Efeu - Die Kulturrundschau

Wir gehen gerne auf Leute zu

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26.02.2019. Der Kunst-Tyrann ist tot, ruft der Tagesspiegel in die Barenboim-Debatte, es lebe die Sonnenkönigin! In der Berliner Zeitung rät die Schriftstellerin Rachel Cusk zum netten, fürsorglichen Mann. Die Welt überlegt, ob der Schock, den die Moderne Europa bereitete, auch global gewirkt hätte. Die Kritiker ziehen nach der Oscar-Verleihung noch immer lange Gesichter: Besonders demoralisierend finden sie die Auszeichnung für Peter Farrellys "Green Book".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.02.2019 finden Sie hier

Kunst

Amrita Sher-Gil, Selbstporträt als Tahitianerin (1934). Sammlung von Navina und Vivan Sundaram.

Nach den großen Ausstellungen "Hello World" in Berlin und "A Tale of Two Worlds" in Frankfurt stellt jetzt auch das Düsseldorfer K20 in seinem "Museum Global" die europäische Moderne Kunst aus Afrika, Asien und Südamerika zur Seite. In der Welt macht sich bei Hans-Joachim Müller Unbehagen breit. Denn der große Schock der Moderne in Europa sei der Bruch mit der mimetischen Tradition gewesen: "Der Verlust der Mimesis aber ist eine genuin europäische Erfahrung. Die afrikanische Moderne zum Beispiel gründet auf Bildkulturen, die ihre idolhaften Menschenbilder in ungemeiner Konsistenz überliefert haben. Weshalb diese afrikanische Moderne, wo sie sich nicht einfach aus dem westlichen Reservoir bedient, wie Fortsetzung der eigenen Geschichte mit anderen Mitteln erscheint. Wenn Picassos kubistische 'Demoiselles d'Avignon' 1907 in der französischen Kolonie 'Äquatorialafrika' gezeigt worden wären, hätten sie wie ein Re-Import, wie eine europäische Anleihe bei der eigene Bildvergangenheit wirken müssen. Faszination und Erstarren vor dem Bild fanden in Paris statt, wo sie etwas voraussetzungslos Neues waren."

Ein bisschen riskant, aber begrüßenswert erscheint Christian Saehrendt in der NZZ, dass die Documenta 15 vom indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa ausgerichtet werden soll: "Offensichtlich ist die Wahl eines Kollektivs als Reaktion zu verstehen auf die Selbstherrlichkeit und autoritäre Unnahbarkeit von Starkuratoren wie Adam Szymczyk. Ade Darmawans fröhliches Statement 'Wir mögen Menschen. Wir gehen gerne auf Leute zu' wäre dem Leiter der Documenta 14 wohl kaum über die Lippen gekommen."

Weiteres: Toll, dass das Sprengel-Museum in Hannover den Fotografen Umbo zeigt, freut sich Till Briegleb in der SZ, aber einen Reim kann er sich trotzdem nicht machen auf diesen Otto Maximilian Umbehr, der BDM-Mädchen ebenso verherrlichte wie er nach dem Krieg sensibel Displaced Persons beobachtete. In der taz stellt Dominikus Müller die Arbeiten der Berliner Künstlerin Stefanie Bürkle vor, die für ihre Serie "Atelier + Labor" meist menschenleere Arbeitsräume nebeneinander stellt, in denen Erkenntnis produziert wird. Zu sehen sind ihre Werkstätten des Wissens im Museum für Fotografie im Berlin. Als einfach großartige Schau feiert Stefan Trinks in der FAZ die Schau "Alle Rembrandts", mit der das Amsterdamer Rijksmuseum zum 350. Todestag des Malers zeigt, was es hat.
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Literatur

Für die Berliner Zeitung haben sich Anne Lena Mösken und Sabine Rennefanz zum großen Gespräch mit der britischen Schriftstellerin Rachel Cusk getroffen, die mit ihren autobiografisch gefärbten Romanen in Großbritannien seit geraumer Zeit ein Star des Literaturbetriebs ist und auch in Deutschland ein zusehends größeres Publikum findet. Unter anderem geht es um Geschlechterrollen und Literatur. Dass Männer für die Beschreibung ihres Alltags weit mehr Achtung erfahren als viele Schriftstellerinnen, die ähnlich vorgehen, nimmt Cusk zwar zur Kenntnis, sie bleibt aber milde: "John Updike und all die anderen männlichen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts bekamen dafür Applaus, dass sie über die Spüle in der Küche schrieben. Frauen verärgert das. Aber ich sehe das nicht so. Ich würde sagen: Gebt ihnen diesen Raum! ... Das Beste für diese Männer könnte sein, sich mehr um den Haushalt zu kümmern, Erzieher oder Grundschullehrer zu werden. Wahrscheinlich sehnen sie sich danach, wie sich Frauen nach Macht sehnen. Man würde ihnen einen Gefallen tun, wenn man ihnen mehr Raum im Häuslichen gibt. Und dann könnten Frauen die Macht und die Arbeit mehr genießen. Das ist der Rat, den ich meinen Kindern gebe: Holt euch einen netten, fürsorglichen Mann."

Für eine gelungene Aktion hält es Anna Klöpper in der taz, dass das von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf entfernte Gomringer-Gedicht nun unweit davon an einem anderen Haus in zweisprachiger Ausführung zu sehen ist (mehr dazu hier): Wenn die ganze Kontroverse "eine Wohnungsbaugenossenschaft dazu provoziert, uns sehr prominent vor Augen zu führen, dass man widerstreitende Meinungen aber trotzdem aushalten muss: Dann ist das tatsächlich kein kleines Kunststück, das diese Debatte geschafft hat."

Weitere Artikel: Artur Becker erinnert in der NZZ an den polnischen Reporter Ryszard Kapuscinski und dessen literarische Schreibttechniken. Samir Sellami hat für die SZ in Zürich ein Festival für die argentinische Literatur besucht.

Besprochen werden unter anderem Catherine Meurisse' Comic "Weites Land" (taz), Carmen Maria Machados Erzählband "Ihr Körper und andere Teilhaber" (Freitag), Jan-Christoph Hauschilds "Das Phantom. Die fünf Leben des B. Traven" (Jungle World), Katharina Mevissens "Ich kann dich hören" (Berliner Zeitung), Rocko Schamonis St.-Pauli-Roman "Große Freiheit" (Welt), Marco Dinićs Debüt "Die guten Tage" (Tagesspiegel), Sergei Lebedews "Kronos' Kinder" (NZZ), Michael Roes' "Heridas Duro" (FR), Sylvie Schenks "Eine gewöhnliche Familie" (SZ) und Guntram Vespers Lyriksammlung "Tieflandsbuch" (FAZ).

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Film

Die Kritiker sind sich nach einer durchwachten Nacht einig: Die Oscarverleihung war zwar so divers wie nie - aber der wichtigste Goldjunge dieses Abends ging eindeutig an den falschen Film: Peter Farrellys "Green Book" kritisiere "den gesellschaftlich verankerten Rassismus vordergründig - um den weißen Protagonisten hintenrum doch als Retter zu präsentieren, ganz so, wie es die immer noch größte Gruppe der weißen männlichen Academy-Mitglieder vielleicht gern hätte", schreibt Jenni Zylka in der taz. In jeder Hinsicht "dürftig" sei diese Entscheidung, meint Andreas Busche im Tagesspiegel: Aber sie passe zur "zur Schwerfälligkeit der Akademie, die sich in einer Phase des Umbruchs befindet". Und Andrey Arnold fügt in der Presse hinzu: Diese Auszeichnung "erinnerte an den Unterschied zwischen medienwirksamer Image-Kosmetik und tatsächlichem Strukturwandel. Auch wenn es das neue, aufgeklärte Hollywood irritiert: Das alte hält immer noch die Stimmenmehrheit, und es hat kein Problem mit Versöhnungskitsch. Selbst nach der selbstverordneten Verjüngungskur per Aufstockung der Wählerschaft spürt man die Traditionsverbundenheit der Academy." Für FAZ-Kritiker Andreas Platthaus handelt es sich um eine "moralisch demotivierende" Auszeichung für einen Film, der zeigt, "wie peinlich es sein kann, wenn gute moralische Absichten auf unzureichende filmische Mittel treffen".

Ziemlich genervt war auch Spike Lee vom Oscar für "Green Book", wie er in diesem ziemlich tollen BBC-Video auf unnachahmliche Art zum Ausdruck bringt:



Ansonsten viele lange Gesichter: Der alte Hollywood-Gaul hat seine Tricks offenbar verlernt. Generell mangelte es dem diesmal ohne Moderation auskommenden Abend an Esprit, seufzt Dominik Kamalzadeh im Standard. Urs Bühler und Tobias Sedlmaier sehen es in der NZZ sehr ähnlich. Das war eine "höchst enttäuschende, langweilige und ermüdende Gala", stöhnt auch Daniel Kothenschulte in der FR. Gerhard Midding porträtiert für ZeitOnline Mahershala Ali, der für "Green Book" als bester Nebendarsteller ausgezeichnet wurde und in der aktuellen "True Detective"-Staffel glänzt. Barbara Schweizerhof schreibt auf ZeitOnline über die notorisch glücklose Glenn Close, die alle als hundertprozentige Favoritin für die "beste Hauptdarstellerin" ausgemacht hatten, den Preis dann aber auch beim siebten Anlauf nicht erhalten hat. Carmen Böker wirft im ZeitMagazin einen Blick auf die zur Schau getragene Männermode des Abends.

Besprochen werden die ZDFNeo heute online gestellte Krimiserie "Dead End" (taz, Tagesspiegel) und die Serie "Vanity Fair" (FAZ).
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Bühne

Ein wenig unter Wert verkauft findet Uwe Mattheis in der taz das Talent des kongolesisch-österreichischen Autors Fiston Mwanza Mujila, dessen Stück "Zu der Zeit der Königinmutter" am Wiener Akademietheater uraufgeführt wurde. Dabei lernt man von einem Autor, für den Fucking und Katanga gleich weit entfernt sind: "Die Welt teilt sich nicht mehr in Ost und West oder Nord und Süd, sondern zwischen denen, die Grenzen überschreiten dürfen, und denen, die es müssen."

Weiteres: In der SZ berichtet Egbert Tholl vom Brecht-Festival in Augsburg, das leider nicht mehr ganz so "herrlich verstiegen, intellektuell, politisch" sei wie unter der Ägide seines Gründers Albert Ostermaier, aber durchaus noch mit Ideen aufwartet: In Mareike Mikats Inszenierung war "Baal" eine Frau. Besprochen werden Calixto Bieitos Inszenierung von Mendelssohns "Elias"-Oratorium im Theater an der Wien (SZ), Bedřich Smetanas Ritteroper "Dalibor" in Frankfurt (FAZ) und Christian Stückls Inszenierung von Joseph Roths Roman "Hiob" am Wiener Burgtheater (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Die schönen Künste bilden einen der letzten gesellschaftlichen Orte, an denen noch Alleinherrscher walten, schreibt Peter von Becker im Tagesspiegel unter dem Eindruck der Barenboim-Debatte und führt ein ganzes Register großer Namen an, die allesamt im Ruf standen, bei ihrer Arbeit ein wahrhaft drakonisches Regiment geführt zu haben. Ganz entschuldigen will er das aufbrausende Temperament von Kunst-Tyrannen allerdings auch nicht, schließlich gibt es auch Gegenbeispiele, bei denen ein sanfterer Tonfall ebenfalls zu großen Leistungen führte. Ein Lösungsvorschlag? "Mehr Frauen an der Theater- und Opernmacht tragen gewiss dazu bei, das Machohafte, Neandertalerische vieler männlicher Bühnenberserker zu mindern. Ja, zivilisatorisch zu zähmen. Ariane Mnouchkine regiert freilich seit einer Ewigkeit in ihrem Soleil als Sonnenkönigin. Und vom Gebaren einer absoluten Königin erzählt gerade der Oscar-gekrönte 'Favourite'. Trotzdem, die Zukunft ist weiblich. Wie die Macht. Wie die Hoffnung."

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel unterhält sich Eleonore Büning mit Elena Bashkirova, Leiterin des Berliner "intonations"-Festivals (dazu mehr von Detlef Giese), über Kammermusik. Jan Brachmann meldet in der FAZ, dass das Beethoven-Haus in Bonn weitreichend umgestaltet werden soll. In der FAZ gratuliert Jürgen Kesting der Sopranistin Emma Kirkby zum 70. Geburtstag.

Kai Müller schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf Talk-Talk-Sänger Mark Hollis. "It's my Life, it never ends", sang er noch in den Achtzigerm. Einen sehr schönen Nachruf, der vor allem auf die späteren, nicht mehr kommerziellen, aber sehr einflussreichen Alben eingeht, gibt es in Libération.



Und weil es in diesem Fall wirklich zutrifft und das Video so wunderschön ist: "Such a Shame!":



Besprochen werden Daniil Trifonovs Konzert in Wien (Standard), drei neuaufgelegte Prince-Alben (Standard) und neue Jazzveröffentlichungen, darunter Theon Cross' Solodebüt "Fyah", das für Andrian Kreye eine wahre "Pionierleistung" darstellt (SZ). Wir hören rein:


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