9punkt - Die Debattenrundschau

Selbst das Ich kam sich abhanden

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.12.2019. In der Welt warnt Udo Di Fabio vor einer Rhetorik des Notstands von rechts wie von links. Die Russen fürchten eine Invasion lateinischer Buchstaben, notiert die SZ. Boris Johnson und Jaroslaw Kaczynski  haben nicht viel gemein, außer, dass sie ihren Nationalismus mit Sozialpolitik verbinden, beobachtet Welt-Autor Thomas Schmid. Paris ist zum Wintersportort geworden: Scharf und unwiderruflich sind die  Überholmanöver der Pistenprofis, findet Libération.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.12.2019 finden Sie hier

Europa

Boris Johnson mag sich ein Beispiel an Jaroslaw Kaczynski genommen haben, der gezeigt hat, dass Nationalismus mit Sozialpolitik vereinbar sei, ohne dass ein Land in den Abgrund stürzt, schreibt Welt-Autor Thomas Schmid in seinem Blog. Für die Kombination gibt es wiederum ein historisches Vorbild: "In den ersten Jahren des Nationalsozialismus profitierten viele Deutsche von der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Nazis. Und sie nahmen dafür deren Politik der Repression Andersdenkender sowie die Verfolgung der Juden billigend in Kauf oder übersahen sie geflissentlich. Arbeitsplatz und Geldbeutel zählten mehr. Auch viele Polen, die PiS gewählt haben, haben für deren Sozialpolitik gestimmt und den sturkatholischen Nationalismus Kaczyńskis sowie die Demontage des Rechtsstaats nur hingenommen oder angestrengt übersehen."

Dreißig Jahre nach der Wende feiert man gern die friedlichen Revolutionen in Osteuropa. Der Balkan, auf dem es nicht so friedlich zuging, wird dabei gern vergessen, schreibt der Südosteuropahistoriker Oliver Jens Schmitt in der NZZ. In Rumänien, Ex-Jugoslawien, Albanien oder Bulgarien gab es Tote. In diesen Ländern war 1989 "ein Jahr verpasster Chancen", was auch daran lag, dass es dort weder starke Bürgergesellschaften gab noch Erfahrungen mit Dissidenz. "Die Balkankommunismen kannten kein oder kaum ein Tauwetter. Dies zeigt sich an den Symboljahren 1956 und 1968: Auf die Entstalinisierung in der Sowjetunion und den ungarischen Volksaufstand reagierten die albanischen, bulgarischen und rumänischen Machthaber mit Restalinisierung. 1968 war im Balkan - außer im Falle der Belgrader Studenten - kein Jahr linker und alternativer Kundgebungen, sondern ein Jahr der nationalistischen Massenmobilisierung: in Kroatien, bei den Albanern Jugoslawiens, in Rumänien. Es folgte eine massive ideologische Verhärtung."

Aber selbst in Ländern, die von der Wende enorm profitierten, haben dennoch viele nicht die geringste Lust zu feiern, erklären Jaroslaw Kuisz und Karolina Wigura in der NZZ. In Polen zum Beispiel: denn mit der wirtschaftlichen und politischen Teilhabe kam auch "ein durchdringendes Gefühl von Unsicherheit. Kompakte Lebenswelten lösten sich auf, alte Gewohnheiten wurden hinfällig, zwischenmenschliche Beziehungen zerfielen, und selbst das Ich kam sich abhanden", was viele zu den Populisten strömen ließ. Wie soll man darauf reagieren, fragen sich die AutorInnen. Drüber reden würde schon helfen: "Es herrscht Angst vor der Zukunft, und was fehlt, sind positive Visionen für die kommenden Jahrzehnte, die alle ansprechen. Technologische Utopien bleiben ungenügend, weil sie die Menschen innerlich kaltlassen. Auch wird man sich, wo der rasende Fortschritt zur Regel wird, verstärkt in eine Kultur des Umgangs mit Verlusten einüben müssen."

Im Guardian erinnert Nick Cohen daran, was die britische Linke, die Labour gekapert und in eine krachende Niederlage bei den Wahlen getrieben hat, zu verantworten hat: "Johnson wird anderen starken Männern folgen und seine Macht nutzen, um abweichende Meinungen zu unterdrücken. Er hat bereits versucht, unser angeblich souveränes Parlament auszuschließen, weil es nicht seinem Willen folgen wollte. Als Channel 4 höflich darauf hinwies, dass Johnson sich den Wahlkampfdebatten entziehe, drohte er damit, die Lizenz zu überprüfen. Als die BBC auf sein Versäumnis hinwies, sich der Überprüfung zu unterziehen, drohte er mit der Abschaffung der Fernsehgebühr. Die konservative Partei hat im Wahlkampf Lügen herausgepumpt und gefälschte Twitter-Konten aufgestellt als wäre sie eine Bande nigerianischer Betrüger. Die gefährliche Lektion, die sie aus ihrem Sieg gelernt haben, ist, dass sie Institutionen untergraben, die parlamentarische Demokratie verachten, ungehemmt lügen können und - rate mal - keinen politischen Preis zahlen müssen." Die Linke wünscht sich das im Grunde genauso, meint Cohen.
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Kulturpolitik

Das Russische wird in den früheren Sowjetrepubliken immer mehr zurückgedrängt - nicht nur in der Ukraine oder dem Baltikum, sondern zum Ärger Putins auch in Ländern, die Moskau eigentlich immer noch wohlgesonnen sind, berichten Silke Bigalke und Frank Nienhuysen in der SZ. "Aserbaidschan, Usbekistan und Turkmenistan haben bereits ihr Alphabet vom Kyrillischen auf lateinische Buchstaben umgestellt. Kasachstan, der größte der zentralasiatischen Staaten, ist gerade dabei. Bis 2025 sollen alle Zeitungen, Schulbücher, Dokumente, Straßenschilder sowie die Werbung auf lateinische Buchstaben umgestellt sein. Sogar manche kasachische Schriftsteller, Kinder der Sowjetunion, fürchten nun einen Schlag für die russische Sprache, einen Bedeutungsverlust literarischer Klassiker. Für die nationalen Sprachen bedeutet dies eine Renaissance, nachdem jahrzehntelang das Russische dominiert hat. Auch in Weißrussland, traditionell der engste Verbündete Russlands, ist eine sanfte Wandlung zu spüren als Ausdruck einer neuen nationalen Identität."
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Politik

Die Algerier, die seit Monaten gegen ihre Regierung protestieren, fühlen sich auch nach den Wahlen betrogen, berichtet Martin Gehlen auf Zeit online. Zum Wahlsieger war Ex-Premierminister Abdelmadjid Tebboune erklärt worden. "Die Protestbewegung hatte zuvor jedoch demokratische Reformen gefordert, die das korrupte Machtsystem abschaffen sollen, das auf der undurchsichtigen Verbändelung von Politik, Militär und Geheimdienst beruht. Dann erst wollen die Menschen einen Nachfolger für den 82-jährigen Abdelaziz Bouteflika bestimmen, den sie im April zum Rücktritt zwangen. Der 74-jährige Tebboune gilt als altes Schlachtross des Regimes und als Favorit des Militärs. Gleich im ersten Wahlgang landete er mit 58,1 Prozent um Längen vor seinen vier ebenfalls handverlesenen Konkurrenten. Das erspart den Algeriern zumindest die Demütigung eines zweiten, ähnlich krass gefälschten Wahlganges."

So gut wie alle Länder Lateinamerikas sind in akuten Krisen. Die Ursachen dafür aber sind länderspezifisch, schreibt der Politologe Nikolaus Werz in einem Überblicksartikel für die Gegenwartsseite der FAZ: "In Zeiten des Kalten Krieges verliefen die Proteste der Mittelschichten eher nach einem Links-rechts-Schema. Das hat sich geändert. In Brasilien steht der Wunsch nach mehr Lebensqualität im Vordergrund, in Bolivien und Venezuela geht es um Gewaltenteilung und Rechtsstaat. Auch die Kritik an Klientelismus, Machismus und Korruption in der bestehenden politischen Kultur spielen eine Rolle. Die Demonstranten fordern mehr Transparenz, mehr Frauenrechte und mehr Demokratie. Zum Problem kann dabei werden, dass die Bürger in Ländern mit plurinationalen Verfassungen mehr Rechte (unter anderem Minderheitenrechte) erhalten haben. Gleichzeitig aber funktioniert der Rechtsstaat kaum oder nur schlecht. Faktoren, die die Gesellschaft zusammenhalten, sind wiederum nur schwach ausgeprägt."
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Gesellschaft

Diese überdimensionierten Anoraks. Diese Helme. Diese Mützen. Diese Sportgeräte, die man mal entstaubt, mal stolz besitzt, mal mietet: Paris ist zum Wintersportort geworden. Und die Sportgeräte sind in der streikgelähmten Stadt Fahrräder, Ebikes und Elektroroller, schreibt der Libération-Kolumnist  Quentin Descamps : "Auf den roten und schwarzen Pisten flitzen die erfahreneren Sportler herum, die in der Gegend das ganze Jahr wohnen und arbeiten. Man erkennt sie an ihren Ultra-Design-Klamotten, dem leichten und präzisen Sportgerät oder der Kamera auf dem Helm. Ihre Überholmanöver sind scharf und unwiderruflich. Manchmal wagen sie sich auf die Gebiete außerhalb der markierten Pisten und schlängeln sich auf einer Hoppelwiese zwischen den Autos durch oder umwedeln eine Ampel."
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Ideen

Im Interview mit der Welt warnt der Verfassungsrechtler Udo Di Fabio vor einer langsamen Aushöhlung des Rechtsstaats, die von rechts aber auch von links betrieben wird, wenn mit Begriffen wie "Klimanotstand" und "ziviler Ungehorsam" hantiert wird: "Die Rhetorik des Notstandes will ein 'Mainstreaming', eine suggestive Wirkkraft erzeugen. Das ist im Ansatz legitim, kann am Schluss jedoch die verhandelnde und rechtsgebundene Demokratie als Versager dastehen lassen. Das wiederum mindert dann das Vertrauen in die Fähigkeit der Politik und schmälert deren Spielräume für eine die Interessen ausgleichende, ordnungspolitisch durchdachte Gesetzgebung. In Deutschland reagieren viele auch im Blick auf die eigene Geschichte irritiert.

Der Populismus-Begriff ist unscharf, findet Michael Meyer-Resende von der Politikberatungsagentur "Democracy Reporting International" (Website) im Aufmacher des FAZ-Feuilletons. Wichtiger sei die Frage, "ob eine Partei antidemokratisch oder verfassungsfeindlich ist oder nicht. Forscher und Journalisten sollten sich die Mühe machen festzustellen, ob Parteien undemokratische Programme oder Politikvorschläge haben, und sie dementsprechend 'autoritär' oder 'antidemokratisch' nennen. In Deutschland wird es der Öffentlichkeit dabei leichter gemacht, als in anderen Ländern, da der Verfassungsschutz offiziell erklärt, wo Parteien die grundgesetzlichen Grenzen in Frage stellen."

In der FAS wirft Kolja Reichert einen poptheoretischen Rückblick auf die nun zu Ende gehenden zehner Jahre des 21. Jahrhunderts, findet die Nuller aber alles in allem interessanter: "Die Neunziger waren aus Erde und Asphalt. Die Nuller waren aus Holz, Touchscreens und rollbaren Office-Möbeln. Alles sollte sich bewegen. Man trank den Kaffee jetzt im Gehen und hörte Musik aus minimalistisch weißen Stöpseln. Die Technik war zum Anfassen. Internet war was Gutes. Irre. Wie vorbei das ist."
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