9punkt - Die Debattenrundschau

Dackel in allen Lebenslagen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.02.2014. Netzpolitik beschuldigt Martin Schulz, der gestern in der FAZ vor einem technologischen Totalitarismus warnte, der Heuchelei. Die Welt erinnert einen Tag vor Sotschi an die Verfolgung der Tscherkessen. In der FAZ diskutieren vier ukrainische Autoren über die Lage ihres Landes. Rue89 porträtiert den Philosophen Jean-Claude Michéa, der sowohl bei gewissen Fraktionen der Linken als auch beim Front national en vogue ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.02.2014 finden Sie hier

Kulturpolitik

Einsparungspläne gefährden das Institut für Theaterwissenschaft in Leipzig. Eine mittlere Katastrophe, meint Esther Slevogt in der taz: Es "würde einem Institut der Garaus gemacht, dessen wissenschaftliches Profil in diesem Land ziemlich einmalig ist: es ist eines der letzten theaterwissenschaftlichen Institute, das Theater als kulturelle Praxis noch von ihrer Geschichtlichkeit denkt und erforscht. In vielen anderen Instituten dieses Fachs ist Theatergeschichte als Medien- und Öffentlichkeitsgeschichte und nicht zuletzt auch politische Geschichte längst marginalisiert oder ganz abgeschafft."

Einen politischen Nachruf auf den wegen Steuerhinterziehung zurückgetretenen Berliner Kulturstaatssekretär André Schmitz finden wir im Tagesspiegel: Mit dessen Fall sieht Rüddiger Schaper gleich die ganze Erfolgsgeschichte der Berliner Kulturszene - für ihn ein "System Wowereit/Castorf/Schmitz" - an ihr Ende gekommen: "Castorf führte die Avantgarde an, Wowereit das Hauptfeld. Erst wurde die Volksbühne zu Europas einflussreichstem Theater, dann zog die Stadt als Ganzes nach. Und jetzt haben wir den Boom und die Touristen, das Wahnsinnsimage, haben einen Höhepunkt erreicht, und André Schmitz hört auf. ... Sein unrühmlicher Abgang trifft die Kulturszene hart. Er ist eine Zäsur." Eine Zäsur wäre es freilich auch, wenn Wowereit einen gewissen Flughafen und die ewigen Baustellen in Berlin in den Griff bekäme...

In der Welt meldet Stefan Keim, dass eine blitzartig einberufene Interimsintendanz am finanziell maroden Schauspielhaus Düsseldorf ab dem 1. März den bisherigen Intendanten Manfred Weber ersetzen soll. "Der Niedergang eines der deutschlandweit größten Sprechtheater ist dramatisch. Oft sitzen bloß 80 Zuschauer im großen Haus. Nur gelegentlich kommen vorzeigbare Inszenierungen zustande. Als Intendant Staffan Valdemar Holm 2012 aus gesundheitlichen Gründen aufgab, war das Schauspielhaus schon künstlerisch aus dem Ruder gelaufen."
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Überwachung

Der Text von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz aus der FAZ von gestern ist jetzt online. Der Sozialdemokrat Schulz hatte darin vor einem neuen technologischen Totalitarismus gewarnt. Auf Netzpolitik hätte sich Anna Biselli etwas mehr Selbstkritik gewünscht: Immerhin arbeitet die SPD "bereitwillig an der Vorbereitung der Vorratsdatenspeicherung mit und schafft es nicht, eine klare und wirksame Position zur Überwachung deutscher Bürger durch amerikanische Geheimdienste zu finden, geschweige denn sich ernstzunehmend für eine Anhörung und Asyl für Edward Snowden einzusetzen. Genauso wenig passt das frühere Verhalten von Schulz selbst zu seinen Visionen. Bei vielen für die digitale Welt maßgeblichen Abstimmungen innerhalb des EU-Parlamentes hat sich Schulz nicht einmal beteiligt: ACTA-Abkommen, Europäisches Grenzüberwachungssystem (Eurosur), Aussetzung des SWIFT-Abkommens mit den USA, Fluggastdaten-Abkommen mit den USA, Internetsperren (Telekom-Paket). Kattascha hat das in einem Blogpost gut zusammengefasst dargestellt."

In der FAZ staunt Constanze Kurz in ihrer Kolumne über die unterschiedlichen Reaktionen auf das Belauschen von Bürgern und Politikern durch NSA und GCHQ: "Die Grünen-Politikerin Claudia Roth bezeichnete das Ausspionieren politisch freundschaftlich gesinnter Spitzenpolitiker gar als 'Kernschmelze unserer Demokratie' - als wäre das tagtäglich andauernde Schnüffeln in den Daten von Millionen Betroffenen im Fußvolk nicht der eigentliche GAU."
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Politik

In der Welt erinnert Manfred Quiring daran, dass Olympischen Spiele in Sotschi auf dem Gebiet stattfinden, auf dem im 19. Jahrhundert die Tscherkessen sich in einem Kolonialkrieg gegen den russischen Zar und den Kosaken zur Wehr setzten: "Die Tscherkessen sprechen heute - zu Recht - von einem Völkermord und der größten 'ethnischen Säuberung', die bis zu dem Zeitpunkt je stattgefunden hatte. Verantwortlich dafür war das längst untergegangene russische Zarenreich, und nicht das heutige Russland. Aber durch die aktuelle Politik des Vergessens, Verdrängens und Umdeutens laufen die Tscherkessen Gefahr, erneut zu verschwinden. Dieses Mal aus dem historischen Bewusstsein Europas."
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Europa

In der FAZ sind die ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan, Juri Andruchowytsch, Jurko Prochasko, Tanya Maljartschuk überzeugt davon, dass es keinen echten Ost-West-Konflikt in der Ukraine gibt: "Es ist eher ein Konflikt des Paternalismus", meint Prochasko. Und von Paternalismus wolle inzwischen auch die ganze Mittelklasse nichts mehr wissen. Maljartschuk: "Dass auch die Mittelklasse aufbegehrt, war ein starkes Signal. Denn sie kann der Regierung gefährlich werden, weshalb auch einige von ihnen entführt und gefoltert wurden, wie dieser Mann namens Bulator." Spon berichtet über Bulatows Erfahrungen.

In der SZ ermuntert Andreas Zielcke die EU, den aufbegehrenden Ukrainern beizustehen, denn: "In der Tat, die Einmischung Moskaus verletzt das Völkerrecht und berechtigt zum Widerstand und, für die Rolle der EU, zur Nothilfe."
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Internet

Na, auch schon auf Facebook den eigenen "Lebensfilm" angesehen (hier)? Auch in den Feuilletons diskutiert man über das mit süßlicher Musik zugekleisterte Filmchen aus geposteten Fotos und häufig "gelikten" Statusupdates. Hier in der Welt etwa Richard Kämmerlings: "Der Facebook-Narzissmus [kommt] endgültig zu sich selbst, oder wie eine Nutzerin kommentierte: 'Die Videos eigneten sich auch gut als Nachruf'. ... Trotzdem liegt in der neuen Funktion die Möglichkeit durchaus unangenehmer Selbsterkenntnis. Wer beispielsweise in der Zusammenschau feststellt, dass sämtliche Bilder aus der eigenen Arbeitssphäre stammen, hat bei seiner Work-Life-Balance vielleicht doch eine Schieflage. Oder umgekehrt ist es auch etwas spooky, wenn der eigene Film nur den Dackel in allen Lebenslagen zeigt."

Jürn Kruse in der taz wittert hinter der Kumpelseligkeit des Videos vor allem Kalkül: "Die Macher wissen, dass sie dringend derlei Gefühle auslösen müssen. Denn die Liebe ist arg erkaltet. Bei vielen. Sich stundenlang auf dem Facebook-Meer treiben lassen, das macht doch kaum noch jemand. Zu unübersichtlich, zu belanglos."
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Gesellschaft

Gamification heißt das Zauberwort, mit dem die Arbeitswelt mit Bonuspunkt-Programmen wie ein Spiel gestaltet und dadurch die Produktivität der Angestellten gesteigert werden soll. In der taz hält Philipp Rhensius das nicht vorbehaltlos für eine gute Idee: Bei Microsoft habe man ein System, das mit einem Ranking-System die Leute zum Wettbewerb anstacheln soll, längst wieder abgeschafft. "Schon nach wenigen Monaten kritisierten Angestellte, dass dadurch ein 'kontraproduktiver Wettbewerb' erzeugt werde. Nicht selten verschwieg jemand eine gute Idee vor Kollegen, um positiv eingestuft zu werden."
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Stichwörter: Arbeitswelt, Microsoft

Ideen

Nolwenn Le Blevennec porträtiert für Rue89 den Philosophen Jean-Claude Michéa, der gerade wegen seines antimodischen Denkens in Frankreich en vogue ist - und zwar sowohl bei gewissen Fraktionen der Linken, als auch beim Front national. Ein Leser fasst zusammen, was er an Michéa so toll findet - er zeige, dass hinter dem Kapitalismus keine langweiligen Reaktionäre stehen, im Gegenteil: "Gerade jene, die einen liberalen Diskurs vertreten, sind auch jene, die die Jugend feiern und ein Leben ohne Tabu predigen. Die kulturelle Linke und der radical chic. Die Elite in Jeans und Turnschueh, die Clash hört. In den Vereinigten liegt das auf das Hand: Silicon Valley liebt den Demokraten Barack Obama."
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Medien

Schade, auch der Tagesspiegel zieht sich offenbar aus der Öffentlichkeit in den umzäunten Garten zurück: Konnte man unter dem ohnehin schon am untersten Ende der Website versteckten Menüpunkt "Zeitung Heute" die Inhalte der jeweiligen Ausgabe gut einsehen, prangt dort ab heute nur noch ein Hinweis auf das ePaper-Angebot.

Die Pressestelle des Deutschen Bundestags unterscheidet beim Akkredtierungsverfahren noch immer zwischen Journalisten und Bloggern, berichtet Kristiana Ludwig fassungslos in der taz. "Die Zeiten haben sich geändert. Mittlerweile sitzen Schreiber, die sich in der Blogosphäre einen Namen gemacht haben, regelmäßig in politischen Talkshows und publizieren auch in etablierten Medien. Die Verzahnung zwischen Weblogs und Printmedien schreitet immer weiter fort. Umso irritierter ist die Netzpolitik-Szene nun von der Reaktion der Bundestagspressestelle. 'Blogger vs. Journalist? Get over it!', schreibt Tobias Schwarz."

Verjüngung, Sendezeitverlängerung, satirische Töne - Daniel Fiedler, Chef der Redaktion Kultur Berlin des ZDF, weiß offenbar selbst nicht genau, ob es sich bei der Generalüberholung der Kultursendung Aspekte um eine "mittlere Revolution" oder doch eher um eine "evolutionäre Weiterentwicklung" handelt, erklärt Daniel Denk: "Es ist ein bisschen verwirrend und doch eigentlich ganz klar: Daniel Fiedler will 'Aspekte' modernisieren, neue Zuschauer gewinnen, ohne das Stammpublikum zu verprellen, und auch seine Mitarbeiter muss der in der Anstaltszeitrechnung immer noch 'Neue' mitnehmen. Daher bringt er das Kunststück fertig, die Veränderungen kleinzureden, während er sie bewirbt."

Zeit Online gründet ein Investigativ-Team, alles erfahrene Online-Journalisten, so die Meldung in eigener Sache: "Sie werden .. nicht, wie es dem investigativen Klischee entspräche, für ein halbes Jahr abtauchen, um dann mit einem Scoop wieder aufzutauchen - sondern sich täglich mit unserer Redaktion austauschen. Vor allem werden sie den Schwerpunkt, den Zeit online im Datenjournalismus gesetzt hat, weiter ausbauen."
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