9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Störgefühl

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.01.2023. Offen rassistische Propaganda im Goebbels-Stil. 'Russkij mir' als Großdeutschland. Die Krim als Sudetenland: Michail Schischkin zieht in FAZ und Welt düstere Parallelen. Die Zeitungen betrachten mit Sorge die ungefestigte brasilianische Demokratie. Die SPK hat 99 Probleme, der Name ist nur eines davon, meint Klaus-Dieter Lehmann  in der FAZ. Güner Balci erklärt in der Emma, welche Sozialarbeit in Neukölln gefördert wird und welche nicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.01.2023 finden Sie hier

Europa

Thomas Manns Radioansprachen an seine Landsleute aus dem Exil in Amerika lesen sich heute exakt so, als habe er sie für die Russen heute geschrieben, erkennt Michail Schischkin in der FAZ. "Hitler schaffte es, das deutsche Volk seelisch zu verseuchen, und Putin hat es mit meinem Volk getan. An die Macht brachten ihn die Explosionen der Wohnhäuser in Moskau 1999, die zum Vorwand für einen genozidalen Tschetschenienkrieg wurden, den, abgesehen von ein paar Dissidenten, fast alle Russen unterstützten. 1940 nannte Thomas Mann die deutschen Siege 'Schritte in einem endlosen Sumpf'. Russland hat diese Schritte in den Abgrund fast buchstäblich wiederholt. Offene rassistische Propaganda im Goebbels-Stil. 'Russkij mir' als Großdeutschland. Die Krim als Sudetenland. Ukrainerhass als Judenhass. Putin als Führer: 'Gibt es Putin - gibt es Russland!'" Ob es für Russland eine Zukunft gibt, wie es für Deutschland nach 1945 eine gab? Das hängt für Schischkin maßgeblich davon ob, ob die Russen es schaffen, die imperialistischen Strömungen in ihrer klassische Kultur aufzuarbeiten, und wer die demokratische Zukunft Russlands gestalten wird: "Der nächste Putin? Wer wird 'Nürnberger Prozesse' gegen die Kriegsverbrecher durchführen? Die Kriegsverbrecher selbst? Glaube ich an eine demokratische Zukunft Russlands?"

"Alle Russen sind Komplizen", sagt ein sehr düster gestimmter Michail Schischkin außerdem im Gespräch mit Zita Affentranger in der Welt. "Die Russen werden sich sagen: Ich bin doch nicht schuld an diesem Krieg, der Kreml hat das gemacht, und wir sind nur die Opfer. Doch das stimmt nicht... Im Februar dachte ich noch: Okay, das Regime, das sind die Kriegsverbrecher und sie haben die Bevölkerung als Geiseln genommen. Tatsächlich sind die meisten selbst Opfer des Regimes. Jetzt aber muss ich erkennen, dass diese Millionen tatsächlich diesen Krieg unterstützen und sich freuen, wenn das ukrainische Volk bombardiert wird, dass sie den Winter ohne Strom, Gas und Heizung überstehen müssen. Und so sind auch sie Kriegsverbrecher."

Die Russen haben Goldschätze der Skythen aus dem Museum der ukrainischen Stadt Melitopol geraubt. Konstantin Akinsha erklärt in einem sehr instruktiven Hintergrundartikel für die NZZ die symbolische Bewandtnis, die es mit diesen Schätzen hat, die sich die russische Ideologie des "Eurasianismus" unbedingt als Nationalerbe unter den Nagel reißen will: "In den 1920er Jahren schlossen sich russische Intellektuelle, darunter viele Emigranten, zur Bewegung des Eurasianismus zusammen. Sie glaubten, dass Russland keinen Teil Europas darstelle und dass die russische Revolution eine Reaktion auf die allzu forcierte Modernisierung der Gesellschaft gewesen sei. Die Eurasianisten träumten davon, dass die bolschewistischen Machthaber irgendwann einmal dem Internationalismus und dem Atheismus entsagen würden, um in der Sowjetunion einen orthodoxen nichteuropäischen Staat zu errichten - als dritte Kraft zwischen West und Ost. Putins Ideologen haben all diesen vergessenen historischen Schnickschnack entstaubt und neu unter die Leute gebracht. Eines der sichtbaren Zeichen dieses großangelegten historischen Recyclings ist der Wunsch, 'skythisch zu sein'."

Oppositionellen in Belarus kann aufgrund eines neuen Gesetzes die Staatsbürgerschaft entzogen werden, berichtet Barbara Oertel in der taz. Vorausgesetzt, sie sind schon mal wegen "Volksverhetzung, Terrorakte, Teilnahme an Aufruhr, Propaganda, Demonstrationen sowie der Herstellung oder Verbreitung von NS-Symbolen" verurteilt worden. Viele Lukaschenko-Kritiker bereits das Land verlassen, darunter Andrei Strischak, so Oertel: "Dass die Minsker Führung jetzt auch noch zum Mittel des Entzugs der Staatsbürgerschaft greife, spreche für sich. In Belarus habe es seit 1996 wahrscheinlich keinen solchen massiven Widerstand gegen das Regime gegeben. 'Und alle wissen nur zu gut, dass dies ein Zustand des unterdrückten Protests ist. Die Menschen haben sich in ihre 'kleine Mongolei' zurückgezogen. Dort sitzen sie und warten auf den richtigen Moment. Lukaschenko versteht das genau, daher übt er weiterhin Druck auf Menschen in der Emigration und die internen Kräfte aus', sagte Strischak der Nastojaschee Wremja. Wie viele Belaruss*innen seit den Protesten von 2020 ihr Land verlassen haben, weiß niemand. Schätzungen gehen von Hunderttausenden aus."
Archiv: Europa

Kulturmarkt

Hans-Georg Maaßens Corona-Äußerungen sind bedenklich, gewiss, aber sein Grundgesetzkommentar stammt aus dem Jahr 2009 und ist politisch unbedenklich, antwortet Andreas Rosenfelder heute in der Welt auf die Forderung des SZ-Kollegen Ronen Steinke, Maaßen die Plattform eines Grundgesetzkommentars im Verlag C.H. Beck zu entziehen (unser Resümee). Steinke beziehe sich auf den Maaßen-Kollegen Stefan Huster, der ein "Störgefühl" bekannte, neben Maaßen in dem Kommentar zu stehen. Aber Huster ist nicht irgendwer, so Rosenfelder: "Nicht nur, weil der Professor aus Bochum selbst dafür berüchtigt ist, Kritik auf Twitter mit Pöbeleien zu kontern - und etwa Journalisten, die über seine umstrittene Rolle als Vorsitzen der des Corona-Sachverständigenrats berichteten, als 'Heckenschützen' und 'die wahren Totengräber einer freiheitlichen Demokratie' zu beschimpfen, zu schweigen vom Fake-NewsVorwurf, den Huster inflationär gegen für ihn unvorteilhafte Medienberichte erhebt."

In der FAZ ist Patrick Bahners mit der Argumentation des Beck Verlags, der an seinem Autor Maaßen festhalten will, ganz und gar nicht einverstanden: "Sie sehen ihn als einen durch Doktorarbeit und Beamtentätigkeit ausgewiesenen Fachmann, dessen Kommentierung kunstgerecht gearbeitet sei und nichts Verfassungswidriges enthalte. Maaßens politische Kommentatorentätigkeit in Medien des rechten Randes bewerten sie als Privatsache. Es entfällt jede Erwägung darüber, wie sich der Stil von Maaßens öffentlichen Interventionen mit der Sachlichkeit verträgt, die man vom Juristen, vom Beamten und ganz besonders vom Verfasser juristischer Kommentarliteratur verlangt." Für Bahners ist Maaßen "der Advokat des teuflischen Zweifels an der Verfassungsmäßigkeit der deutschen Staatsgewalt".
Archiv: Kulturmarkt

Kulturpolitik

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat viele Probleme, ihr Name ist darunter das kleinste, meint in der FAZ Klaus-Dieter Lehmann, ehemaliger Präsident der Stiftung, und fordert von Claudia Roth mehr als eine Minireform: "Nötig ist jetzt eine Öffnung hin zu gesamtstaatlicher Verantwortung, bei der das Zusammenwirken von Bund und Ländern zum Vorteil aller gelingen soll. Die Länder sollen die Stiftung nicht alimentieren, sondern selbst einen Nutzen haben. ... Bei den Museen könnte eine stärkere internationale Sichtbarkeit durch eine Agentur zur internationalen Museumskooperation ein Gewinn für die Museen in Deutschland sein, ebenso ein föderales Programm zur Unterstützung der Ausstellungstätigkeit durch fertig kuratierte Ausstellungen in den Ländern und ein Schaufenster der Länder in der Hauptstadt. Es geht um ein koordiniertes Vorgehen zur kolonialen Vergangenheit Deutschlands und zur Dekolonisierung. Es geht um Austauschprogramme und um Fragen des Kulturschutzes. ... Es bedarf hierzu aber einer verlässlichen Struktur, die von den Beteiligten gleichermaßen als geeignete Grundlage angesehen wird."

Kehren 56 Teile des Parthenon-Frieses doch noch zurück nach Athen? Die Briten bewegen sich langsam ein ganz kleines bisschen, erzählt Jürgen Gottschlich in der taz. Von Rückgabe ist aber noch keine Rede, sondern nur von Rückverleihen: "Das aber, berichten wiederum griechische Zeitungen, könne von Athen nicht akzeptiert werden. London muss den Raub anerkennen, ist die Parole der griechischen Regierung. Denn der vom Museum behauptete Besitzanspruch für die sogenannten 'Elgin Marbles' ist äußerst umstritten und wird nicht nur von Athen, sondern auch von vielen Fachleuten abgelehnt. Schaut man sich die Umstände dieses 'Erwerbs' durch Lord Elgin genauer an, muss man feststellen: Der Raub der Friesplatten vom Parthenon auf der Athener Akropolis ist sozusagen die Mutter aller Kunstraube, die die europäischen Großmächte im 19. Jahrhundert im Orient begangen haben."
Archiv: Kulturpolitik

Politik

Tausende Bolsonaro-Anhänger stürmten Regierungspaläste in Brasilia, von der Polizei zunächst nur halbherzig aufgehalten. Der Sturm fand fast auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Sturm auf den Kongress in Washington statt. Bolsonaro ist für diese Entfesselung verantwortlich, er hat die brasilianische Demokratie untergraben, meint Benedikt Peters in der SZ: "Er verzichtete sogar darauf, seinem Nachfolger Lula die Präsidentenschärpe zu übergeben. Das macht ihn nicht nur zu einem schlechten Verlierer. Im Versuch, sich von den Randalierern zu distanzieren, gleicht er einem Mann, der ein paar Kindern eine Flasche Benzin und ein Feuerzeug gibt - und dann mit dem Brand nichts zu tun haben will."

Ähnlich sieht es auch Niklas Franzen in der taz: Bolsonaro habe nie anerkannt, dass er die Wahl verloren hat: "Während seiner Amtszeit attackierte er immer wieder die demokratischen Institutionen, beschimpfte Journalist*innen und verherrlichte die Verbrechen der Militärdiktatur. Seine Wahlniederlage hat er bisher nicht ausdrücklich eingeräumt, er sprach von 'Gefühlen der Ungerechtigkeit' über den Ausgang der Wahl. Und er rief zum Widerstand gegen die neue Regierung auf. Bolsonaro befindet sich derzeit in den USA und nahm - entgegen den Gepflogenheiten - nicht an der Amtsübernahme Lulas teil. Vor seinem Abflug gab er sich jedoch zurückhaltender, kritisierte zaghaft die Proteste seiner Fans und erklärte: 'Niemand will ein Abenteuer.' Doch seine Fans ignorierten ihn. Der Bolsonarismus scheint größer als Bolsonaro zu sein." Die brasilianische Demokratie wird nur weiter funktionieren, wenn sich das Militär zu Lula bekennt, schreibt Werner J. Marti in der NZZ. Es sei "ein offenes Geheimnis, dass Teile der Armee und der Polizei mit den radikalen Bolsonaristen sympathisieren oder diese sogar direkt unterstützen."

Die sozialen Medien haben bei der Randale in Brasilien eine wichtige Rolle gespielt, erklärt Tomas Rudl in netzpolitik: "Wochenlang wurden die Netzwerke mit aufstachelnden Botschaften geflutet, berichten brasilianische Forscher:innen der Washington Post zufolge. Auf dem Messenger-Dienst Telegram wurde zu Mord aufgerufen und Demo-Transporte organisiert, auf dem Video-Dienst TikTok über Wahlfälschung spekuliert, während die Suchfunktionen von Facebook und Instagram Nutzer:innen zu Gruppen lotsten, die das Wahlergebnis infrage stellten."

Nils Markwardt meditiert auf Zeit online über den "Volksfestfaschismus", der die Stürmungen des Reichstags in Berlin, des Kongresses in Washington und jetzt der brasilianischen Regierungsgebäude eint: "In der johlenden Meute, die endlich alles rauslassen kann, entsteht so stundenweise das Gefühl einer souveränen Gemeinschaft, die den Ausnahmezustand verhängt."
Archiv: Politik

Gesellschaft

Schwere Vorwürfe macht Güner Balci, die Integrationsbeauftragte des Berliner Bezirks Neukölln, der Berliner Stadtpolitik. Im Gespräch mit Chantal Louis von Emma erzählt sie, dass sozialpädagogischen Initiativen systematisch Förderung vorenthalten wird, wenn sie den kulturellen Hintergrund der Kinder und Jugendlichen mit einbeziehen wollen. In den Entscheidungs-Etagen säßen "zu oft Leute, die der Meinung sind, es sei 'rassistisch', wenn man sich kritisch anschaut, welchen Einfluss Kultur und Herkunft auf die Sozialisation und das Rollenverständnis haben. Und das geht zu Lasten aller Kinder und Jugendlichen in Neukölln. Ich weiß es sicher, weil die Träger und Projekte, die davon betroffen sind, mir immer wieder mitteilen, man würde ihnen von Seiten der Senatsverwaltungen Wörter wie 'Ehrkultur' aus den Projektbeschreibungen streichen und sie teilweise zwingen stattdessen 'antimuslimischer' Rassismus in ihre Förderanträge zu schreiben. Die Träger knicken ein, um weiter finanziert zu werden."

Von den 68ern bis zur "Gen Z". Der Begriff der "Generation" gibt für Nils Minkmar politisch keinen Sinn, wie er in einem kleinen Essay für die SZ darlegt. "Moderne Gesellschaften sind komplex: Es gibt in allen sozialen Kategorien Tendenzen und Differenzen, aber diese schlichten konzeptionellen Legosteine - alle Männer, alle Frauen, alle Alte, alle Junge - dienen eher der Unterhaltung oder einer unterkomplexen, verschlagworteten Medienberichterstattung als echter Aufklärung."
Archiv: Gesellschaft

Internet

Vorgestern wäre Joseph Weizenbaum 100 Jahre alt geworden, einer der Mitbegründer und schärfsten Kritiker der KI, erinnert uns Wolfgang Coy in netzpolitik. "In seinem Hauptwerk beschreibt er, wie schockiert er darüber war, dass eine kurze Interaktion mit einem geschickt geschriebenen Computerprogramm ausreichte, um ein powerful delusional thinking hervorzurufen. Zehn Jahre nachdem er ein lächerliches, kurzes Programm geschrieben hatte, das die Karikatur einer Unterhaltung zeigen sollte, schreibt er in Computer Power and Human Reason: "Diese Reaktionen auf ELIZA haben mir deutlicher als alles andere bis dahin Erlebte gezeigt, welch enorm übertriebenen Eigenschaften selbst ein gebildetes Publikum einer Technologie zuschreiben kann oder sogar will, von der es nichts versteht."
Archiv: Internet