Efeu - Die Kulturrundschau

Für Kassel, mit Kassel, in Kassel

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23.02.2019. Die Documenta stellt ihren neuen Kurator für 2022 vor: das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa. Die NZZ fragt sich, warum der Superheldenfilm "Black Panther" als antirassistische Intervention gefeiert wird, wenn er doch die Neurechten so gut bedient. Auf Zeit online stellt der österreichische Regisseur David Schalko sein Serien-Remake von Fritz Langs "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" vor. Für die FAZ ist die Serie ein Traumkind. Die Musikkritiker diskutieren spät, jetzt aber doch noch den in die Kritik geratenen Führungsstil Daniel Barenboims.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.02.2019 finden Sie hier

Kunst

Die Documenta hat den neuen Kurator für ihre 15. Schau 2022 annonciert: Es ist das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa, deren zwei Vertreter Ade Darmawan und Farid Rakun, die gerade in Kassel zu Besuch sind, einen äußerst fröhlichen Eindruck machen. Das ist ja schon mal angenehm. Ruangrupa ist ein "Kollektiv mit Sitz in Jakarta, an dem neben Künstlern Journalisten, Architekten und Sozialwissenschaftler beteiligt sind und das 2000 gegründet wurde", informiert Birgit Rieger im Tagesspiegel. "Ruangrupa setzt auf Gemeinschaft, Freundschaft, Partizipation, Begegnung und war an den Biennalen in Gwanju, Istanbul oder Sao Paulo beteiligt. Für die Documenta 15 soll ein Kernteam von zehn Leuten 'eine global ausgerichtete, kooperative, interdisziplinäre Kunst- und Kulturplattform' schaffen. Der Austausch mit Gruppen der städtischen Gemeinschaft steht im Vordergrund. 'Für Kassel, mit Kassel, in Kassel': Farid Rakun und Ade Darmawan, die als Gesandte der non-hierarchisch organisierten Gruppe gekommen sind, nennen den Namen der Stadt oft und deutlich, mit Lächeln im Gesicht."

"Die Documenta hat sich mit Ruangrupa für eine Tendenz in der Kunst entschieden: Es ist Zeit, Antworten auf existenzielle, soziale Fragen zu geben, die ästhetischen müssen warten", notiert Swantje Karich, dennoch durchaus zufrieden in der Welt.

Watermelon Man von Zuo Xin


Stoff zum, ähm, Nachdenken bietet ein Comic aus der Underground-Szene in China, den Hyperallergic ins Netz gestellt hat. Der Titel erklärt sich bei genauerem Hingucken von selbst. Um auch außerhalb Chinas bekannt zu werden, sammeln die stets von der Zensur bedrohten Künstler bei Kickstarter Geld, um ihre "Naked Body: An Anthology of Underground Chinese Comics" auf Englisch herausbringen zu können.

Weiteres: Bernd Zimmer stellt in der SZ ein Projekt des Malers Bernd Zimmer vor, der "mitten in der Natur bei Polling" eine Halle mit 169 individuell gestalteten Säulen errichten will als "Zeichen der Solidarität und Völkerverständigung in Zeiten der Migrationsströme und Flüchtlingsbewegungen".  Besprochen wird die Schau "Neues Bauen im Westen" im Haus der Architekten in Düsseldorf (FAZ).
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Literatur

Mit großer Begeisterung blättert sich Roman Bucheli für die NZZ durch die neue Ausgabe der Schweizer Literaturzeitschrift orte. Der ehemalige Lehrer Rainer Werner empfiehlt in der Welt seinen Berufskollegen Thomas Manns in seinen Romanen dargelegten pädagogischen Einsichten als Ratgeber: Schüler lieber über-, als unterfordern - und vor allem: als Lehrer für eine Sache brennen. In der Literarischen Welt ergänzt Denis Scheck seinen Literaturkanon um Charles Simics "Ein Buch von Göttern und Teufeln". Der Tagesspiegel bringt einen Vorabdruck aus H.P. Daniels' Roman "Runaway".

Besprochen werden unter anderem Feridun Zaimoglus "Geschichte der Frau" (SZ), Josephine Rowes "Ein liebendes, treues Tier" (taz), Gabriele Tergits "Effingers" (Literarische Welt), Michael Rutschkys "Gegen Ende. Tagebuchaufzeichnungen 1996-2009" (NZZ), Rocko Schamonis St.Pauli-Roman "Große Freiheit" (Literarische Welt), Hanya Yanagiharas Debüt "Das Volk der Bäume" (SZ), Maxim Leos "Wo wir zu Hause sind. Die Geschichte meiner verschwundenen Familie" (taz), Ulrich Woelks "Der Sommer meiner Mutter" (Tagesspiegel), Bela B. Felsenheimers literarisches Debüt "Scharnow" (Literarische Welt), zwei neue Churchill-Biografien (NZZ) und zwei neue Novellen von César Aira (FAZ), dem Richard Kämmerlings in der Literarischen Welt zum 80. Geburtstag gratuliert.

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Film

In der Nacht von Sonntag auf Montag werden die Oscars verliehen. Eine Art Krisenverleihung, denn einerseits befinde sich die Academy derzeit massiv im Wandel, andererseits ist sie aber auch im Vorfeld mit zahlreichen Pannen in so ziemlich jedes sich anbietende Fettnäpfchen getreten, schreibt Tobias Kniebe in der SZ. Nico Hoppe mahnt derweil in der NZZ, dass der mehrfach nominierte Superheldenfilm "Black Panther", allerorts als antirassistische Intervention gefeiert, mit seiner Heilsgeschichte einer isolationistischen afrikanischen Monarchie eigentlich eine sehr regressive Ideologie bediene und daher auch von Neurechten goutiert werde: Diese "Begeisterung verwundert wenig angesichts der Beobachtung, dass sich 'Black Panther' bei dem neurechten Konzept des Ethnopluralismus zu bedienen scheint". Ähnlich geriere sich "Green Book" (mehr dazu hier), der unterschwellig skandalisiere, "dass der schwarze Pianist sich nicht stärker in seiner 'eigentlichen' Musik, dem Jazz, engagiert. Die Verquickung eines Individuums mit seiner mutmaßlichen 'kulturellen Identität' ist der Höhepunkt, auf den der Film kontinuierlich zusteuert - und der versöhnlich stimmen soll."

Sehr ausgiebig arbeitet sich Andreas Busche im Tagesspiegel an Florian Henckel von Donnersmarck und seinem oscarnominierten "Werk ohne Autor" und dessen Nationalpathos ab, das völlig quer stehe zu einem Kino auf der Höhe der Zeit: "Der Hochwohlgeborene beschenkt die Massen mit geschichtsträchtigem Unterhaltungskino, das die Volksseele heilt" und "gibt sich mit einer Form von altmodischem Erzählkino zufrieden, das man in Hollywood zudem viel souveräner beherrscht."

Gegenwartskommentar mit Formwille: David Schalkos "M"-Remake

Themenwechsel: Auf ZeitOnline spricht der österreichische Regisseur David Schalko über sein Serien-Remake des Fritz-Lang-Klassikers "M - Eine Stadt sucht einen Mörder", das den Stoff ins Wien der Gegenwart verlegt und politisch aktualisiert. In Langs zwei Jahre vor der Machtübernahme der Nazis entstandenem Film spüre man "eine Verrohung der Gesellschaft, eine Brutalisierung" und Schalko wähnt für heute ebenfalls eine Vorabendstimmung: "Was wir wissen, ist, dass gewisse Bürgerrechte infrage gestellt werden, dass der bürgerliche Konsens verlassen wird, dass die Gesellschaft nach rechts rückt, dass es Ängste gibt, einen Effizienzfetischismus, eine Hardcore-Leistungsgesellschaft, in der der Wettbewerb gegeneinander mehr zählt als das Gemeinsame. All dieses Gebräu in Kombination mit einer Überwachungstechnologie riecht unsäglich." FAZ-Kritikerin Ursula Scheer war mit der in Österreich gescholtenen Serie im übrigen sehr zufrieden: "Hätten Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard je zusammen eine Fernsehserie drehen wollen, sie hätte ähnlich ausfallen können. Schalko gelingt ein von seinem Ensemble getragenes, von dem Willen zum Gegenwartskommentar und einem ausgeprägten Formwillen bestimmtes Zeitstück." Auch Hanns-Georg Rodek hat sich mit dem Regisseur unterhalten.

Weitere Artikel: In der Spex spricht Arno Raffeiner mit Naomi Burton und Nick Hayes, die mit "Means of Production" einen sozialistischen Streamingdienst etablieren wollen. Für den Freitag porträtiert Ryan Gilbey Glenn Close. Besprochen werden das Biopic "Can You Ever Forgive Me" mit Melissa McCarthy (Standard) und Adam McKays Dick-Cheney-Satire "Vice" (Freitag, mehr dazu hier).
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Bühne

Im Interview mit der taz versucht Yves Degryse, Gründer der belgischen Theaterkompagnie "Berlin" seine Zusammenarbeit mit dem Kunstfälscher Geert Jan Jansen als aufklärerische Heldentat zu verkaufen. In der NZZ gratuliert Lilo Weber dem Hamburger Ballettdirektor John Neumeier zum Achtzigsten, in der FAZ Wiebke Hüster, in der SZ Dorion Weickmann.

Besprochen werden Sebastian Wirnitzers Inszenierung von Manuel Meimbergs Neonazi-Satire "Familie Braun" in Halberstadt (nachtkritik), die Uraufführung von Michael Wertmüllers Musiktheaterstück "Diodati. Unendlich" am Theater Basel (nmz) und die Video-Oper "Three Tales" von Beryl Korot und Steve Reich am Theater Erfurt (nmz).
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Musik

Jetzt diskutiert das Feuilleton doch noch über Daniel Barenboim, nachdem bereits Anfang des Monats Kritik am aufbrausenden Führungsstil des Maestros laut wurde. "Eine gewisse Tragik" attestiert Rainer Pöllmann im Deutschlandfunk Kultur der Geschichte: Der künstlerisch, kulturpolitisch und politisch verdienstvolle Barenboim "wähnt sich selbst, nach allem, was man hört, über jede Kritik erhaben. ... Das Schweigen, das der ersten Veröffentlichung vor zwei Wochen folgte, war ohrenbetäubend. Keine große Zeitung griff das Thema auf." Der Perlentaucher hingegen schon.

Daniel Barenboim
kommt in einem Dlf-Kultur-Beitrag Maria Ossowskis zu Wort und äußert sich selbstkritisch, aber nicht entschuldigend zu Vorwürfen von Musikern, die unter seinen Wutanfällen gelitten haben. Froh ist er nicht: "Barenboim, dem das Berliner Musikleben unendlich viel zu verdanken hat, sieht in diesen Anwürfen eine Kampagne. Jeder wisse, dass der Senat und er in Vertragsverhandlungen stünden. Warum seien seine Kritiker nicht in den vergangenen 27 Jahren gekommen, fragt er. So sehr verändert habe er sich nicht."

Barenboims Vertrag läuft noch bis 2022, er selbst hofft, auf Lebenszeit Dirigent der Staatskapelle bleiben zu können, schreibt Frederik Hanssen im Tagesspiegel, der aus der Kulturverwaltung kein klärendes Wort herausbekommen hat und dem Senat rät "der glanzvollen Ära ein klares Ende zu setzen. ... Künstlerverbindungen sind keine Ehen, die halten sollen, bis dass der Tod sie scheidet. Sondern Lebensabschnittspartnerschaften. Der Wechsel ist notwendig, der frische Blick und der neue Impuls, damit sich eine Bühne, ein Orchester, ein Museum weiterentwickeln kann."

In der Berliner Zeitung deutet Petra Kohse die Angelegenheit als Konflikt innerhalb einer in Auflösung begriffenen Geniekult-Kultur: "Es passt zur digitalisierungsgetriebenen Emanzipation und Ausdifferenzierung immer weiterer Bevölkerungskreise,(...), dass Einzelne ihre Rolle im Ganzen selbst definieren und Versehrungen nicht länger hinnehmen wollen. Der höhere Sinn auch künstlerischer Arbeit hat die Verletzung Einzelner vielleicht noch nie gerechtfertigt, aber bisher herrschte diesbezüglich gesellschaftsweit das Nachkriegs-Einverständnis, dass Dabeisein alles und persönliche Opfer unumgänglich seien. ...  Bei jeder Neubesetzung hochrangiger Leitungsstellen wird inzwischen auf Teamstrukturen geachtet."

Berlin habe sich abhängig gemacht von Barenboims Weltruhm, kommentiert Peter Uehling in der Berliner Zeitung. Da dürfe "man sich nicht wundern, wenn einem ohnehin eher mäßig erzogenen Wunderkind innerlich die Pferde durchgehen". Wer das eine liebe, soll das andere mögen, lautet sein Fazit: "Die Vorwürfe gegen Barenboim haben etwas Flaues, insofern sie auf der Welle des allgemeinen Gemaules segeln über exzentrische, schlecht erzogene Leistungsträger, die sich nun bitteschön zerschneiden sollen in geniale Geister und angepasste Gesellschaftsmitglieder. Zweifellos ist Barenboims Verhalten unmöglich, aber wenn einem die Teilhabe an seiner einzigartigen Musikalität wichtig ist, muss man es wohl in Kauf nehmen."

In der FAZ weist Jan Brachmann darauf hin, dass herrische Maestros nicht das Hauptproblem sind, sondern "Strukturen ... , unter denen 'ein Klima der Angst' entstehen kann, weil die betroffenen Mitarbeiter die Konflikte nicht über die rechtlich und institutionell vorgesehenen Wege lösen können. Sie fühlten sich durch den Orchestervorstand und den Personalrat nicht hinreichend geschützt oder haben diesen Schutz gar nicht gesucht."

Weitere Artikel: Für den Standard spricht Ljubisa Tosic mit dem US-Bariton Thomas Hampson. Besprochen werden ein Laibach-Auftritt (Standard), ein Beethoven- und Prokofjew-Abend mit dem Pianisten Daniil Trifonov (Tagesspiegel) und neue Veröffentlichungen von Bilderbuch und Modeselektor (ZeitOnline).
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