9punkt - Die Debattenrundschau

Die so genannte Souveränität

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.10.2020. Ganz gleich ob Finanzkrise oder Coronakrise - für die Mitgliedsstaaten der EU scheint es nur eine Antwort zu geben: den jeweiligen Nationalstaat zu stärken, klagt Robert Menasse in der Berliner Zeitung. Daphne Caruana Galizia wurde ermordet, weil sie die Machenschaften eines Mafiastaats aufdeckte, resümiert die Zeit den Stand der Ermittlungen. Ebendort beklagt Aminata Touré, Vizepräsidentin des schleswig-holsteinischen Landtags, den Rassismus in Deutschland. Und die taz fragt, ob der lange Arm der japanischen Regierung, wirklich bis nach Berlin-Moabit reicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.10.2020 finden Sie hier

Europa

Ganz gleich ob Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise oder Coronakrise - für die Mitgliedsstaaten der EU scheint es nur eine Antwort zu geben: den jeweiligen Nationalstaat zu stärken, klagt der Schriftsteller Robert Menasse in der Berliner Zeitung in einer Rede, die er am 8. Oktober zum Auftakt der Konferenz "Europäische Allianz der Akademien" in Berlin gehalten hat: "Der neue Nationalismus bringt die Autonomie von Akademien, Museen und Kulturinstitutionen in Gefahr und vergiftet einen aufgeklärten gesellschaftlichen Diskurs. Die Freiheit der Künste und die Unabhängigkeit kultureller Institutionen müssen als nicht verhandelbarer Wert auch dort solidarisch verteidigt werden, wo dies die so genannte Souveränität eines europäischen Mitgliedstaats berührt. Die Verteidigung der Menschenrechte, die Visionen eines nachnationalen Europa, Kunst, Kultur und Forschung können nicht bloße nationale Anliegen bleiben und dürfen nicht für nationale Identitätspolitik missbraucht werden. Was wir Europa zu geben haben, muss lauter werden."

Mit der Coronakrise ist der Nationalstaat in seiner ganzen Macht zurückgekehrt, konstatiert auch die israelische Rechtswissenschaftlerin Renana Keydar in der NZZ - und schildert mit Blick auf Israel die Gefahren der Abschottung: "Die Verfugung von Heimat und Nation aber bringt unvermeidlich Gefahren mit sich, weil sie einschneidende Unterschiede zwischen 'uns' und 'ihnen' heraufbeschwört, zwischen der Familie und den Gästen. Und wie wirkt sich die Metapher Heimat für diejenigen aus, die einen als national beschriebenen Raum bewohnen? Der blinde Fleck und das Risiko, die sich aus ihrem Gebrauch ergeben, führen nicht nur zur archaischen Trennung zwischen 'uns' und 'ihnen', sondern bringen - mit größerer Intensität vielleicht - auch Kräfte innerhalb des nationalen Raums in Bewegung."

Die maltesische Journalistin Daphne Caruana Galizia wurde umgebracht, weil sie Korruption, die mit einem Gaskraftwerk, aber auch mit dem Verkauf von Pässen zu tun hatte, aufgedeckt hatte - und zwar auf höchster Staatsebene, schreiben die Zeit-Reporter Holger Stark und Fritz Zimmermann in einem großen Resümee der Ermittlungen: "Joseph Muscat, der in die Affäre verwickelte Premierminister, musste angesichts der immer neuen Enthüllungen zurücktreten, sein früherer Stabschef Keith Schembri wurde Ende September vorübergehend festgenommen. Yorgen Fenech, der reichste Mann Maltas und Teilhaber des Kraftwerks, sitzt seit fast einem Jahr hinter Gittern, nachdem ein Fluchtversuch im vergangenen November in letzter Minute scheiterte. In Malta sind Politik und organisiertes Verbrechen untrennbar miteinander verschmolzen. Ein Mafiastaat, mitten in Europa." Auf Seite 3 der SZ schickt Hannes Munziger eine große Reportage aus Malta.

Am heutigen Donnerstag tagen die EU-Regierungschefs über die künftige wirtschaftliche Zusammenarbeit nach dem Brexit - die britische Regierung ist entschlossen, einen EU-Ausstieg auch ohne Deal voranzutreiben. "Töricht" und "ruchlos" nennt Schottlands erste Ministerin Nicola Sturgeon (SNP) das in der Welt und fordert die EU in einem letzten dringenden Appell auf, Schottlands Wunsch nach Unabhängigkeit zu unterstützen: "Unabhängigkeit steht (…), entgegen einiger Annahmen, durchaus im Einklang mit globalen Entwicklungen. Im Jahr 1945 umfassten die Vereinten Nationen nur etwa 50 unabhängige Nationen. Inzwischen ist diese Zahl auf fast 200 gewachsen. ... Die Globalisierung ist also eindeutig mit dem wachsenden Wunsch von Nationen einhergegangen, die Verantwortung für ihre eigenen Angelegenheiten zu übernehmen und als Mitglieder der Weltgemeinschaft ihren vollen Beitrag zu leisten."

Im Tagesspiegel mahnt Christoph von Marschall indes dazu, den Briten entgegenzukommen: "Welche Inhalte würde die EU anstreben, wenn sie Großbritannien als Partner behandelte, der nie in der EU war und mit dem sie ein Abkommen über Freihandel und enge Kooperation schließen möchte, wie sie das, zum Beispiel, mit Kanada, Tunesien oder der Ukraine getan hat? Sie würde nicht EU-Standards als unverhandelbar hinstellen, sondern die jeweiligen Interessen in eine Balance bringen und auf nationale Eigenheiten Rücksicht nehmen."
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Politik

Seit Jahren hält das chinesische Regime Millionen von Menschen in Konzentrationslagern gefangen, lediglich weil sie als Uiguren geboren wurden, schreiben vierzig Abgeordnete des Europäischen Parlaments in einem von der FR veröffentlichten Appell. Sie fordern unter anderem, dass die jeweiligen Regierungen gezielte Sanktionen gegen die Verantwortlichen verhängen: "Es ist undenkbar, dass unsere Länder Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verfolgen. Nur so können wir den Führern in Peking zu verstehen geben, dass wir ihre Verbrechen ernsthaft verurteilen. Wir fordern, dass die 83 multinationalen Unternehmen - von Nike bis Zara, von Uniqlo bis Apple -, die nachweislich von uigurischer Zwangsarbeit profitiert haben, jegliche Zusammenarbeit mit ihren chinesischen Lieferanten, welche die Zwangsarbeit der Deportierten ausnutzen, sofort einstellen. Wir rufen ebenfalls unsere gewählten Vertreter dazu auf, dringlich Gesetze zu erlassen, die eine solche Mittäterschaft illegal machen und unterbinden."
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Ideen

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall haben wir es in Ost- und Westdeutschland immer noch mit zwei Kommunikationssystemen beziehungsweise -kulturen zu tun, konstatiert der Politologe Ralf Rytlewski im Tagesspiegel und nennt Beispiele: "Ostdeutsche übersetzten das aus den Westmedien bekannte Wort Arbeitsloser zunächst missverstehend mit Arbeitsverweigerer und/oder Arbeitsunfähiger, denn es fehlte ihnen die im Westen übliche Konnotation Arbeitsmarkt mit den Akteuren Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Auch bei Themen der Legitimität der deutschen Ostgrenzen gingen die Assoziationen wegen unterschiedlicher konnotativer Einordnung auseinander."
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Überwachung

Die Coronakrise hat zu einem "dramatischen Verfall" der Freiheit im Internet geführt, entnimmt Philipp Bovermann (SZ) dem "Freedom on the Net Report" der nichtstaatlichen US-Organisation Freedom House. Behörden in mindestens 28 von 65 untersuchten Ländern hätten "Websites gesperrt oder einzelne Nutzer, Plattformen oder Online-Publikationen gezwungen, Informationen über die Ausbreitung des Virus zu löschen." In mindestens 30 Ländern fänden zudem "Überwachungsmaßnahmen in direkter Partnerschaft mit Telekommunikationsanbietern statt, die den Regierungen Kontaktdaten der Bürger aushändigten. (…) Südkoreanische Beamte griffen auf Kreditkartenabrechnungen, Handystandorte und Sicherheitskameras zu, um die Ausbreitung des Virus zu überwachen. Der Bericht warnt auch vor der zunehmenden Verbreitung intelligenter Kameras, die Gesichter erkennen können. Etwa in Moskau, wo 100 000 solcher Geräte installiert worden seien, um die Einhaltung von Quarantäne-Verordnungen zu überwachen. In China seien Menschen zu diesem Zweck in einigen Fällen sogar aufgefordert worden, Webcams in ihren Wohnungen und vor ihren Haustüren zu installieren."
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Geschichte

So leicht wird es nicht werden, die Moabiter Gedenkskulptur für die koreanischen Trostfrauen, die auch ein Mahnmal gegen sexualisierte Kriegsgewalt überhaupt ist (unser Resümee), wieder abzubauen, obwohl das japanische Außenministerium Druck macht. Japanische Politiker wollen diese Geschichte unter den Tisch kehren und haben es nie geschafft, ein angemessenes Mahnmal zu errichten, schreibt Sven Hansen in der taz. "Jetzt können sie dem Korea Verband e. V. dankbar sein. In dem deutsch-koreanischen Verein sind viele ältere inzwischen eingebürgerte Frauen koreanischen Ursprungs aktiv. Sie blicken beim Gedenken an die mutigen 'Trostfrauen' nicht nur zurück und etwa einseitig auf Japan, sondern haben sich mit deutschen, japanischen und internationalen Frauen-, Menschenrechts- und Migrantenorganisationen vernetzt. Genau das macht jetzt ihren Erfolg aus."
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Gesellschaft

Aminata Touré ist 27, Kind von Flüchtlingen aus Mali, Mitglied der Grünen und seit zwei Jahren Vizepräsidentin des schleswig-holsteinischen Landtags. Mit Maximilian Probst und Martin Spiewak redet sie in der Zeit über den Rassismus in Deutschland, der ihr so viele Steine in den Weg legte: "Ich sage, es gibt keinen Ort in Deutschland, der frei von Rassismus ist, weder staatliche Institutionen noch das Arbeitsumfeld, noch die Schule. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben keine Ahnung, wie sie mit rassistischen Vorfällen umgehen sollen. Da steht das N-Wort in einem Buch, und die gesamte Klasse schaut zu dir. Und wenn ein paar schwarze Kids Scheiße bauen, werden sie härter bestraft als der Rest."

Streit ist um eine antizionistische Veranstaltungsreihe an der Kunsthochschule Weißensee entstanden, die nach Protesten wegen des BDS-Vorwurfs von der Hochschule gestoppt wurde. Dabei habe es sich um eine Veranstaltungsreihe israelischer und jüdischer Studenten gehandelt, schreibt Stefan Reinecke in der taz, zu der auch die üblichen, von der taz oft gefeatureten jüdisch-antizionistischen Aktivisten geladen waren: "Yehudit Yinhar, Kunststudentin und Aktivistin, hat das Projekt 'School for Unlearning Zionism' und die Veranstaltungsreihe mitorganisiert, die in Hebräisch und Englisch stattfinden. 'Unlearning zionism' bedeute, so Yinhar, 'Macht und Privilegien der eigenen Gruppe sichtbar und sich das eigene hegemoniale Narrativ bewusst zu machen'. In der Onlinereihe treten unter anderem kritische jüdische Israelis auf, wie der israelische Historiker Ilan Pappe, Iris Hefets und Shir Hever, beide im Vorstand der Berliner 'Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden'."
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Medien

Es musste gar nicht erst das Internet kommen. Vorher gab es schon Fox News und davor eine ganze Reihe reaktionärere amerikanischer Medien, die den Konsens von wahr und falsch längst auflösten, schreibt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in der Zeit: "Mit der fortwährenden Rede von einem 'liberal bias' popularisierten die konservativen Kritiker von damals ein wirkmächtiges Narrativ, das es ihnen erlaubte, sich zu Opfern und zu Repräsentanten einer schweigenden Mehrheit zu stilisieren. So konnten sie, egal wie mächtig sie wurden, eine Außenseiterposition behaupten und gegen das 'Establishment' trommeln - und alles, was ihrer Weltsicht widersprach, als verzerrende Darstellung linksliberaler Meinungsmacher abtun. Schon die Herkunft einer Nachricht genügte als vermeintlicher Beleg dafür, dass es sich um eine Desinformation handeln müsse."
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