9punkt - Die Debattenrundschau

Sehr große rote Buchstaben

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2015. Im Standard spricht die deutsch-chinesische Autorin Xifang Yang über Mao-Nostalgie in China. In der FAZ zieht Brendan Simms Lehren aus Waterloo. Bei freitext kritisiert Feridun Zaimoglu die Kritiker von Religion. Die taz langweilt sich bei der FAZ-Lektüre. Im Observer benennt Kenan Malik eine Fehlstelle des Postkolonialismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.06.2015 finden Sie hier

Gesellschaft

Im Standard-Interview mit Ruth Renée Reif spricht die deutsch-chinesische Autorin Xifang Yang über die nachlassende Aufbruchsstimmung in China und die Verklärung der Mao-Zeit: "Tatsächlich waren die 70er-Jahre eine Zeit der Stagnation. Die turbulenten Jahre der Kulturrevolution waren vorüber, und China ist ein großes Land. Wenn man von den politischen Ereignissen nicht unmittelbar betroffen war, konnte man diese Jahre als sorglos empfinden. Es war ein einfaches, aber geordnetes Leben. Erst in den 80er-Jahren begannen einige, in Sachen Wohlstand davonzugaloppieren. Die subjektive Unzufriedenheit ist heute größer als früher, weil die Schere zwischen Arm und Reich aufgegangen ist. Es gibt inzwischen wieder eine Mao-Nostalgie. Im Rückblick glorifizieren die Menschen die 70er. Da habe es diese Ungleichheit nicht gegeben, den Neid nicht und keine Gier."

Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

Da Deutschland immer noch nicht weiß, wie es seine Berliner Schlossattrappe füllen soll, macht Niklas Maak in der FAS einen Vorschlag, der die Weltoffenheit dieses Landes endgültig unter Beweis stellen würde: "Wir haben gemerkt, dass für die Flüchtlinge aus Mali und Eritrea und Syrien überall in Deutschland Wohnungen und Container gebraucht werden, und da trifft es sich gut, dass wir im sogenannten Herzen Berlins soeben den größten, leersten und bisher sinnlosesten Container der Welt gebaut haben, mit der schönsten Kuppel obendrauf, die uns eingefallen ist, und unsere Neugierde auf eure Geschichten, liebe Flüchtlinge, ist so unerschöpflich wie die der beiden Humboldts zusammen."

Weiteres: Volker Breidecker fragt in der SZ, was es mit dem Rauswurf der Chefin des des Frankfurter Weltkulturen-Museums, Clémentine Deliss, auf sich hat. Beide Seiten - sowohl die Stadt als auch Deliss schweigen. Deliss hat sich durch interkulturelle Konzepte einen Namen gemacht.
Archiv: Kulturpolitik

Medien

In der taz bemerkt Jan Feddersen einen gravierenden Verlust feuilletonistischer Qualität bei der FAZ, worüber auch das neue Layout der FAS nicht hinwegtäuschen könne: "Die FAS war von Frank Schirrmacher lanciert worden, die Publizistik des eigenen Hauses relevant zu halten. Debatten, die wirklich die interessierte Republik beschäftigten, waren gang und gäbe. Big Data, Demokratie in Zeiten der Politikverdrießlichkeit, Demografie, Schwarz-Grün, Europa: JournalistInnen, die ihre Meriten nicht erst durch jahrelange Buckelei vor den Herren der FAZ-Politikredaktion Wohlgefallen sammeln mussten, wurden eingekauft. Die wichtigsten unter ihnen verließen nach Schirrmachers Tod vor einem Jahr das Haus." Heute sei das Feuilleton der FAZ, meint Feddersen, nurmehr "ein feines Heftchen der Rezensionen mit einer Fülle von Befindlichkeiten".

Johan Schloemann wertet in der SZ vor allem die extreme Buchstabenhaftigkeit der FAS als Signal: "Die Anfangsbuchstaben der Ressortüberschriften ragen riesig heraus und rufen: Die Gutenberg-Ära ist noch nicht zu Ende! Das Fraktur-F des Zeitungsnamens wird zum Logo, und auf der Titelseite wird in sehr großen roten Buchstaben daran erinnert, dass die Sonntagszeitung SONNTAGS erscheint. Die Signalfarbe soll wohl ausdrücken: Wir wollen definieren, was man am Tag des Herrn zu lesen hat."

Wie gerufen in Zeiten des Medienwandels kommt ein Buch über die Geschichte der BBC, schreibt Melvyn Bragg im Guardian: "Charlotte Higgins" "This New Noise: The Extraordinary Birth and Troubled Life of the BBC" ist die Bilanz einer Organisation, die so viele Aspekte des Lebens in diesem Land, seiner Traditionen und seines Charakters umfasst, dass sie seine Persönlichkeit selbst zu repräsentieren scheint. Dieses Buch könnte kaum besser und fälliger sein. Und überdies ist es elegant geschrieben, geht keiner Auseinandersetzung aus dem Weg und ist doch voller Respekt für die BBC."
Archiv: Medien

Politik

Kenan Malik zieht in einem Essay für den Observer eine eher deprimierende Bilanz der türkischen Wahlen, die er nicht als einen Konflikt zwischen Islamisten und "Linken" sieht, sondern als Ausdruck einer über islamische Länder hinausreichenden Tendenz: "Von Indien bis Algerien, von Ägypten bis Südafrika sind die Organisationen, die den Kampf gegen den Kolonialismus anführten (...) senil oder korrupt geworden, Aber die neuen Oppositionsbewegungen, die sich gegen diesen Verfall bildeten, sind oft in religiösen oder ethnischen Identitäten verwurzelt und sind oft sektiererisch oder separatisitisch. Dies lässt eine Lücke, wo sich eigentlich progressive Bewegungen auf nationaler Ebene befinden müssten."

In der FR sieht Arno Widmann in dem Wahlerfolg der kurdischen Partei HDP dagegen einen Epochenwechsel: "Die HDP vereinigt Anhänger Öcalans, kurdische Nationalisten, Demokraten, Sozialisten, erfahrene politische Kämpfer, die schon viele Jahre Gefängnis hinter sich haben, mit Gewerkschaftern, Feministinnen mit Vertretern der Gezi-Park-Bewegung. 13,1 Prozent Stimmen für diese wilde Mischung sind ein deutliches Zeichen dafür, dass es Wähler gibt, die Erdogans Versuch, alle Organe des Staates - Justiz, Medien, Parlament - in Organe seiner Macht zu verwandeln, energisch entgegentreten."

Cathrin Kalhweit berichtet in der SZ aus dem Osten der Ukraine, wo die Kämpfe wieder aufgeflammt sind: "Seit ein paar Tagen wird wieder sehr viel geschossen - und wieder gestorben. Und keiner weiß so recht, warum."
Archiv: Politik

Internet

Constanze Kurz polemisiert in ihrer Maschinenraumkolumne in der FAZ gegen eine Rede Angela Merkels, die Big Data lobte. In der Welt beklagt Hannes Stein die Frauenfeindlichkeit der Wikipedia.
Archiv: Internet

Geschichte

Brendan Simms, Autor der vielgefeierten Studie "Kampf um Vorherrschaft" und eines Buchs über die Schlacht von Waterloo, sieht in der FAZ (politischer Teil) in der Koalition der Armeen gegen Napoleon einen Keim für eine von ihm ausdrücklich erwünschte europäische Armee: "Als die Europäische Verteidigungsgemeinschaft in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts am Widerstand Frankreichs scheiterte, kam es zu einer fatalen Aufspaltung zwischen militärischer Sicherheit, die man der Nato zuwies, sowie politischer wie auch ökonomischer Integration, aus der sich schließlich die EU entwickelte - eine Aufspaltung, die eine europäische Integration seither erschwert hat. Politische und militärische Union Europas müssen Hand in Hand miteinander einhergehen."

Kathleen Hildebrand (SZ) lernt bei einer Tagung Entscheidendes zu Herrschaft und Stil: "Von jeher gilt, was Barack Obama so gut verstanden hat: Der Mächtigste ist der Lässigste."

Andreas Zielcke widmet sich in der SZ der Magna Carta mit denkbar kritischer Abgeklärtheit.
Archiv: Geschichte

Ideen

Der erklärte Gegenaufklärer (mehr hier) Feridun Zaimoglu wendet sich im Zeit-online-Blog freitext gegen die Mohammed-Karikaturen: "Was missfällt mir an den Mohammed-Karikaturisten? Ihre Drittklassigkeit. Sie wurden gelobt und bepreist, und man nannte sie die Heroen der Offenheit. Ich habe mir die Zeichnungen angesehen. Schlechte Zeichner machen sich wichtig. Sie wissen - und wenn sie klug sind, hassen sie sich dafür -, dass nicht ihre Kunstfertigkeit gewürdigt wird."
Archiv: Ideen