9punkt - Die Debattenrundschau

Das Problem mit den lästigen Menschenrechten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.05.2019. Als das Bundesverfassungsgericht entschied, ein "drittes Geschlecht" anzuerkennen, rechnete es mit 160.000 Menschen in Deutschland, die als "divers" gelten können. In Wirklichkeit sind es wohl eher 1.600, hat die Zeit recherchiert. Die FAZ feiert Susanne Schröters Kopftuchkonferenz als "Markstein bei der Rückbesinnung der Universitäten auf ihre intellektuellen Prinzipien". Welt-Autor Thomas Schmid erinnert an die Gründung der "Fasci italiani di combattimento" vor hundert Jahren. Der Guardian berichtet von der Angst der chinesischen Regierung vorm 4. Juni.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.05.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Als das Bundesverfassungsgericht entschied, ein "drittes Geschlecht" anzuerkennen, rechnete es mit 160.000 Menschen in Deutschland, die nach dieser Definition als "divers" oder intersexuell gelten könnten. In Wahrheit dürfte die Zahl derer, die den Status der Intersexualität (der auch ein wichtiger Baustein der Gendertheorien ist) beanspruchen würden, wohl eher bei 1.600 liegen, schätzt Martin Spiewak, der für die Zeit in Krankenhäusern und Behörden recherchiert hat: "Eine Nachfrage der Zeit bei den Standesämtern der elf größten deutschen Städte ergibt: Insgesamt haben zwanzig Personen beantragt, ihren Geschlechtseintrag auf 'divers' ändern zu lassen (Stand Mitte April). Neun von ihnen leben in Berlin, zwei in München. Rechnet man die Zahlen, die von ähnlichen Umfragen bestätigt werden, auf ganz Deutschland hoch, sind es rund 150 Fälle. Eltern intersexueller Neugeborener, die ihr Kind als divers eintragen ließen, gibt es in den befragten Städten bislang keine." Natürlich, so Spiewak, könne es sein, dass sich noch nicht alle in Frage kommenden Personen gemeldet hätten, doch "mit einer Fallzahl von über tausend Betroffenen rechnet kaum jemand". Hinzukomme, dass sich die meisten der Personen, die medizinisch als intersexuell gelten, sehr wohl entweder als Mann oder Frau definieren. Aber die Betroffenen haben gute Lobbyarbeit geleistet, meint er.

Nicht die "Identitätspolitik" ist das Problem, sondern die Politik der Ausgrenzung, die soziale Minderheiten schafft, schreibt indes die Publizistin Carolin Emcke in der SZ: "Zu den mehr oder minder mutwilligen Missverständnissen über 'Identitätspolitik' gehört die Unterstellung, Angehörige von Minderheiten lehnten liberale Gesellschaftsmodelle oder universale Prinzipien ab, weil sie Werte kulturell relativierten. Das Gegenteil ist üblicher: Um Diskriminierung zu kritisieren, braucht es keine aufgeladenen Konzepte von essenzieller Identität, sondern gerade eine Orientierung an den universalen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit. Allein: Um eine konkrete Diskriminierung zu belegen, braucht es eine dichte Beschreibung der Art und Weise, in der benachteiligt wird - und da kommen dann Hinsichten wie Körpergröße oder Hautfarbe ins Spiel."

Erstaunlich, in wie kurzer Zeit sich die Stimmung zum Kopftuch in den Feuilletons gedreht hat. Gerade präsentierte das Frankfurter Museum für Angewandte Kunst einen beschönigenden Blick auf "Muslim Fashions", und allenthalben verteidigte man das Kopftuch als modischen Schmuck keuscher Weiblichkeit (unsere Resümees), doch nach der @schroeter_raus-Aktion an der Frankfurter Uni (unsere Resümees) sind nun alle für die Kritik an diesem Symbol der Unterwerfung, so auch Thomas Thiel, der heute für die FAZ über die Konferenz von Susanne Schröter schreibt. "Man muss dazu sagen, dass die Frankfurter Konferenz nicht die dominierende Stimmung in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik wiedergab. Susanne Schröter hat mit großer Widerstandskraft einen Raum geschaffen, in der Meinungen ausgesprochen werden können, die sonst zurückgehalten oder, wie die Konferenz selbst, mit Rassismus-Parolen niedergehalten werden (sollen). Necla Kelek findet beispielsweise akademisch kein Podium mehr." Thiel feiert Schröters Konferenz als "Markstein bei der Rückbesinnung der Universitäten auf ihre intellektuellen Prinzipien". Ähnlich argumentiert Cigdem Toprak in der Welt und betont: "Kritik muss, darf und soll sein. An allen Religionen - und auch am Islam."

Andreas Wilkens erzählt in einem schönen Feuilleton bei heise.de, warum er gern zu Fuß geht, und warum das immer schwieriger wird: wegen Radfahrern auf Gehwegen, "und während ich dies schreibe, berichtet das Radio, 'nach Angaben des Kraftfahrtbundesamtes im Jahr 2007 wurde deutschlandweit noch rund 689.000 Menschen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren eine Fahrerlaubnis erteilt, 2017 nur noch rund 345.000'. Sie fahren also weniger mit dem Auto, sondern radeln womöglich immer mehr ahnungslos an diesen seltsamen runden blauen Schildern mit der Frau und dem Kind drauf vorbei."
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Geschichte

Vor hundert Jahren startete ein gewisser Benito Mussolini mit seiner winzigen Kernzelle der "Fasci italiani di combattimento" ins kurze 20. Jahrhundert. Welt-Autor Thomas Schmid widmet ihm in seinem Blog ein lesenswertes historisches Porträt. Mussolini, erzählt er, begann als Sozialist in der Taverne seines Vaters: "Doch Theorie und Reformen interessierten den jungen Revolutionär nie. Der Einzelgänger mit unstillbarem Geltungsdrang war laut und streitsüchtig, legte sich häufig mit Feinden und Freunden an, gerne auch handgreiflich. Von Anfang an beschwört Mussolini die große Tat, den Umsturz, er liebt und verherrlicht die Gewalt, die für ihn ein Wert an sich ist. Der unbedingte Wille ist sein Weg. Er verachtet alles, was kompliziert ist und nicht radikal: Kompromisse, die Kirche, das Parlament, diese bloße Redeveranstaltung, und - so der Historiker Hans Woller - den 'ranzigen Liberalismus der besseren Leute'."
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Religion

Franziskus hat nun zwar eine Meldepflicht für Missbrauchsfälle erlassen, die Fundamente des "Gebäudes aus Beichtgeheimnis, Zölibat, Homophobie und Frauendiskriminierung" will er aber weiter nicht antasten, seufzt Malte Lehming im Tagesspiegel. Und: "Eine automatische Weitergabe der Informationen oder Verdachtsfälle an staatliche Stellen, wie es sie seit mehreren Jahren in Deutschland gibt" sei nicht vorgesehen.
 
Derweil resümiert Zeit Online die Forderung des Direktor des Bonner Theologenkonvikts, Pater Romano Christen, der in einem Vortrag die Position vertrat, Homosexualität sei die "Folge einer psychologischen (Fehl-)Entwicklung" und könne therapiert werden.
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Ideen

Wir leben nicht im "postfaktischen" Zeitalter, schreibt die amerikanische Historikerin Sophia Rosenfeld bei Zeit Online und erinnert: Bereits seit der Aufklärung gab es ein "Wahrheitsregime": "Im 18. Jahrhundert erklärten Verfechter der Volkssouveränität wie Jean-Jacques Rousseau und Thomas Paine, Republiken hätten eine besondere Beziehung zur Wahrheit. Während die Monarchien sich etwas auf ihre Heimlichtuerei und Verschleierung zugutehielten, baue das neue Modell auf ganz andere Werten: Transparenz, überprüfbare Informationen und persönliche Aufrichtigkeit. Die Wahrheit sei sowohl eine Grundlage, auf der die Demokratie beruhe, als auch eines ihrer Resultate. Dieselben Männer hielten jedoch daran fest, dass die Wahrheit völlig ergebnisoffen und undogmatisch bliebe. Auch sollte keine Person, Institution oder Methode als ihre gültige Quelle festgeschrieben werden - sie sei vielmehr ein Produkt der Gesellschaft."
 
Selbst in den empirischen Wissenschaften gibt es die Tendenz, Fakten gemäß den eigenen Wünschen zu interpretieren, schreibt in der NZZ der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer. Und: "Die Sache mit der Faktizität hat noch einen anderen Haken, den ich in aller Vorsicht als die 'Dynamik des Erkenntnisprozesses' umschreiben möchte. Sind einmal beachtliche intellektuelle, mentale und materielle Energien in ein thesengestütztes Projekt investiert, wird kaum einer der beteiligten Akteure noch sonderlich an irritierenden Gegenargumenten interessiert sein."
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Internet

"Es ist Zeit, Facebook aufzubrechen", lautet die Überschrift des am meisten retweeteten Artikel des Tages. Autor ist Chris Hughes, der einst zusammen mit Mark Zuckerberg Facebook gründete, was ein paar süße Fotos von den beiden im Artikel bezeugen. Hughes erinnert in der New York Times daran, dass in Amerika schon zuvor Monopole aufgelöst wurde, etwa bei Eisenbahnen, Stahl und Öl: "Amerika ist auf die Idee gebaut, dass Macht sich nicht in einer Person konzentrieren sollte, denn wir sind alle fehlbar. Darum schufen die Gründerväter ein System des Machtausgleichs. Sie mussten nicht auf Facebook warten um zu verstehen, dass Firmen von gigantischer Größe die Demokratie bedrohen. Jefferson und Madison waren gierige Leser Adam Smiths, der glaubte, dass Monopole den Wettbewerb behindern, der allein Innovation und wirtschaftliches Wachstum bringt."

Während die Zeitungen nichts Essenzielles von der diesjährigen Republica mitnehmen (eine reine "Wohlfühlanstaltung", ärgert sich Karin Janker auf den Meinungsseiten der SZ), widmet sich Jens-Christian Rabe im Feuilleton-Aufmacher der SZ der Hamburger Online Marketing-Konferenz OMR, deren "freundliche Schamlosigkeit" gegenüber neuen Technologien ihn fassungslos macht - etwa, wenn ihm der chinesische JD-Vizechef Bowen Zhoun von den Möglichkeiten der KI vorschwärmt: "Vom Verkauf bis zu Versand und Auslieferung gibt es demnach nichts, was die KI nicht besser könne als menschliche Mitarbeiter: 'promotion optimization', 'stock optimization', 'order forecasting', 'sales forecasting' und so weiter und so weiter. Die Emotionen der Kunden könne KI viel zuverlässiger lesen und ausnutzen. (...) Dereinst wird der Mensch nicht mehr nur noch als Konsument gebraucht, er wird zum komplett digital individualisierten Konsumenten. So kann man das Problem mit den lästigen Menschenrechten natürlich auch lösen." In der taz resümieren Svenja Bergt und Carolina Schwarz die Republica.
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Politik

Es nähert sich der dreißigste Jahrestag des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens. Lily Kuo berichtet im Guardian, dass Aktivisten in ganz China unter strikteste Kontrolle gestellt werden. Doch "trotz der Anstrengungen der Regierung, die Erinnerung an den 4. Juni auszulöschen, ist das kaum möglich. Gedenkveranstaltungen sind in der ganzen Welt geplant, inklusive Hongkong. 'Sowohl bei den Leuten als auch in der Regierung: Der 4. Juni ist immer sehr präsent', sagt der Menschenrechtsanwalt Pu Zhiqiang. 'Es gibt eine Menge Leute, die nicht vergessen.'"
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Europa

Irgendwann sollte die EU sich mal Frage stellen, wann sie Viktor Orban den Saft abdreht. Gabor Schein schildert in der taz das jüngste Beispiel für "Machtdemonstration und Erpressung" durch den ungarischen Regierungschef - er entzieht der angesehenen Ungarischen Akademie der Wissenschaften die staatliche Unterstützung. "Das ist ein offenkundiger Gesetzesbruch. Doch wer würde sich trauen, einen Prozess gegen die Regierung anzustrengen? Orbans Partei kontrolliert die Staatsanwaltschaft, größtenteils die Gerichte und hat den überwiegenden Teil der Presse in der Hand. Die für Forschung und Innovation vorgesehenen beträchtlichen Zuschüsse aus der Europäischen Union will man nicht länger der unabhängigen Akademie zukommen lassen, sondern ab sofort eigens gegründeten, quasi regierungseigenen Institutionen. Auf diese Weise lässt sich das Geld besser veruntreuen."

Kevin Kühnerts Enteignungsvorschlag hat eine "Geisterdebatte unter Geschichtsignoranten" angestoßen, ärgert sich der Historiker Magnus Brechtken in der SZ mit Blick auf sozialistische Gesellschaftskonzepte der Vergangenheit. Den Deutschen attestiert er einen "Finanz-Analphabetismus, wie ihn die aktuelle Debatte an zahlreichen Beiträgen illustriert. Wem das Anliegen ernst ist, Geld und Vermögen gleichmäßiger zu verbreiten, sollte Vermögens-Bildung im doppelten Wortsinn fördern. Menschen zu finanzieller Mündigkeit zu ermutigen und zu erziehen sollte als Grundrecht verstanden werden. Ein Schulfach Wirtschaft und Finanzen ist seit Langem dringend gefordert. Wer dagegen Kollektivismus propagiert, muss sich fragen lassen, mit welchem Interesse er Menschen unmündig halten möchte." Robert Misik stimmt Kevin Kühnert derweil in der taz zu und fordert genossenschaftliche Produktionsweise in vielen wirtschaftlichen Bereichen.
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