Efeu - Die Kulturrundschau

Die Aura des feierlich rufenden Horns

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07.06.2018. Im Standard setzt Alexander Kluge auf die Kraft der Poesie zur Rettung des in Not geratenen Illusionstiers. Die taz begibt sich mit Anna-Sophie Mahlers CapriConnection in München auf die Suche nach den Ursprügen allen Übels. Die FR fragt, warum die Architektur nicht mehr in Stadträumen denkt. ZeitOnline diskutiert weiter über die Houellebecq-Verfilmung "Unterwerfung". Und in der FAZ stellt Helmut Lachenmann klar: Ein Komponiste ist kein Sender, sondern ein Empfänger.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.06.2018 finden Sie hier

Kunst

Ein Film von Alexander Kluge im Belvedere, Wien

Das 21er-Haus im Wiener Belvedere zeigt Alexander Kluges Ausstellung "Pluriversum". Im Standard-Interview mit Dominik Kamalzadeh spricht Kluge über den Algorithmus als mathematische Katze, den Antirealismus in der heutigen Politik und die poetische Kraft der Theorie: "Liberalität ist ein luxuriöses, auf Generosität angewiesenes System. Sie müssen schon in einer relativ geglückten Gesellschaft leben, damit sich dort Liberalität verbreitet. In der Not gehen die Leute antirealistisch vor, sie verschieben die Not, beschuldigen Dritte. Die Menschenseele, das wird von Freud beschrieben, ist die eines Illusionstieres. Es ist raubgierig und illusionsfähig. Deswegen können Sie nicht darauf vertrauen, dass Menschen, die in Not sind und Angst haben, irgendetwas politisch richtig machen. Das ist eine Gefahr für jede Demokratie. Also muss man jetzt gleich anfangen, an das Jahr 2042 zu denken. Alles, wovor man sich fürchtet, kann man jetzt noch bekämpfen."

Außerdem erinnert sich Günter Brus' Ehefrau Anna Brus im Standard an die Aktion "Kunst und Revolution" vor fünfzig Jahren, bei der auf die österreichische Flagge defäkiert, masturbiert und erbrochen wurde, während die Bundeshymne spielte: "Ich hab sofort gemerkt, dass da der Hut brennt." Im Guardian preist Adrian Searle die Schau der Turner-Preisträgerin Tomma Abts in der Londoner Serpentine Gallery.

Besprochen werden Lynn Hershman Leesons Re-Installation "Hotel Novalis" in Berlin (Tagesspiegel), die Winckelmann-Ausstellung "Tod in Triest" in der Münchner Antikensammlung (SZ) und die Fotografie-Ausstellung "Licht und Leinwand" im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg (FAZ).
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Film

Edgar Selge in "Unterwerfung"

In  Houellebecqs Roman "Unterwerfung" ging es insbesondere auch um die sexuelle Erschlaffung eines alternden Mannes, Titus Selges Fernsehadaption hingegen feiert sich als "politische Prophetie", kritisiert Matthias Dell auf ZeitOnline den gestern im Ersten gezeigten Film, den eine Maischberger-Diskussion im Anschluss rahmte, in der es zum Ärger Dells nicht um "drohende Erektionsprobleme" gegangen ist, sondern um Reichweite und Grenzen der Toleranz: "Ganz unschuldig ist Houellebecq an dieser Lesart freilich nicht, kokettiert sein Roman doch mit rechten Topoi ... 'Unterwerfung' ist durchaus ein Roman, der rechten Herbeiwünschern einer Chaotisierung der demokratischen Verhältnisse gut reinläuft - was von der auf Prominenz abonnierten Literatur-, Theater- und Fernsehkritik aber zumeist als 'Provokation' und 'Satire' entschuldigt wird, ohne dass erklärt wird, worin 'Provokation' und 'Satire' nun bestünden." Mehr zu dem Film auch hier im gestrigen Efeu.

Weitere Artikel: Mit "El Mar la Mar" betreiben Joshua Bonnetta und J. P. Sniadecki visuelle Forschung in der Wüste zwischen den USA und Mexiko: Der experimentelle Ansatz des auf analogem Material gedrehten Films hat tazler Dennis Vetter gut gefallen. Fritz Göttler porträtiert in der SZ den polnischen Auteur Jerzy Skolimowski, dem das Münchner Filmmuseum eine Retrospektive widmet. Rechte Star-Wars-Fans mobben die nicht-weißen Darsteller der jüngeren Filme des Franchise, berichtet Dinah Riese in der taz (mehr dazu auch bei Wired). In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus James Ivory zum Neunzigsten.

Besprochen werden Shirin Neshats "Auf der Suche nach Oum Kulthum" (taz), Lothar Lamberts neuer, in Berlin gezeigter "Verdammt noch mal Berlin: Fucking City Revisited" (taz), Klaus Lemkes auf DVD veröffentlichter "Paul" von 1974 (critic.de), Simon Curtis' Biopic "Goodbye, Christopher Robin" über die Entstehung von Pu der Bär (Tagesspiegel), Oliver Parkers Komödie "Swimming with Men" (taz), Paul Newmans auf DVD wiederentdeckter Film "Die Wirkung von Gammastrahlen auf Ringelblumen" aus dem Jahr 1972 (taz) und ein neuer "Jurassic World"-Film (taz, SZ, Tagesspiegel).
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Bühne

Das Böse. Eine Götterdämmerung. Foto: Donata Ettlin/Münchner Kammerspiele

Sensationell findet Annette Walter in der taz, was die Schweizer Regisseurin Anna-Sophie Mahler mit ihrer Theatergruppe CapriConnection macht: An den Münchner Kammerspielen begeben sie sich in der Inszenierung "Das Böse. Eine Götterdämmerung" auf Erkundung ins Ungewisse. Die Theaterbühne liegt nach einer vermeintlichen Brandkatastrophe in Schutt und Asche: "Die drei Protagonisten in Schutzanzügen und mit Atemmasken inspizieren das Szenario. Sie haben keine Namen, man weiß nicht, wo sie herkommen oder in wessen Auftrag sie handeln. Mit Scheinwerfern durchleuchten sie das zerstörte Gelände und wühlen im Schutt. In diesem Untergangsszenario philosophiert einer der Männer über Richard Wagners Ring-Zyklus, ein Grundthema des Stücks: 'Das Böse im Ring ist der Ring, das ist eigentlich die Überführung des Naturzustandes in ein Surrogat, mit dem man versucht, sich der Welt zu bemächtigen.' Der Verrat an der Liebe sei die Wurzel allen Übels, heißt es in der Konzeption des Komponisten. Doch was ist dieses Übel, dieses Böse, wo kommt es her?"

Besprochen werden Daniel Fishs Bühnenfassung von Don DeLillos Roman "Weißes Rauschen" bei den Ruhrfestspielen (Nachtkritik), Johannes Schütz' Inszenierung von Dantes "Göttliche Komödie", die als Parcours durch das von Bauarbeiten ausgehöhlte Düsseldorfer Schauspielhaus (SZ) und das Stück "Opdakh" vom Theater ohne festen Wohnsitz im Jüdischen Waisenhaus (taz).
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Architektur

Könnte es sein, fragt der Wachstumskritiker Günther Moewes in der FR in der Debatte um die Frankfurter Altstadt, dass die Grenze bei der Abwehr von moderner Architektur nicht zwischen Völkischen und Nichtvölkischem oder Gestrigen und Heutigem verläuft, sondern Fachwelt und Bevölkerungsmehrheit? "Dieser Verdacht ist nicht neu. Er wurde bereits 1968 artikuliert. Und zwar von links. Unter anderem in Berlin vom Werkbundtag und in Frankfurt von der Mitscherlich-Schule. Man warf einer unkritischen Moderne allzu selbstgerechte Missachtung legitimer Bevölkerungssehnsüchte vor sowie allzu große Ökonomie-Hörigkeit. In der damaligen und späteren Kritik wurden vor allem drei Defizite beschrieben: 1. Totalverlust des Stadtraums. 2. Verlust der regionalen Vielfalt. 3. Besitzbedingte, funktionswidrige Entmischung."
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Literatur

Juri Sternburg verabschiedet sich in der taz vom Weltrestaurant in der Kreuzberger Markthalle, wo Sven Regeners "Herr Lehmann" seinen Schweinebraten zu verzehren pflegte und das jetzt schließen muss, weil ihm der Mietvertrag nicht verlängert wird. Gisela Kaufmann schließt zudem ihren "Librairie Buchladen" in Paris, berichtet Schriftsteller Michael Kleeberg in der FAZ. In der FR wirft Petra Kohse einen Blick darauf, wie jüngere Romane und Filme Androiden darstellen.

Besprochen werden James Pattersons und Bill Clintons Thriller "The President is missing" (SZ, Zeit), Esther Kinskys "Hain" (NZZ), Hans Platzgumers "Drei Sekunden jetzt" (Tagesspiegel) und Robert Seethalers "Das Feld" (FAZ).
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Musik

Sehr unter sich sind Jan Brachmann und Komponist Helmut Lachenmann im FAZ-Gespräch, zu dem die Uraufführung von Lachenmanns für acht Hörner geschriebenes Stück "My Melodies" auf der musica viva den Anlass bot. Mit den Hörnern wollte Lachenmann "einen klingenden Prozess in Gang setzen, von wo aus das Hören einmal mehr neu angeregt, gar provoziert wird. Und acht Hörner als Geräte zur Produktion von Schwebungen, von ratternden 'Flatterzungen' und Luftgeräuschen setzen letztlich die gewohnte Aura des feierlich rufenden Horns samt transzendentoider Fata Morgana im Konzertsaal aufs Spiel. Das gehört zu meinem Reich und Bereich meiner klanglichen Abenteuer. Ich habe als Komponist nichts zu 'sagen', sondern etwas zu schaffen, was dann - und natürlich auch mir - mehr 'sagen' wird, als ich überhaupt nur ahnen konnte. Beim Komponieren bin ich doch nicht der Sender, sondern ein Empfänger. Ich werde jetzt 83 und sehe mich doch noch und immer wieder in eine Ecke gestellt: als Genuss verweigernder, pietistisch verformter Pfarrerssohn. Es ist alles dummes Zeug."

Michelle Demishevich würdigt in der taz die türkische Trans*Sängerin Bülent Ersoy, die am Samstag 66 Jahre alt wird: "Die Sängerin ist nicht nur die erste trans*Frau, die es in die türkische Öffentlichkeit geschafft hat. Sie ist bis heute eine der erfolgreichsten und beliebtesten Performer*innen des Landes. Mit ihrer unvergleichlichen Stimmgewalt, ihren glamourösen Kostümen, ihren stets wesentlich jüngeren Ehemännern, ihren öffentlichen Streitereien und ihren kontroversen Aussagen gehört Bülent Ersoy seit den achtziger Jahren zu den meistdiskutierten Celebrities in den türkischen Medien." Hier ein Hörprobe:



Weiteres: Für ZeitOnline plaudert Markus Schneider mit Lykke Li. Nadine Lange porträtiert im Tagesspiegel die Berliner Popmusikerin Albertine Sarges. Für die SZ plaudert Martin Pfnür mit dem früheren Can-Sänger Damo Suzuki über alte Zeiten. Clemens Haustein besucht für die FAZ die von Valery Gergiev geleitete Russisch-Deutsche Musikakademie. Für Electronic Beats hat George Nebieridze den Berliner Techno-Underground fotografisch festgehalten. Karl Fluch (Standard) und Christoph Schröder (Tagesspiegel) schreiben zum Tod von Jalaluddin Mansur Nuriddin, der mit den Last Poets in den frühen 70ern die Grundlagen für Rap geschaffen hat. Hier ein Stück von 1970:



Besprochen werden das neue Ghost-Album "Prequelle" (Skug) und Kanyes West neus Album "Ye" (NZZ).
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