Efeu - Die Kulturrundschau

Distanz ermöglicht Deutlichkeit

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13.07.2020. Melancholisch, poetisch, versöhnlich - so erleben die Theaterkritiker den Abschied Matthias Lilienthals von München, der dafür ins Olympiastadion lud. In der NZZ wirft Ines Geipel dem Verlag "Das kulturelle Gedächntnis" noch einmal vor, Susanne Kerckhoff, deren "Berliner Briefe" gerade Furore machen, als unpolitisches, gar unbeschriebenes Blatt zu präsentieren. Die FAZ könnte mit dem Fotografen Christian Borchert an der Welt verzweifeln. In der SZ erläutert die Dresdner Kuratorin Kathleen Reinhardt ihre geplante Aktion "1 Million Rosen für Angela Davis".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.07.2020 finden Sie hier

Bühne

Open Ceremony im Olympiastadion. Foto: Julian Baumann
Statt mit einem "globalen Event", dem geplanten und wegen Corona abgesagten 24-stündigen "Olympia 2666", beendete Matthias Lilienthal seine Intendanz an den Münchner Kammerspielen mit einer von Toshiki Okada ausgerichteten Eröffnungsfeier im verlassenen Olympiastadion. "Das ganze hat eine wehe Poesie", meint in der SZ Christine Dössel, die scharf, aber am Ende doch ganz freundlich die kurze Lilienthal-Ära resümiert, während Julia Rieger an einem Drahtseil über das Stadion schwebt, andere Ensemble-Mitglieder den Rasen gießen oder als Super-Mario auf einem Bobbycar herumkurven. "'Vielleicht ist Mario ja der Name einer ganzes Spezies', sagt die wiedergekehrte Julia Riedler gegen Ende und trägt ein rotes T-Shirt, Lilienthals Lieblingskleidungsstück . Die Botschaft ist klar: Sie werden seine Theatersamen weitertragen, auf dass sein Münchner Ende doch zu einem 'Opening' werde. Dass währenddessen am zuvor trüben Himmel die Sonne aufgeht und das Stadion in ein herrliches Abendlicht taucht, erzeugt eine versöhnliche Stimmung, fast wie von oben verordnet."

FAZ-Kritikerin Teresa Grenzmann gerät bei der Schau im Olympiastadion schwer ins Grübeln: "Was wird hier eröffnet, was verabschiedet? Weckt das leere Stadion nicht auch die Assoziation an das schwindende Publikum in der ersten Zeit der Intendanz Lilienthals 2015/2016? Kann der freie Flug am Drahtseil, mit dem sich Julia Riedler zu Beginn heroisch vom Zeltdach stürzt, nicht auch metaphorisch gelesen werden? Und erinnert das regelmäßige Hegen des Rasens mit der Handgießkanne nicht an den zähen Anerkennungskampf des Intendanten um die Gunst der Stadt?" Weitere Kritiken in der nachtkritik, der taz, der Berliner Zeitung und im Tagesspiegel.

Weiteres: In der SZ berichtet Gerhard Matzig von einem Drama ganz eigener Art: Zwei Desinfektionsfirmen, die mit unterschiedlichen Konzepten um Aufträge im Kulturbereich kämpfen. Besprochen wird außerdem Christof Küsters Inszenierung von Philipp Löhles "Die Mitwisser" an der Württembergischen Landesbühne Esslingen (nachtkritik). Außerdem streamt die nachtkritik heute bis 18 Uhr noch Alexander Eisenachs Adaption von Virginie Despentes' Roman "Vernon Subutex" am Schauspielhaus Graz
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Literatur

In der NZZ bekräftigt die Schriftstellerin Ines Geipel ihre Vorwürfe an den Verlag Das kulturelle Gedächntnis,  Susanne Kerckhoffs "Berliner Briefe" zwar einerseits verdienstvollerweise wiederveröffentlicht und zu neuem Ansehen verholfen, dies andererseits aber in einer editorischen Basisausgabe geleistet zu haben, die in der Aufbereitung, Einordnung und Präsentation zu wünschen übrig lässt. und die Autorin in Missachtung der historischen Diskussion "als unbeschriebenes Blatt, als erstveröffentlichte Sensation" anbietet. "Der Verlag präsentiert eine Autorin in kitschiger Aufmachung, mit schreibender Frauenhand auf dem Cover und allerlei Seltsamkeiten zum weiblichen Schreiben im Nachwort." Dabei war Kerckhoff doch "eine Frau, die vorbehaltlos und gänzlich ungeschützt im Fragwürdigkeitsland zwischen zwei Diktaturen keinen Zentimeter Haltung preiszugeben bereit war. ... Ist es möglich, gemeinsam und ohne Scheu darüber nachzudenken, was es heißt, wenn Leben, Werk, Zeitumstände und Rezeption einer derart durchpolitisierten Autorin so markant ausgeblendet werden? Könnte die Kerckhoff-Causa eine Symptombeschreibung vom Zustand der deutsch-deutschen Gedächtnisarchitektur hergeben? Fiel ihr Schicksal in ebenjenen Riss zwischen Ost und West, der das Land vierzig lange Jahre geteilt hatte?"

Weitere Artikel: Auf Intellectures spricht Uli Oesterle ausführlich über seinen Comic "Vatermilch". Elisabeth von Thadden spricht für ZeitOnline mit Sandra Richter vom Literaturarchiv Marbach über die Lage an der Kulturinstitution in Zeiten vornehmlich digitaler Kommunikation - dass der Segen im Hause gerade ziemlich schief hängt, erfährt man aus dem Gespräch leider nicht. Susanne Lenz hat für die Berliner Zeitung mit der Literaturwissenschaftlerin Liliane Weissberg geskypt, die bis vor kurzem in Berlin zur Postkarte im Gebrauch von Literaten und Intellektuellen forschte. Im Standard stand der Schriftsteller Gerhard Roth zu seinem neuen Werk Rede und Antwort. Im Standard-Essay meditiert die Schriftstellerin Ela Angerer über Kreative im Urlaub.

Besprochen werden Aris Fioretos' "Nelly B.s Herz" (online nachgereicht von der FAZ), Nana Kwame Adjei-Brenyahs Erzählband "Friday Black" (Freitag), Nina Bußmanns "Dickicht" (FR), Juri Buidas "Nulluhrzug" (Berliner Zeitung), Thomas Kapielskis "Kotmörtel. Roman eines Schwadronörs" (Tagesspiegel), Meena Kandasamys "Schläge" (Presse), Agatha Christies "Alibi - Ein Fall für Poirot" (Berliner Zeitung) und Khaled Khalifas "Keine Messer in den Küchen dieser Stadt" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Kristina Maidt-Zinke über Friedrich Rückerts "Der Reigen dreht ohn' Unterlaß":

"Der Reigen dreht ohn' Unterlaß,
Du mußt daran;
Es ist für keinen kein Erlaß
..."
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Musik

Besprochen werden neue Alben von Haiyti (Berliner Zeitung, FAZ), The Streets (Standard) und Rufus Wainwright (FAZ).
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Kunst

Reinhard Mende, "Freiheit für Angela", 1. Mai 1972, Altenburg, Mende Archiv, ZeitBlicke Zürchau 2019
Catrin Lorch unterhält sich für die SZ mit der Dresdner Kuratorin Kathleen Reinhardt über deren für Oktober geplante Aktion "1 Million Rosen für Angela Davis" in den Kunstsammlungen Dresden: "Angela Davis wurde zu einer Ikone der DDR, die sogar von Staatskünstlern wie Willi Sitte porträtiert wurde. Für mich war es spannend, wie das Bild von Angela Davis sich in diese sogenannte offizielle Staatskunst eingeschrieben hat - gerade auch im Bezug auf die momentan stattfindende Renaissance Schwarzer figurativer Malerei. Da knüpfe ich an - ich frage nach dieser Stilisierung und wie durch die Hyperzirkulation ihres Bildes eine Verkennung von Angela Davis' Inhalten als Schwarze Intellektuelle und Aktivistin stattfinden konnte."

Diese Ausstellung "müsste einem Kanonenschlag gleichen", ruft Freddy Langer (FAZ), der im Sprengel Museum in Hannover gebannt vor den Fotos des 2000 verstorbenen Christian Borchert steht, "aber sie verbreitet kaum mehr als ein Summen. ... Ein seltsames Moment von Schwermut liegt über fast allen. Und ausschließlich sind es Motive, die sich nicht aufdrängen, kaum einbrennen in die Erinnerung und die einen dennoch nicht in Ruhe lassen. Viele fotografiert aus einer doppelten Distanz: räumlich und emotional. Gegen Robert Capas Aperçu, dass man für ein gutes Bild nur nah genug ans Motiv herangehen müsse, hätte Christian Borchert wohl heftigst protestiert. 'Distanz ermöglicht Deutlichkeit', hat er bei Gelegenheit notiert."

Weiteres: In der taz-Reihe "Polizei in der Kunst" schreibt Sebastian Strenger über Dorothy Iannones "Story of Bern".
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Film

Mieze und Francis: Burhan Qurbanis "Berlin Alexanderplatz"

In den Kanon allgemeiner Begeisterung über Burhan Qurbanis in die Gegenwart verlegten "Berlin Alexanderplatz" mit einem von Welket Bungué gespielten schwarzen Flüchtling als Franz Biberkopf will NZZ-Kritikerin Stephanie Kulbach nicht miteinstimmen: Furios fange der Film an, auf dem Boulevard der gescheiterten Ambitionen komme er aber zum Erliegen und noch nicht einmal als lose Döblin-Adaption gehe er durch, da Qurbani Döblins "Multiperspektivität nicht zusammenbringt: Ein Thema, der alles verschlingende Großstadtmoloch, läuft etwas verloren her neben dem anderen, der existenziellen Situation der Hauptfigur. Wo wir bei Döblin im atemlosen Rhythmus zwischen weichen, zärtlichen Tönen und rauen und cholerischen hin- und hergeworfen werden, winkt einem das Schicksal von Francis hier allenfalls von fern zu. Empathie weckt hier nichts. Weder berührt einen Francis' labile Beziehung zur selbstbewussten Sexarbeiterin Mieze (Jella Haase) noch die zerstörerische Abhängigkeit vom diabolischen Reinhold; alles wird schemenhaft wie durch eine Milchglasscheibe präsentiert." Zu sehen in dem Film ist auch Albrecht Schuch als Reinhold, mit dem sich Christina Bylow in der Berliner Zeitung unterhält. Im Dlf Kultur spricht der Regisseur über seinen Film. Und hier noch unsere Kritik zur Berlinale-Aufführung.

Weitere Artikel: Rilana Kubassa unterhält sich für den Tagesspiegel mit der Regisseurin Carolina Hellsgård über deren Film "Sunburned". Claus Löser empfiehlt in der Berliner Zeitung die Reihe "Black Light" im Berliner Kino Arsenal. In der Welt empfiehlt Tilman Krause dem Berliner Publikum die Adolf-Wohlbrück-Retrospektive im Berliner Zeughauskino. Peter Körte berichtet in der FAS von seinen ersten Kinobesuchen nach dem Corona-Lockdown. Dietmar Dath gratuliert in der FAZ Patrick Stewart zum 80. Geburtstag.
Archiv: Film