Efeu - Die Kulturrundschau

Extrem viele Zutaten

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.02.2022. Münchens Oberbürgermeister setzt Valery Gergiev, Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, ein Ultimatum: Spricht er sich bis Montag nicht gegen Russland aus, fliegt er. Gergiev bekommt von Putin für seine Ergebenheit wenigstens Geld, Anna Netrebko nicht, sekundiert die FAZ. In der NZZ legt Sasha Marianna Salzmann Schicht für Schicht die Traumageschichte der Ukraine frei. Die taz berichtet von der Feststimmung in Benin, wo die restituierten Werke ausgestellt werden. Aber die afrikanische Beteiligung am Sklavenhandel hätte schon auch thematisiert werden müssen, meint sie. Und der Standard lernt von Erwin Wurm, wie man mit Würsten alte weiße Männer bekämpft.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.02.2022 finden Sie hier

Musik

Putin-Intimus und (noch) Chefdirigent der Münchner Philharmoniker: Valery Gergiev wird im Zuge des russischen Kriegs gegen die Ukraine zum Streitfall im Klassikbetrieb. Die New Yorker Carnegie Hall und die Wiener Philharmoniker haben bereits Termine mit Gergiev abgesagt, die Mailänder Scala stellt dem Dirigenten ein Ultimatum und fordert ihn auf, sich gegen die russische Invasion auszusprechen, meldet der Standard. Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter gibt gemeinsam mit den Münchner Philharmonikern Gergiev bis zum Montag Zeit, sich zu distanzieren, ansonsten "kann er nicht länger Chefdirigent unserer Philharmoniker bleiben". Doch "der Dirigent schweigt", berichtet Egbert Tholl in der SZ. "Wer im Fall von Gergiev jetzt die ausgeleierte Formel bemühen will von der unpolitischen Musik, begibt sich in gefährliches Fahrwasser. Nicht nur weil damit fragwürdige NS-Karrieren beschönigt werden, siehe Herbert von Karajan oder Karl Böhm. ... Und der westliche Musikmarkt? Der wird auch ohne Gergiev auskommen."

All diese Distanzierungen und Forderungen findet Jan Brachmann in der FAZ zweifellos "verständlich", aber er fragt sich auch, was man davon eigentlich erwarte. Als "Exponent russischer Kulturpolitik" werde Gergiev schließlich "von Putin mit Geld überhäuft" und profitiere davon auch als Privatmensch. Aber immerhin setze er diese Nähe zur Macht mit zahlreichen Projekten im Sinne der Kunst um. "Er treibt also einen Handel: Geld gegen politische Ergebenheit. Frei reden kann er in seinen offiziellen Erklärungen viel weniger als die Sopranistin Anna Netrebko, die im Oktober ihren fünfzigsten Geburtstag im Kreml feierte mit einer vierstündigen Gala samt Laudatio von Putin." Doch Netrebko trage "kaum kulturpolitische Verantwortung für Opernhäuser, Orchester und Festivals und damit für viele Hundert Menschen. Sie liefert ihre Ergebenheit gleichsam gratis, Gergiev nicht." Ein Statement gegen den Krieg bringe Gergiev womöglich sogar in Lebensgefahr, glaubt Brachmann. Auch Christian Wildhagen von der NZZ sieht Netrebko unter wachsendem Druck.

Hut ab daher vor den russischen Stimmen im Klassikbetrieb, die Zivilcourage beweisen und sich eindeutig gegen Putins Invasion positionieren - das VAN-Magazin hat einige Statements eingeholt und weitere an anderen Orten verlinkt. "Die Tragödie meines Landes", schreibt etwa der Komponist Sergej Newski in einer langen, leidenschaftlichen Position, "besteht auch darin, dass ein eigentlich modernes und offenes Land mit sehr reicher Kultur von einer Riege durchgeknallter Stasi-Rentner regiert wird, die heute in den Kategorien des 19. Jahrhunderts denken und handeln und dadurch gerade sozusagen einen öffentlichen Selbstmord begehen, in den aber das ganze Land oder vielleicht auch die ganze Welt mit hineingezogen wird. Deswegen: Es geht nicht nur um die Ukraine. Es geht um Europa. Es geht um unsere Zukunft. Mein Herz schlägt für die Ukraine."

Außerdem: Bertram Job reist für die NZZ durchs musikalische Belfast. In der NMZ gratuliert Matthias R. Entreß dem Komponisten H. Johannes Wallmann zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Lady Wrays Album "Piece of Me" (FR), Yeules neues Album "Glitch Princess" (Standard), das neue Casper-Album (ZeitOnline), ein Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters unter Lionel Bringuier mit der Pianistin Lise de la Salle (Tsp), ein Ausstellung über Iannis Xenakis in der Cité de la musique in Paris (VAN, FAZ) und das Comebackalbum der Tears for Fears (SZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik

Kunst

Nach dem Guardian (Unser Resümee) berichtet heute Katrin Gänsler, die Westafrika-Korrespondentin der taz, von der Feststimmung in Cotonou, wo die 26 restituierten Statuen, Schemel und Zepter neben Arbeiten zeitgenössischer afrikanischer Künstler im Palais de la Marina in Cotonou in der Ausstellung "Kunst in Benin gestern und heute: Von der Restitution bis zur Offenbarung" gezeigt werden. "Mit den Objekten kommen Stolz und Geschichte zurück", sagt etwa Marie-Cecile Zinsou von der Stiftung Zinsou in Cotonou. Ganz glücklich ist Gänsler aber dann doch nicht: "Was allerdings wenig thematisiert wird, ist die afrikanische Beteiligung am Sklavenhandel. Sklav*innen bescherten afrikanischen Herrschern Waffen aus Europa, die für die Expansion benötigt wurden. Die Könige beteiligten sich aktiv daran."

Im Standard vergeht Katharina Rustler fürs erste der Appetit auf Würste nach dem Besuch der Ausstellung "Subject" im Wiener Kleinen Haus der Kunst, wo Erwin Wurm derzeit überdimensionale Marmor-Würste ausstellt: "Alles ironisch natürlich! Nach den bekannten Gurkerl-Skulpturen vervollständigt er so seine Würstelstand-Speisekarte sowie das phallische Formen-Repertoire. Wurm bezeichnet die einfache Kombination aus Semmel und Würstel als wichtiges Gericht aus Kindheit und Studentenzeit. Außerdem versteht er sie als gesellschaftliches Sinnbild auch auf einer Metaebene: 'Es steht auch für eine bestimmte Kategorie an weißen Männern, die sich am Würstelstand über ihr Weltbild unterhalten - ein Weltbild, das von Enge, Vorurteilen und Intoleranz geprägt ist, von antifeministischer Haltung gar nicht zu sprechen', so die Erklärung im Pressetext. Wurst als toxisches Kulturgut?"

Weiteres: In der taz porträtiert Fabian Lehmann die Künstlerin Ute Reeh, die in einem Dorf in der Prignitz eine Lärmschutzwand aus Lehm zum Schutz vor der geplanten Autobahn bauen möchte. Im Tagesspiegel sammelt Birgit Rieger Stimmen aus der ukrainischen Kunstwelt. In der NZZ blickt Philipp Meier auf so manche Perversion, die in Museumshops angeboten wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Papier im Raum" im Berliner Haus des Papiers (Tagesspiegel), die Ausstellung "Höllenglanz und Sternenlicht. Dantes Göttliche Komödie in Moderne und Gegenwart" im Berliner Kupferstichkabinett (FAZ) und die Ausstellung "Dalí - Freud. Eine Obsession" im Unteren Belvedere in Wien (Welt).
Archiv: Kunst

Film

Der US-Schauspieler Sean Penn ist vor Ort in Kiew und dreht einen Dokumentarfilm über die russische Invasion, meldet Christian Schröder im Tagesspiegel.

Besprochen werden Kaouther Ben Hanias "Der Mann, der seine Haut verkaufte" (Filmdienst, SZ), der Sportfilm "King Richard" mit Will Smith (FAZ), Kenneth Branaghs "Belfast" (Freitag, Filmdienst, unsere Kritik hier), Christian Schäfers "Trübe Wolken" (Filmdienst), Carl Schenkels auf BluRay wiederveröffentlicher 80s-Thriller "Abwärts" mit Götz George (critic.de) und die auf Disney+ gezeigte Serie "Dopesick" (Jungle World).
Archiv: Film

Literatur

Paul Celan, Bruno Schulz, Isaak Babel, Scholem Aleichem, Michail Bulgakow: Die Literaturwissenschaftlerin Annette Werberger führt in der FAZ durch die ukrainische Literaturgeschichte, deren zentraler Anker zwar die ukrainische Sprache bildet, die sich aber auch durch eine enorme Vielsprachigkeit auszeichnet. "Roman Jakobson bezeichnete die Literaturgeschichte einmal ironisch als eine Polizei, die jeden verhafte, den sie antreffe. Der Literaturhistoriker als Polizist ist vielleicht zu abwegig, aber den genannten Autoren stellen sicherlich gerne mehrere Länder literaturhistorische Pässe aus. Selbst der ausschließlich auf Russisch schreibende Ukrainer Nikolaj Gogol hat schon zwei Passangebote von den nationalen Ministerien für Literaturgeschichte erhalten. ...  Die jüdische Literatur in Jiddisch, Hebräisch oder in slawischen Sprachen ist seit Hunderten von Jahren ein prominenter Teil der Literatur der Ukraine, gehört aber häufig gleichzeitig zu anderen nationalen Literaturgeschichten. In diesem Sinne ist die Literatur der Ukraine ein Vorbild für die Idee einer europäischen Literatur, die Verflechtungen zwischen den Literatursprachen aufzeigt, transnational perspektiviert oder Konkurrenzen ermittelt."

Die Schriftsteller:in Sasha Marianna Salzmann, deren Vorfahren aus Odessa und Czernowitz stammen, berichtet in einem Essay für die NZZ unter anderem von ihren Gesprächen mit der Mütter- und Großmüttergeneration in der Ukraine, bei denen sich nach und nach die Traumageschichte das Landes freilegte: "Je länger unsere Gespräche dauerten, desto mehr glichen sie Straßenbauarbeiten in der Ukraine: Sticht man dort die Schaufel in den Boden, stößt man schon einmal auf den Oberschenkelknochen eines Verhungerten aus den 1930er Jahren, und gleich danach kommt der zerschlagene Schädel eines Wehrmachtsoldaten zum Vorschein. ... Als Schriftsteller:in interessieren mich sprachliche Ungeheuerlichkeiten mehr als jede noch so virtuos gebaute Metapher. Sie sind wie Knochenneubildungen nach schlecht verheilten Brüchen. In meinen Interviews wurde ich hellhörig bei ungehörigen Scherzen, seltsamen Allegorien und eigenartigen Wortschöpfungen."

Cancel Culture mal ganz anders: Insbesondere rechte Gruppierungen wie die TeaParty-Bewegung attackieren die Lesefreiheit in den USA, berichtet Miryam Schellbach in der SZ. Die Zahl der Beschwerden an US-Bibliothek über "unlauteres Buchmaterial" nehme demnach derzeit erheblich zu. Es trifft unter anderem Autorinnen wie Toni Morrison oder Art Spiegelman. Auch aus der Politik kommen Angriffe: Vom PEN America ist zu vernehmen, dass es "in den ersten Monaten des jungen Jahres eine drastische Zunahme von Gesetzesentwürfen gibt, die den Inhalt der schulischen Lehre begrenzen sollen, PEN spricht sogar von 'gag order', von Redeverboten. Nahezu alle dieser Entwürfe wurden von Republikanern eingebracht, die meisten in den Parlamenten der Südstaaten wie Alabama, Georgia, Mississippi oder Texas. ... Sie alle wenden sich gegen Lehrinhalte, die mit Sexualität oder 'race' in Verbindung stehen und fordern zum Teil Geldstrafen oder Disziplinarverfahren, sollten diese Themen doch Gegenstand des Unterrichts werden."

Außerdem: Mladen Gladic spricht in der Welt mit dem nach Folterungen aus Uganda geflohenen Schriftsteller Kakwenza Rukirabashaija: "Jeder Oppositionelle in Uganda, der sich kritisch äußert, wird auf jeden Fall strafrechtlich verfolgt, wenn er sich Gehör verschafft." In der FR erinnert Judith von Sternburg an Karl May, der vor 180 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem Katerina Poladjans "Zukunftsmusik" (Freitag), Katharina Hackers "Die Gäste" (taz), Mário de Sá-Carneiros "Himmel in Flammen" (FR) und Szczepan Twardochs "Demut" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus "Jessica - an Incarnation". Foto: Julian Röder

Susanne Kennedy hat mit ihrem Partner Markus Selg an der Berliner Volksbühne mit dem Stück "Jessica - an Incarnation" mal wieder einen ihrer "Symboleintöpfe aus Sinnfragen" angerührt, seufzt Till Briegleb in der SZ. Diesmal geht's um eine Sekte im Cyberspace, alles spielt sich in einer Wüstenlandschaft auf einer Drehbühne ab. Immerhin: "Der zweistündige Sinn-Rave ... wirkt formal erstaunlich geschlossen für die extrem vielen Zutaten, die hier eingekocht werden. Tiktok als Ersatzreligion ist genauso Thema wie Assoziationen an die mordende Manson Family, apokryphe Bibeltexte genauso wie Tennissocken, oder die feine Unterscheidung von Prophezeiung und Propaganda. Der Ariadnepfad wird beschritten und modischer Immersions-Schamanismus praktiziert, Porno auf dem Handy angesehen und über das "esotherapeutische Geschwurbel" der Inszenierung gespottet. Eine Gottesanbeterin hat ebenso ihren Auftritt wie ein Gebet im Lotussitz."

Nachtkritikerin Stephanie Drees mag sie zwar, die "Undurchdringbarkeit" des "Susanne-Kennedy-Universums". Aber die "harten Brocken", an denen der Abend hier knabbert, findet sie dann doch "ermüdend". Im Tagesspiegel erscheint auch Christine Wahl Kennedys in eine "Liturgie der Pathosformeln" verpackte "endlose Sinnfragen-Simulation" mitunter "sehr, sehr lang". In der FAZ macht Simon Strauss zwischen viel "esotherapeutischem Geschwurbel" immerhin einige Momente aus, in denen Kennedy und Selg eindringliche Bilder für dem Verstand nicht zugängliches finden.

Außerdem: Der serbische Filmemacher Emir Kusturica wird künftig laut Vorschlag des russischen Verteidigungsministers Sergei Schoigu Intendant am Zentralen Akademischen Theater der Russischen Armee in Moskau, meldet der Standard.

Besprochen werden Lilja Rupprechts Inszenierung von Simon Stephens' Sozialdrama "Am Ende Licht" im Wiener Akademietheater (Standard), Milo Raus Inszenierung "Grief & Beauty" im Frankfurter Mousonturm (FR) und Meg Stuarts Gruppenstück "Cascade" im Berliner HAU2 (Tagesspiegel).
Archiv: Bühne