel Köln (die Martin Krumholz in der SZ hübsch rheinisch spotten lässt: "Frank Castorf ist so etwas wie der Fürst Bismarck des Berliner Theaters"), das Musical "Cabaret" in Frankfurts English Theatre (FR), David Böschs Bühnenfassung von Luchino Viscontis Film "Die Verdammten" am Berliner Ensemble (FAZ), das Tanz-Festival "Open Space" in der Berliner Uferstudios (Tagesspiegel) und Alexei Ratmanskys Rekonstruktion des russischen Ballett-Klassikers "La Bayadère" mit Polina Semjonowa am Staatsballett (Berliner Zeitung).
Archiv: Bühne

Musik

Das Jazzfest Berlin bot "ein anspruchsvolles Programm, das zumindest auf der Hauptbühne nie das bloß Gefällige suchte", resümiert Gregor Dotzauer im Tagesspiegel. In der NMZ porträtieren Jenny Tobien und Roland Böhm Feine Sahne Fischfilet, die heute nach viel Hin und Her im Dessauer Brauhaus auftreten. Adrian Schräder blickt in der NZZ auf die Karriere der Black Eyed Peas zurück, die dieser Tage ein neues Album veröffentlichen. Dominik Baur hat sich für die Bayern-Sonderausgabe der taz Konstantin Wecker zur Plauderei über den Freistaat, die Notwendigkeit von Revolutionen und Anarchie geschnappt.

Besprochen werden Charles Bradleys postum zusammengestelltes Album "Black Velvet" (Byte.fm) und neuaufgelegte Popmusik, darunter die Kompilation "The Singles" der feministischen Punkband Bikini Kill und Haruomi Hosonos Album "Hosono House" von 1973 (SZ). Eine Hörprobe auf Youtube:

Archiv: Musik

Literatur

Im Logbuch Suhrkamp schreibt der Schriftsteller Matthias Jügler Notizen über seine Chats mit einem Freund in Usbekistan, der von dort auswandern will: "M. fährt jedes Mal mit dem Rad in ein Internetcafé nach C., um zu skypen, sechzehn Kilometer. Es sei sicher, ich solle mir keine Sorgen machen, sagt M. Die Staatssicherheit in Usbekistan sei zu dumm, um ihn abzuhören. Die wüssten nicht mal, dass es so etwas wie Skype gibt. Außerdem können die kein Deutsch, alles easy, sagt M. Für die usbekische Staatssicherheit seien vierzig Jahre alte Wanzen aus Sowjetbestand Hightech. ... Dann zählt er auf, wen er bestochen hat und womit, damit er nicht auf die Liste derer kommt, die nicht ausreisen dürfen."

Weitere Artikel: Unter anderem Die Presse meldet, dass der Österreichische Buchpreis an Daniel Wisser für dessen Roman "Königin der Berge" geht. Im BR-Nachtstudio porträtiert Niels Beintker den vom Punk inspirierten Comicautor Atak. Besprochen werden Elias Canettis Briefesammlung "Ich erwarte von Ihnen viel" (NZZ), Dörte Hansens "Mittagsstunde" (online nachgereicht von der FAZ),  Tillie Waldens Comic "Pirouetten" (Tagesspiegel), Romane des Georgiers Iliazd (Tagesspiegel), Gerhard Henschels "Erfolgsroman" (SZ) und Andor Endre Geliéris Novellensammlung "Stromern" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Film

Ralf Schenk berichtet in der Berliner Zeitung vom Dokfilm-Festival in Leipzig, wo er den umstrittenen Siegerfilm "Lord of Toys" von Pablo Ben Yakov und André Krummel (mehr zur Kontroverse im Efeu von gestern) über den mit rechtsextremem Jargon hantierenden Youtube-Influencer Max Herzberg und dessen Clique durchaus verteidigt: Dass Herzberg "inzwischen Kontakt zu den rechtsextremistischen Identitären hält, braucht der Film nicht zu belegen; das kann ich im Netz nachlesen, auch von seinen sogenannten Spaßvideos über den 'Honigkaust'. Auf der Leinwand erlebe ich hautnah atmosphärisch mit, wie sich eine smarte Führerfigur aus dem Ei pellt. Wie sie ihre Jünger um sich sammelt."

Weitere Artikel: Für die Medienseite der FAZ porträtiert Nina Rehfeld den amerikanischen Serienmacher Dick Wolf, der mit seinem "Formelfernsehen zum Wohlfühlen" seit vielen Jahren den Serienmainstream bedient. Für The Quietus blickt Jeremy Allen zurück auf John Carpenters vor 30 Jahren erschienenen Paranoia-Science-Fiction-Film "Sie leben". Zum 90. Geburtstag von Micky Maus hat Katja Nicodemus für die Zeit die Disney Archive bei Los Angeles besucht. Seinen ersten Auftritt hatte die Maus im anarchischen Cartoon "Steamboat Willie":



Besprochen werden der von Arte gezeigte vierteilige Dokumentarfilm "The Fourth Estate" über Trump und die Medien (NZZ, Tagesspiegel, FAZ) und die letzte Staffel von "House of Cards" (ZeitOnline).
Archiv: Film

Kunst

Martine Franck: Strand von Puri, Indien, 1980 © Martine Franck / Magnum Photos / Fondation Henri Cartier-Bresson

Beglückt kommt Martina Meister aus dem Pariser Museum Henri Cartier-Bresson, das endlich seiner zweiten Frau, Martine Franck, eine große Retrospektive widmet und damit eine Fotografin ins Licht rücke, die nie Probleme damit hatte, "im Schatten eines großen Baums" zu arbeiten. Unter dem schönen Titel "Das Auge und die Äugin" huldigt Meister der großen Künstlerin und Humanistin: "Francks Fotos sind die einer Feministin, die den Kampf der Frauen für Gleichberechtigung begleitet, aber auch die Lebensbedingungen von Frauen dokumentiert hat. Wohl am überraschendsten sind ihre melancholischen Landschaften. Vielleicht hat sie sich mit diesen Naturfotos am stärksten von ihrem Mann absetzen können. Der hatte aus dem 'entscheidenden Augenblick' eine ganze Theorie gemacht. Franck empfand die Landschaftsaufnahmen als "das genaue Gegenteil der Momentaufnahmen". Sie habe die Natur aus 'purer Freude' fotografieren wollen, sagte sie, 'weil es mir ein Bedürfnis ist'."

Festanschluss: Amy Sillmans Ausstellung "Landline" im Camden Arts Centre, 2018. Foto: Luke Walker

Als die "Sensation des Londoner Kunstherbstes" preist Catrin Lorch die Ausstellung der amerikanischen Künstlerin Amy Sillman im Camden Arts Center, die mit der Malerei einfach immer weitermachte, als ihre männlichen Kollegen in den achtziger oder neunziger Jahren auf zeitgemäßere Techniken umschwenkten, wie Lorch erklärt. Das macht Sillman heute wieder anschlussfähig: "Amy Sillman hat das uralte Medium neu austariert, sodass es als stabile 'Landline' die Gegenüberstellung mit den unzähligen jüngeren Techniken aushält. Dabei hilft der Kunst der durchaus auch mal fiese Humor einer Künstlerin, die in einem Atemzug darauf hinweist, dass man ohne Witz nicht auskomme, und bekennt, 'dass Malerei einfach auch meine sexuelle Vorliebe ist'. Als Studentin hat sie schon mal Wände und Fußböden angemalt, ihre kruden Diagramme strichelt sie heute mit dem Kohlestift auf hochwertig verputzte Museumswände."

Besprochen werden außerdem die große Gustav-Klimt-Ausstellung in der Moritzburg in Halle (NZZ), die Ausstellung "Eblouissante Venise" zur venezianischen Kunst des 18. Jahrhunderts im Grand Palais in Paris (FAZ) und eine Ausstellung italienischer Renaissance-Zeichnungen im Dresdner Kupferstichkabinett (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst