Efeu - Die Kulturrundschau

Ganz allein im stillen Theater

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26.11.2020. Ist sie nun von Leonardo oder von Cockle Lucas? Die Welt empfiehlt eine Arte-Doku zur umstrittenen Flora-Büste des Bode Museums. Die SZ betrachtet die tödliche Querflöte mit ganz neuen Augen. In der taz erklärt Miranda July den Vorteil kleiner Budgets im Filmgeschäft, und eine Reihe von Filmregisseurinnen erklärt, warum Artes "Unbeschreiblich weiblich"-Wettbewerb keineswegs feministisch ist. Die nmz erinnert an den Komponisten Iwan Wyschnegradsky. Zeit online und Tagesspiegel feiern die messerscharfen Raps auf dem Debütalbum von Megan Thee Stallion.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.11.2020 finden Sie hier

Kunst

Flora, nach Art des Leonardo. Foto: Daderot / Wikipedia unter cc-Lizenz
1909 kaufte Wilhelm von Bode, damals Direktor der Berliner Gemäldesammlungen, im englischen Kunsthandel für 8000 Pfund eine Flora-Büste, felsenfest überzeugt, diese sei von Leonardo da Vinci, obwohl dessen Werkverzeichnis keine Skulpturen aufweist. Bis heute konnte die Authentizität der Büste weder bewiesen noch widerlegt werden, erzählt in der Welt Hans-Joachim Müller, der zur Geschichte der Büste eine unterhaltsame Arte-Doku von Margarete Kreuzer empfiehlt. Bode kommt darin natürlich vor, zwei mögliche Kunstfälscher namens Albrecht Dürer Lucas und Richard Cockle Lucas sowie jede Menge "Professores" und ein Teilchenbeschleuniger. Am Ende bleibt das Rätsel ungelöst, aber macht nichts, meint Müller, auf die lächelnde Flora blickend: "Das wahre, nie lösbare Rätsel ist eben doch, wie es dieser Künstler geschafft hat, mit seiner unglaublichen Personeneinfühlung einen Figurentypus zu schaffen, der seine Zeit verzaubert hat und alle Zeiten nach ihm verzaubern wird."

Weiteres: Ingeborg Ruthe betrachtet für die FR Christoph Brechs neue Kirchenfenster für die Heilig-Kreuz-Kirche in München-Giesing - lange vor Corona entworfen -, die in der Apsis aus Lungenflügeln bestehen: "Es ist ein schönes, starkes, tröstliches Kunstwerk - diese Hunderte von blauen Lungenflügelpaaren aus mundgeblasenem Neuantikglas, die in ihrer gotischen Form mit den Engelsflügeln der gotischen Hochaltarfiguren der katholischen Kirche korrespondieren und eine nach oben schwebende, leichte, mal opake, mal transparente und so geradezu transzendente Wirkung erreichen." Im Guardian empfiehlt Leslie Felperin Eric Brickers Filmdoku über den amerikanischen Architekturfotografen Julius Shulman.
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Musik

"Wenn Flöten töten" ist Helmut Maurós SZ-Artikel zur Aerosol-Studie des BR-Sinfonieorchesters überschrieben. Auch ansonsten gibt sich der Kritiker in seiner Zusammenfassung der Ergebnisse formulierfreudig: "Überraschungssieger wurde die sanfte Querflöte, der man in den letzten 400 Jahren nie Böses zutraute. Nun aber entpuppt sie sich als Hauptvirenschleuder, noch weit vor der Trompete. ... Während die meisten Bläser den Luftstrom in ihr Instrument lenken, führt der Flötist die kanalisierte Atemluft knapp über die Öffnung im Mundstück in den Raum" und dadurch "gerät kaum ein Tröpfchen Aerosol in das Instrument, während ein Tröpfchen-Tsunami hingegen ungehindert in den Raum saust. Bei den Blechbläsern dagegen haben die Viren einen langen Weg, bis sie vom Mundstück durch allerlei Windungen, wo sie zum Teil auch noch kondensiert liegen bleiben, am Ende durch den Schalltrichter nach außen stieben."

ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt hat viel Freude daran, wie Megan Thee Stallion auf ihrem heiß erwarteten Debütalbum die Hiphop-Szene aufs Korn nimmt: So ballert sie jedenfalls ziemlich angriffslustig gegen den ganzen Katalog an Männlichkeitsbildern, mit denen der Hip-Hop aufwartet. Der Song "'Shots Fired' rechnet mit blinder Loyalität und dem szeneinternen Opportunismus vieler Fans und Protagonisten ab. Es macht sich über die Armseligkeit gängiger Statussymbole lustig und verweist auf die Probleme mit häuslicher Gewalt, die sowohl Rap-Welt als auch Restgesellschaft prägen. Noch immer werde vor allem schwarzen Frauen nicht geglaubt, die Opfer eines Angriffs geworden sind." Auch Nadine Lange vom Tagesspiegel ist im Glück: "Ihre Raps sind messerscharf, ihr Flow von einer beeindruckenden Lässigkeit. ... Genau wie auf ihren ersten EPs strotzt die Rapperin nur so vor Stolz und Selbstermächtigung."



Weitere Artikel: Bernd Pickert berichtet in der taz von den Protesten in Kuba gegen die Inhaftierung des Rappers Denis Solís González. Nadja Dilger hat für die Berliner Zeitung den Komponisten und Musiker Martin Kohlsteht getroffen. In der NMZ erinnert Hans-Jürgen Schaal an den Komponisten Iwan Wyschnegradsky.

Besprochen werden Christopher Dells Buch "Das Arbeitende Konzert", in dem der Komponist über seine Arbeit nachdenkt (Tagesspiegel) und "Votive", das Debütalbum der transmedialen Künstlerin Rosa Anschütz, die ihre gothic-inspirierten Popsongs auch als Keramik anbietet (Standard). Wir hören rein:

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Bühne

Im Interview mit Ljubiša Tošić erklärt Regisseur Alfred Dorfer im Standard, warum er mit dem "Figaro" erstmals eine Oper inszeniert hat. Die Premiere am Theater Wien fiel dann wegen Corona leider aus: "Ich habe die Premiere ganz allein im stillen Theater verbracht, ohne Publikum, mit dem Lichtmann. Ich habe an diesem Tag eine Lichtprobe gemacht."

Weiteres: Patrick Wildermann unterhält sich für den Tagesspiegel mit dem Schauspieler Nico Holonis, der ab Januar den Mackie Messer im BE spielen soll, über seine Rolle. In der nachtkritik erzählt Seyda Kurt, welche Themen sie gerne im Theater behandelt sähe. Und Christiane Peitz gibt im Tagesspiegel Streaming-Tipps für Theater und Konzert.
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Stichwörter: Corona, Dorfer, Alfred, Streaming

Literatur

In der SZ fasst Peter Burghardt nochmal Kirsten Boies Gründe dafür zusammen, dass sie den Preis des Vereins Deutsche Sprache ablehnt: Die Kinderbuchautorin "erinnert in ihrer Absage an Zitate des VDS-Vorsitzenden Walter Krämer, der vom 'aktuellen Meinungsterror unserer weitgehend linksgestrickten Lügenpresse', der 'Überfremdung der deutschen Sprache' oder dem 'Genderwahn' sprach oder schrieb. 'Mehr noch als die verkürzte und realitätsfremde Vorstellung von Sprache', so Kirsten Boie, 'erschreckt mich, wie genau sie sich ausgerechnet in einer Zeit, in der wir mit Sorge einen Rechtsruck in Teilen der Bevölkerung beobachten müssen, in deren Argumentationsgänge einfügt.'"

"Wir sind in einem freien Land, da muss man keine Preise annehmen", sagt Krämer dazu im Gespräch auf Dlf Kultur und bekräftigt seine Kritik an den Medien und jüngeren Sprachmoden, schließlich würde die Sprachkritik auch dazu führen, "'dass das Deutsche für Ausländer nicht mehr so leicht zu lernen' sei, und dass man sich 'nicht mehr so gefühlvoll melodisch ausdrücken kann, wie das Goethe und Schiller noch durften und konnten'." Dass Deutsch für Ausländer sonderlich leicht zu lernen sei, hören wir allerdings auch zum ersten Mal.

Weitere Artikel: Anders als bei der letzten Debatte um Cesare Pavese in den 90ern reagiert die italienischen Öffentlichkeit diesmal ziemlich kühl darauf, dass der Schriftsteller in nun wiederveröffentlichten Notizen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs Sympathien für den Faschismus an den Tag legte, berichtet Franziska Meier in der NZZ. Andreas Platthaus weist in der FAZ darauf hin, dass das Thomas-Mann-Haus in Los Angeles für Ende des Monats erneute eine Onlinedebatte angekündigt hat.

Besprochen werden unter anderem Mieko Kawakamis "Brüste und Eier" (taz), Frank Schmolkes Comic "Freaks" (SZ), Enrico Marinis Comic "Die Adler Roms" (Welt) und Lorenz Justs "Am Rand der Dächer" (FAZ).
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Film

Szene aus Miranda Julys "Kajillionaire"


In der taz spricht Marie-Claire Wygand mit Miranda July vor allem darüber, wie die Filmemacherin und Schriftstellerin ihren neuen Film "Kajillionaire" finanziert hat. Auf die großen Töpfe der Streamingkonzerne hat sie nämlich freiwillig verzichtet: "Das war vielleicht eine der letzten Chancen, nur fürs Kino zu drehen. Man muss sich entscheiden zwischen einer Kinoproduktion und dem doppelten Budget, wenn man für Netflix oder andere Streamingdienste produziert. ... Streamingplattformen können gefährlich werden, weil sie Monopole schaffen. Sie beeinflussen Filme mit sehr großen Geldsummen" und "wenn man einmal in den Bereich eines größeren Budgets kommt, ist man nicht mehr so völlig frei wie ganz ohne Budget."

Im SZ-Gespräch erklärt Joachim Kosack von der Ufa, warum sich sein Unternehmen per Erklärung dazu selbstverpflichtet hat, bis 2024 eine insgesamt diverserere Produktionspalette vorzulegen: "Wir wollen die Gesellschaft abbilden, wie sie wirklich ist. Im Genderbereich streben wir 50 Prozent an, bei Menschen mit Migrationshintergrund 25 Prozent, wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht." Unklar bleibt allerdings, wie hoch der Anteil von Arbeitslosen, Niedriglohnjobbern und Altenheimbewohnern künftig sein wird.

Dazu passend fliegt auch gerade Arte eine zwar gutgemeinte, aber ziemlich ungelenk durchgeführte Ausschreibung um die Ohren, berichtet Xenia Balzereit in der taz. Unter dem Titel "Unbeschreiblich weiblich" rief man Filmemacherinnen zum Doku-Wettbewerb auf. Kritikerinnen fühlen sich auf ihr Geschlecht reduziert, zugleich halten sie dem Sender vor, auf diese Weise bequem und ohne Produktionsaufwand bereits fertige Ware zu akquirieren "und das, obwohl selbstständige Filmemacher*innen durch die Coronakrise ohnehin schon äußerst schlechte Bedingungen haben. 'Selbst die Gewinnerin hat keine garantierte Aussicht auf einen Produktionsvertrag, geschweige denn einen Prime-Time-Sendeplatz', sagt die Filmemacherin Pary El-Qalqili 'Auch sie muss sich erst profilieren. Das zeigt erneut, dass Regisseurinnen* weniger zugetraut wird als ihren männlichen Kollegen.'"

Weitere Artikel: Ekkehard Knörer empfiehlt in der taz Filme aus dem Onlineprogramm der Französischen Filmwoche. Dort läuft auch Arnaud Desplechins "Roubaix, une lumière", den Thekla Dannenberg für den Perlentaucher gesehen hat. Besprochen werden außerdem  Ron Howards "Hillbilly Elegy" (Freitag, mehr dazu hier), Robert Zemeckis' Neuverfilmung von Roald Dahls "Hexen hexen" (taz), Ben Wheatleys "Rebecca" (Perlentaucher) und die ARD-Thrillerserie "Das Geheimnis des Totenwaldes" mit Matthias Brandt (Berliner Zeitung, ZeitOnline).
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