9punkt - Die Debattenrundschau

Schweinkram gegen Saumagen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2014. Die taz erzählt, wie in Bulgarien eine neuerliche Maueröffnung vereitelt wurde. Und das ist Kunst, meint der Tagesspiegel. Wo blieb zum Mauerfall die Stimme der Bürgerrechtler, fragt die Welt. Die Boston Review begibt sich in den rauen Wind des Katholizismus, der nach wie vor durch Irland weht. In der NZZ weist Katajun Amirpur nach, dass man auch mit dem Koran gegen den "Islamischen Staat" argumentieren kann. Und bei Carta plädiert Sonja Vukovic für die Freigabe harter Drogen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.11.2014 finden Sie hier

Politik


"Erster Europäischer Mauerfall". Das Foto entnehmen wir der Website politicalbeauty.de.

Mit großem Vergnügen hat sich Ines Kappert für die taz mit den Kunst- und Politaktivisten vom Zentrum für Politische Schönheit auf Bustour quer durch Europa begeben, um ein Loch in die europäische Mauer zu schneiden. Leider haben ihnen die bulgarischen Grenzer die Aktion verhagelt: "Der Leiter verhandelt sogar mit den Deutschen, die nun offen Bolzenschneider in der Hand tragen - und in Begleitung von zwei bulgarischen Rechtsanwälten und einer Dolmetscherin versuchen, in Sichtweite der Grenze zu gelangen: "Wir wollen unsere Grenze sehen!" Auch bei einigen Beamten flackern kurz die Augen, als die Aktivisten erklären: "Vor 25 Jahren standet ihr auf der anderen Seite der Mauer." Ein Hubschrauber kreist über der Gruppe - und es ist klar: Versuchten die Aktivisten, das von Hunden begleitete Polizeispalier zu durchbrechen, begänne sofort eine heftige Prügelei. So bleibt es beim Skandieren. Enttäuscht tritt die Gruppe den Rückweg an."

Im Tagesspiegel fragt Rüdiger Schaper, ob das noch Kunst ist oder nur justiziabel, und wenn nicht, warum war es das dann bei Christoph Schlingensief? "Schlingensief versus Kohl: Das war noch Mann gegen Mann. Sohn gegen Vater. Provokation gegen Betonfassade. Schweinkram gegen Saumagen. Inzwischen haben wir Künstler, die kaum mehr künstlerische Anmutung besitzen, vielmehr wie Attac- oder Greenpeace-Aktivisten vorgehen und wirken. Das muss man nicht feiern. Man kann es, wenn man romantisch veranlagt ist, auch bedauern. Aber man muss es aushalten. Dass Kunst überzieht. Und gar nicht mehr aussieht wie Kunst."

Für die Berliner Zeitung ist Anne Lena Mösken mit dem Trupp an die "europäische Schmerzgrenze" gefahren.

Die Bürgerrechtler seien merkwürdig stumm geworden, meint Ulf Poschardt in der Welt nach dem nun abgefeierten Jubiläum des Mauerfalls. Dabei seien sie doch das Beste gewesen, was uns die Wende brachte: "Wie steht der so scharfsichtige wie sensible Jens Reich zur Russlandliebe der Deutschen? Lässt sich der Freiheitswille der Ukrainer mit dem der Ostdeutschen vergleichen? Wenn ja, müssen sie dann nicht entschlossener publizistisch unterstützt werden? Welche Vorstellung besaß Marianne Birthler 1989 vom osteuropäischen Raum und entspricht diese Vorstellung der heutigen europäischen Wirklichkeit?" Vielleicht werden sie nicht gefragt?
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Ideen

Auch Mathias Greffrath war am Freitag bei Thomas Pikettys Berliner Vorlesung und fühlt sich in der taz sehr an Karl Kautsky erinnert, dessen sozialdemokratisches Programm der kleinen Schritte auch "keinen utopischen Bildungsroman" ergaben: "Zusammengenommen ist das keine Utopie, aber ein ziemlich umstürzlerischer Werkzeugkasten - der Algorithmus dafür dürfte technisch kein Problem sein. Wie hieß es doch damals: Im Schoße der alten Gesellschaft wachsen das Wissen und die Produktivkräfte der neuen. Ist Piketty also doch ein Revolutionär auf Katzenpfoten?"
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Kulturpolitik

Die FAZ titelt auf ihrer Eins nochmal mit den NRW-Warhols, die verkauft werden sollen, um die marode Spielbank des Landes zu sanieren. Im Feuilleton wendet sich Jürgen Kaube gegen eine "vulgärökonomische" Betrachtungsweise der Sache. Und Rose-Maria Gropp fürchtet, dass der Verkauf der Warhols erst der Anfang sein könnte.
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Stichwörter: Nordrhein-Westfalen

Religion

Julia Gerlach meldet, dass Saudi-Arabien die Eröffnung des ersten Kinos im Land erlaubt hat. Das heißt aber nicht, dass hier Geschäftsinteressen die Oberhand über die wahabitische Moral gewonnen haben: "Viele junge Saudis haben sich IS angeschlossen. Möglicherweise soll die Eröffnung von Kinos die Jugend ablenken."

In der NZZ betrachtet die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur, wie innerhalb des Islams und mit Berufung auf den Koran gegen den Islamischen Staat argumentiert wird. Den Brief von hundertzwanzig Gelehrten an den Möchtegernkalifen Abu Bakr al-Baghdadi findet sie wichtig, aber noch viel zu konservativ: "Andere Denker und Denkerinnen haben Farbe bekannt. Iranische Frauenrechtlerinnen beispielsweise fordern Gleichberechtigung und argumentieren mit dem Geist des Korans. Der Koran habe historisch zunächst die Situation von Frauen verbessert, jedoch nicht zur vollständigen Gleichberechtigung geführt, die der damaligen Gesellschaft nicht vermittelbar gewesen wäre. Dennoch sei aber Gerechtigkeit als Ziel der Prophetie klar zu erkennen."
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Europa

Der Kalte Krieg hat in Irland zwar eine dogmatische Linke hervorgebracht, die sich zuvörderst an der Katholischen Kirche abarbeitete und dann geschwächt in sich zusammen sank, aber gebracht hat dieser Kampf nicht genug, findet der Politologe Henry Farrell in der Boston Review: "Eine selbstgefällige Kultur des unreflektierten Katholizismus wandelte sich in eine selbstgefällige Kultur eines halben Liberalismus. Die Leute waren irgendwie stolz, dass sie sexuelle Minderheiten tolerierten, statt dass sie deren Rechte schlicht als eine Selbstverständlichkeit ansahen. Strömungen katholischen Konservaitismus wehen immer noch durch die irische Gesellschaft und Politik, vor allem in Schulen und Krankenhäusern. Das Verbot von Abtreibungen ist nach wie vor in Kraft, obwohl der Eingriff inzwischen erlaubt ist, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. In Wirklichkeit ist Abtreibung nach wie vor nicht möglich."
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Medien

CNN verlässt Moskau, weil der Sender die Verschärfung der russischen Mediengesetze nicht mehr akzeptieren will. Die Presse erklärt (unter Rückgriff auf Agenturen) den Hintergrund: "Russland hat 2010 ein Gesetz verabschiedet, das die Eigentümerschaft ausländischer Firmen an in Russland operierenden Medien mit 50 Prozent begrenzt. Laut der Zeitung Wedomosti ist es zahlreichen Medienhäusern nicht gelungen, diese gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen, oder sie wollten sich dem Druck nicht beugen. Darunter waren etwa Voice of America, Radio France International und die russischen Dienste von BBC und der Deutschen Welle. Mit einer weiteren Verschärfung wurde der Anteil, den ausländische Eigentümer halten dürfen, ab 2017 auf 20 Prozent herabgesetzt."
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Geschichte

Longreads präsentiert eine Reihe langer, zum Teil historischer Reportagen über die Berliner Mauer und den Mauerfall. Jüngstes Exempel: Will Self erzählt im Guardian, wie er die gesamten 180 Kilometer der Mauer abschritt: "A trip through time as much as through space."
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Internet

Wenn Barack Obama "Offenheit, Fairness und Freiheit" für das Internet fordert, also Netzneutralität, dann tut er das nicht, um demokratische Werte zu verteidigen, meint Andrian Kreye in der SZ, sondern um die alten Telekom-Konzerne in ihre Schranken zu weisen - zum Vorteil von Amazon, Google und Netflix: "Er zieht ja keineswegs gegen die NSA zu Felde, auch nicht gegen die Giganten aus dem Silicon Valley oder wer derzeit eben sonst noch gerade Schindluder mit der Freiheit im Netz treibt. Er will einen Wirtschaftszweig schützen, der Amerika aus dem verrotteten Industriezeitalter und dem Elend der Service Economy holen soll."

Spiegel-Online-Autor Ole Reißmann stellt sich in seinem Blog die komplizierte Frage, ob ein Tweet urheberrechtlich geschützt sei und kommt anhand eines Tweets des Bloggers Sebastian Baumer, das von Visual Statements und dem Zeitmagazin als Bild und ohne Link veröffentlicht wurde, zum Ergebnis, dass Einbetten ok ist, aber nicht eine Weiterverwendung ohne Link: "Ob nun geschützt oder nicht: Baumer ärgert sich, dass sein Tweet vom Zeit Magazin nicht eingebunden oder verlinkt wurde. Genau das ermöglichen soziale Medien ja schließlich: das Einbetten des Originals, ob auf einer Webseite oder auf der Plattform selbst. Das bloße Kopieren "diene lediglich den Zwecke, die eigene Facebook-Seite zu promoten" und "ein Verlag müsse es besser wissen", sagt Baumer."

Ähnlich sieht es David Pachali bei irights.info: "Das Beispiel ist auch ein weiteres dafür, wie ungeschriebene Normen im Schatten des Urheberrechts entstanden sind, das den neuen Nutzungsweisen ziemlich hoffungslos hinterherhinkt. Ähnliche Regeln scheint es etwa bei Blogs zu geben, wo das Verwenden eines einzelnen Fotos einer fremden Fotoreihe häufig als okay angesehen wird, wenn man zur ganzen Reihe verlinkt."
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Gesellschaft

Im Guardian singt Architekt David Chipperfield eine kleine Ode auf Berlin: "Während andere europäische Städte wiederaufgebaut wurden, behielt Berlin seine Lücken, physisch, sozial und wirtschaftlich, und damit auch jene eigenartigen räumlichen Nachbarschaften und sozialen Überschneidungen, die anderswo durch die Gentrifizierung längst ausgeglichen sind. So bewahrte sich Berlin ein Gefühl für sich selbst, eigentlich beschäftigt es sich kontinuierlich mit sich selbst. Diese konfuse, nicht wirklich schöne, offensichtlich dysfunktionale Stadt - Ergebnis von Trauma und Teilung - zieht ihren Charme, ihre Lebendigkeit und den Neid anderer Städte nicht aus ihrer Schönheit oder ihrem Wohlstand, sondern aus ihrer Vitalität."

Sonja Vukovic, Ko-Autorin von "Christiane F. - Mein zweites Leben", plädiert bei Carta für eine kontrollierte Freigabe auch harter Drogen. Eines ihrer Argumente: Die aktuelle Drogenpolitik verhindere einen wirksamen Jugendschutz. "Bestes Beispiel dafür ist das Verbot von Drug Checking in Deutschland. Dabei hatte man Konsumenten, zum Beispiel in Clubs vor den Toiletten, abgefangen, um die Substanzen, die sie dabei hatten, chemisch zu testen, und dann zurück zu geben mit der genauen Info, was da alles drin ist, und was die körperlichen und psychischen Folgen sein können. Ob sie es dennoch konsumierten oder nicht, das war dann eine Frage der Aufklärung und freien Entscheidung, so wie bei jedem Glas Rotwein auch.""

In der SZ-Serie zur Toleranz erinnert Tobias Dorfer daran, dass schwule Männer bis heute unter den Urteilen des Paragrafen 175 zu leiden haben.
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