9punkt - Die Debattenrundschau

Der Elefant ist das unbewusste Fühlen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.07.2020. Im Tagesspiegel unterstützt Timothy Garton Ash den Aufruf der amerikanischen Intellektuellen und dann doch wieder nicht. Weiße, denen beim Rassismusvorwurf unwohl ist, sind RassistInnen, sagt Robin DiAngelo in Libération. Die New York Times begrüßt eine Revolution im Verlagswesen, die verspricht, zugleich divers und kommerziell zu werden. Rassismus und Aufklärung hängen zusammen, schreibt der Philologe Horst Dieter Schlosser in der FR. Unterdessen spitzt sich die Ungleichheit in Deutschland immer weiter zu, konstatiert die taz. Und die Zeit traut sich ein Plädoyer für Atomkraft.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.07.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Lasst die verbleibenden Atomkraftwerke in Deutschland weiter laufen, fordern Rainer Moormann und Anna Veronika Wendland in der Zeit. Sechs davon gibt es immerhin noch, die demnächst abgeschaltet werden sollen: "Eine Stilllegung wäre irreversibel. Dabei wären sie die eindeutig klimaschonendere Energieversorgung im Vergleich zur Kohle. Die sechs letzten deutschen Kernkraftwerke erzeugen mit ihren insgesamt rund 8.500 Megawatt Brutto-Nennleistung so viel Strom wie der gesamte Park an Braunkohlekraftwerken Nordrhein-Westfalens. Es ergibt keinen Sinn, die besonders klimaschädlichen Braunkohlekraftwerke weiterlaufen zu lassen und Kernkraftwerke stillzulegen." Als vorläufiger Ersatz für Atomkraft sei übrigens Gas eingeplant - wovon vor allem einer profitiert: Wladimir Putin.

Im Tagesspiegel stimmt den Timothy Garton Ash, der bereits vor einigen Jahren ein Buch über Redefreiheit geschrieben hat, den Unterzeichnern des offenen Briefs für eine freie Debattenkultur in jedem Punkt zu. Dennoch wirbt er vorsichtig um Verständnis für deren Kritiker, darunter einige seiner Studenten: "Die Anklageschrift meiner Studierenden lautete in etwa wie folgt: Die Welt, die ihr ältere Liberale uns hinterlasst, ist auf der Rückseite verrottet. Wie konntet ihr so viel amerikanische Polizeigewalt gegen Schwarze tolerieren? Wie konntet ihr den verklärenden Blick Großbritanniens auf seine eigene Kolonialvergangenheit zulassen? Wie konntet ihr Harvey Weinstein und all die anderen Missbrauchstäter ignorieren? Ihr alten Liberalen predigt' gleichen Respekt und gleiche Aufmerksamkeit' (in den Worten des Philosophen Ronald Dworkin), aber die sozialen Medien, die im öffentlichen Raum unserer Generation eine größere Rolle spielen als die New York Times und die BBC, verstärken massiv die Intoleranz gegenüber LGBT+ und anderen Gruppen." Zeitschriften sollten öfter Artikel von unterdrückten und benachteiligten Gruppen abdrucken, fordert er.

Der Autor und Performer Robin Detje wendet sich im Feuilleton der Zeit gegen den wie er meint "herzlosen" Aufruf von 150 amerikanischen und britischen Intellektuellen gegen das hysterisierte Debattenklima: "Was ist das für ein Liberalismus, der sich von Forderungen anderer nach Freiheit, Anstand und Selbstbestimmung bedroht fühlt? Offensichtlich einer von oben, der sich als Hüter der freiheitlichen Gesellschaft geriert, aber für die Freiheit der anderen nicht kämpfen will."

Wir sind Rassisten, ohne es zu wissen. Sozialpsychologen wie Jonathan Haidt haben Tests entwickelt, die das beweisen, schreibt Bastian Berbner in Zeit online. Unser Unbewusstes sei mit einem Elefanten zu vergleichen: "Der Elefant ist das unbewusste Fühlen. Auf ihm sitzt ein Reiter, das ist das bewusste Denken. Der Reiter kann durchaus etwas ausrichten gegen das mächtige Tier, kann es mal bremsen und ihm mal eine bestimmte Richtung vorgeben. Aber meist setzt sich, Haidt zufolge, der Elefant durch."

Der Rassismus der Weißen ist quasi unauslöschlich sagt die weiße Soziologin Robin DiAngelo, die mit "White Fragility" den Bestseller der Saison gelandet hat, im Gespräch mit Paloma Soria Brown von Libération: "Rassismus ist der Status quo. Wenn ich weiß bin und ich mich unwohl fühle, wenn ich über Rassismus spreche, bedeutet das, dass ich mich in einer rassistischen Gesellschaft wohl fühle. Im übrigen können Sie, wenn Sie sich in einer Machtposition befinden, Ihre Gefühle dazu nutzen, die Aufmerksamkeit vom wirklichen Problem abzulenken und diese Macht zu behalten." Wir verweisen nochmal auf Kenan Maliks Warnung vor einer Psychologisierung des Rassismusproblems, die wir gestern zitierten.

Der Reichtum ist in Deutschland ganz besonders ungleich verteilt, berichtet Ulrike Herrmann in der taz unter Bezug auf eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), das übrigens sehr große Probleme hatte, überhaupt an valide Zahlen zu kommen - denn reiche Leute schweigen gern über ihr Vermögen: "Den DIW-Forschern blieb daher nur, das Manager-Magazin zu konsultieren, das jährlich eine Hitliste der deutschen Vermögen veröffentlicht. Für das Jahr 2017 waren dort rund 700 MillionärInnen aufgeführt, die mehr als 250 Millionen Euro besaßen. Auch sie wurden in die DIW-Auswertung integriert. Im Gesamtergebnis zeigte sich, dass das reichste Prozent der Bevölkerung rund 35 Prozent des individuellen Nettovermögens besitzt. Bisher war man von 'nur' 22 Prozent ausgegangen. Das reichste Zehntel kommt nun auf 67,3 Prozent, nachdem man zuvor 58,9 Prozent angenommen hatte."

Antisemitismus war in Deutschland nie weg und wird nun, oft "verkleidet als Israelkitik", in fast allen Milieus "lauter und aggressiver", schreibt der arabisch-israelische Psychologe Ahmed Mansour in der NZZ: "Woher diese deutsche Besessenheit von der 'Israelkritik'? Warum ist man so fixiert auf die kleine Demokratie im Nahen Osten, die sich gegen sämtlich feindselige Nichtdemokratien in ihrer Nachbarschaft behaupten muss?" Er ergänzt: "Migrantinnen und Migranten sind erst dann sozialverträglich integriert, wenn sie Judenhass als illegitim und irrational begriffen haben und ablehnen."
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Medien

Der Guardian streicht bis zu 180 Stellen, heißt es in einer Meldung in eigener Sache: "Die Chefredakteurin Katharine Viner und die Geschäftsführerin der Guardian Media Group, Annette Thomas, sagten in einer gemeinsamen Erklärung an die Mitarbeiter, dass die Pandemie eine 'unhaltbare finanzielle Perspektive für den Guardian' geschaffen habe, da die Einnahmen voraussichtlich um mehr als 25 Millionen Pfund gegenüber dem Jahresbudget zurückgehen würden." Der Guardian soll trotz der Krise weiterhin online kostenlos lesbar bleiben.
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Europa

Tayyip Erdogan wendet sich mit der Umwidmung der Hagia Sophia zur Moschee nicht nur gegen den Laizismus der Kemalisten - sondern vor allem gegen den Westen, meint Asli Erdogan in einem Artikel, den die taz übernimmt. Nicht von ungefähr spreche Erdogan von der "Vollendung der Eroberung": "'Eroberung' ist ein Ausdruck aus der Terminologie oder Ideologie eines vergangenen Zeitalters, in dem der Sieger die Besiegten ohne moralische Bedenken besetzen und vernichten konnte. Die Zerstörung oder Umwandlung der Tempel der Besiegten war in der Vergangenheit übliche Praxis. Das Erdogan-Regime erklärt damit das Osmanische Reich zum neuen Vorbild der heutigen Türkei. Dieses Regime wird sich nicht länger belasten mit moralischen Werten, die dem Westen oder modernen Gesellschaften zugeschrieben werden oder im weiteren Sinne der Moderne und 'dem Westen'."

In seiner FAZ-Kolumne sieht Bülent Mumay die Umwidmung der Hagia Sophia als den Streich eines Populisten in letzter Not und zitiert einen älteren Satz Erdogans gegen die Umwidmung: "Das könnte uns teuer zu stehen kommen. Haben jene, die die Hagia Sophia für das Gebet öffnen wollen, einmal überlegt, was dann mit unseren Moscheen im Ausland geschieht?" Und was geschieht mit den christlichen Darstellungen in der Hagia Sophia, fragt sich Constanze Letsch in der NZZ: "In einer ersten Stellungnahme versicherte die AKP-Regierung, keine der christlichen Darstellungen werde entfernt. (...) Allerdings müssten sie während der Gebetszeiten 'auf angemessene Art' verhängt oder verdeckt werden. Wie das geschehen soll, ist einstweilen unklar."

Es gibt seitens der EU kaum Kontrolle, ob Fördermittel nach Ungarn wirklich bei den Empfängern ankommen, schreibt der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund in der FR: "Gleichzeitig wird das persönliche Umfeld von Viktor Orban unvorstellbar reich. Orbans Vater besitzt einen der profitabelsten Steinbrüche Europas. Er liefert - nahezu exklusiv - das Baumaterial für EU-geförderte Projekte und baute sich ein Anwesen in seinem Heimatdorf zum Golfplatz um. Orbans Schwiegersohn hat mit dem Verkauf und der Installation von LED-Straßenlampen ein Vermögen verdient. Sponsored by Europäische Union. Der Oppositionsabgeordnete Akos Hadhazy hat das ausgeklügelte System dokumentiert, mit dem EU-Gelder systematisch abgegriffen werden. Öffentliche Vergabeverfahren werden manipuliert, so dass am Ende nur Firmen aus dem Umfeld von Viktor Orban die Ausschreibung gewinnen. Auf das bescheidene Wohnhaus des Orban-Schulfreunds Lörinc Meszaros sind allein 19 Großunternehmen zugelassen."
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Kulturpolitik

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz soll zerschlagen werden. Ijoma Mangold weist in der Zeit darauf hin, dass es neben der organisationspolitischen Frage auch eine ideologische gebe: "Man sieht nämlich, wie es manche in den Fingern juckt, die Verwaltungsreform zum Anlass zu nehmen, den Gedächtnisraum Preußen gleich mit zu entsorgen. Im Gutachten ist die Rede davon, dass die 'Markenidentität' nicht mehr zeitgemäß, der Begriff Preußen nur noch schwer zu vermitteln sei und 'ohnehin einer eingehenden kritischen Reflexion' bedürfe." Und er mahnt: "Preußens kulturelles Patrimonium wurde von der Bundesrepublik und den Ländern in Form der Preußen-Stiftung übernommen. In Verantwortung vor der Geschichte. Das war mehr als eine museumspolitische Organisationsfrage, es geschah in dem Bewusstsein, dass Preußen zur deutschen Vergangenheit gehört."
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Wissenschaft

Wissenschaftlich neutral war der Begriff der "Rasse" in Deutschland nie, schreibt der Philologe Horst Dieter Schlosser in der FR mit Blick in die Wissenschaftsgeschichte: "Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an zeichnet sich zunächst durch das Bemühen vornehmlich von Medizinern und Völkerkundlern aus, ihre Befunde so objektiv wie möglich zu analysieren und zu systematisieren. Dabei zeigt sich aber auch schon früh, dass die Sichtweise zumindest immanent europazentriert und selten ohne Werturteile ist, etwa wenn die europäischen Populationen einer 'kaukasischen' = 'weißen' Rasse - im übrigen unter Einbeziehung der Semiten - zugeordnet und ihnen Vorzüge vor allen anderen zugeschrieben werden."
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Kulturmarkt

Eine Revolution im amerikanischen Verlagswesen verkünden Alexandra Alter und Elizabeth A. Harris in der New York Times. Eine Menge wichtige Posten sind im letzten Jahr neu besetzt worden. Viele davon von Frauen, viele von Schwarzen, und auf nicht wenige trifft beides zu, freuen sich die Autorinnen: "Einige der Personen... haben deutlich andere Vorlieben als ihre Vorgänger. Reagan Arthur und Amy Einhorn, die neuen Verlegerinnen von Knopf und Henry Holt, sind beide dafür bekannt, dass sie einen ausgeprägten Geschäftssinn haben, ein Auge dafür haben, was sich verkauft, und wissen, was Frauen lesen wollen."
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