Efeu - Die Kulturrundschau

Falsch herum abgelesen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.01.2021. Im Tagesspiegel fordert die Konzeptkünstlerin Adrian Piper bessere Bildungschance für alle: mit höchstens fünfzehn Schülern pro Lehrer. Die taz stellt die georgische Regisseurin Dea Kulumbegashvili vor. Die Zeit sieht in Kulumbegashvilis Kamera gar das Auge der Schuld. Die NZZ betrachtet den Premierenstau der Bühnen. Die SZ erzählt, wie die belarussische Literaturszene drangsaliert wird. Und hört confessional pop von Arlo Parks.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.01.2021 finden Sie hier

Kunst

Die Schichtentafeln von Adrian Pipers Projekt "Wahlkampagne". Es werden noch Freiwillige gesucht, die sie tragen. Mehr dazu hier


Die Philosophin und Konzeptkünstlerin Adrian Piper, die seit 15 Jahren in Berlin lebt und arbeitet, wird in diesem Jahr mit dem Goslarer Kaiserring ausgezeichnet. Im Interview mit dem Tagesspiegel fordert sie eine Entschuldigung der Westdeutschen "für die Beleidigung und Abwertung der Ost-Deutschen seit der Wende" und sie stellt ihr Projekt "Wahlkampagne" vor, mit dem sie sich stark macht für ein besseres Bildungssystem, bei dem bundesweit eine Lehrkraft maximal 15 Studierende pro Klasse unterrichtet: "Der Einsatz würde sich lohnen: Der Lehrbetrieb würde Spaß machen; Bildungswirksamkeit und -niveau würden erhöht. Mehr Absolventen würden Lehrer*in werden wollen. Professor*innen könnten Seminare nur für Doktorand*innen anbieten, damit eine Doktorand*in in Klassen mit ihren Vergleichsgruppen aus anderen Doktorand*innen zusammen lernen und erleben könnte, was es bedeutet, umgeben zu sein von anderen Studierenden, die wenigstens genau so klug, fortgeschritten und motiviert sind wie sie selbst. ... es gibt in dieser Welt keine größere Freude als die Vollendung einer Spitzenarbeit. Auf hohem Niveau etwas zu leisten, ist eine Quelle für Selbstrespekt und Selbstwert, unabhängig davon wie andere einen bewerten."

Weiteres: In der Welt berichtet Marcus Woeller von einem Gemälde Botticellis, das gestern für 92,2 Millionen Dollar bei Sotheby's versteigert wurde. Der Verkäufer, der das Bild 1982 für 810.000 Pfund ersteigert hatte, machte einen satten Gewinn. Besprochen wird eine kleine feine Ausstellung im Schloss Bellevue (Tsp, SZ).
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Stichwörter: Piper, Adrian

Film

Die Kamera als einzige Verbündete: "Beginning" auf MUBI.

Für tazler Thomas Abeltshauser ist die georgische Regisseurin Dea Kulumbegashvili eine der vielversprechendsten neuen Stimmen im internationalen Kino. Jetzt ist ihr Film "Beginning" auf MUBI zu sehen. Der Film handelt von einer jungen Frau, die in einer ländlichen Region unter Zeugen Jehovas lebt. Ein Anschlag stellt die Gemeinde und sie selbst vor eine schwere Krise. "Ich glaube fest an die Macht der Kamera, alles hängt davon ab, wie sie positioniert ist", erzählt Kulumbegashvili, "sie fängt etwas Immaterielles ein, ein Gefühl von Beklemmung und Angst."

Auch Zeit-Kritikerin Katja Nicodemus sitzt bei diesem Film wie gebannt vor dem Bildschirm: "Die Heldin (Ia Sukhitashvili) hat nur eine einzige Verbündete: die Kamera. Das Objektiv registriert die Gewalt, die Yana umgibt, die ihr widerfährt, von der sie bestimmt wird, mit einer Mischung aus Realismus und Überhöhung. Tatsächlich nimmt die Kamera am Anfang von 'Beginning' eine leicht erhöhte Position ein, die nicht die Perspektive eines Menschen sein kann. Sie zeigt das Innere des Gebetshauses bereits, als es noch leer ist. An der hinteren Wand ist sie positioniert, mit Blick auf das, was kommen wird. Dieser Kamerablick hat etwas Verunsicherndes. Wer schaut hier? Eine metaphysische Instanz? Es? Das Andere? Das Auge der Schuld?"

Weitere Artikel: Barbara Schweizerhof berichtet für ZeitOnline von ihrem warmen Sofa aus vom sonst gerne mal kalt eingeschneiten Filmfestival in Sundance. Die stetig verschobenen Kinostarttermine setzen die Produktionsgesellschaft nun zusätzlich unter Druck, da lukrative Merchandise-Deals und das Product Placement zu platzen drohen, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. Susanne Lenz blickt in der FR mit vorsichtigem Optimismus auf die verschobene Digital-Berlinale.

Besprochen wird Simon Stones auf Netflix gezeigter Historienfilm "Die Ausgrabung" mit Carrey Mulligan und Ralph Fiennes (taz, SZ).
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Literatur

Während in Belarus derzeit zahlreiche Journalisten verhaftet werden (mehr dazu in 9punkt), ist auch die belarussische Literaturszene immer mehr Repressalien ausgesetzt, berichtet Francesca Polistina in der SZ: Veranstaltungen sind derzeit nicht möglich, Literaten wappnen sich, jederzeit verhaftet zu werden, oder befinden sich schon vorsorglich im Exil. Auch "die wenigen unabhängigen Verlage bekommen regelmäßig Besuch von der Polizei. Zwar gibt es keine Zensur vor der Veröffentlichung und die Bücher dürfen erscheinen, doch dann wird das Regime aktiv. Manchmal werden die Bücher verboten (wie zum Beispiel 'Paranoia' von Martinowitsch) oder es werden angebliche finanzielle Unstimmigkeiten gefunden, um von den Verlegern hohe Geldstrafen zu verlangen. Die Dichterin Wolha Hapejewa sagt: 'Dass unabhängige Verlage noch existieren, ist ein Wunder. Für mich sind sie Helden.' ... Wie viele andere glaubt die Lyrikerin Hapejewa, dass die Aufmerksamkeit von außen den Druck auf das Regime von Lukaschenko erhöhen würde. Nur ohne Aufmerksamkeit gibt es auch niemanden, der von außen Druck ausüben könnte."

Besprochen werden unter anderem Tove Ditlevsens "Kopenhagener Trilogie" (ZeitOnline), Alex Marzano-Lesnevichs "Verbrechen und Wahrheit" (FR), Ottessa Moshfeghs "Der Tod in ihren Händen" (SZ) und Ulrike Sterblichs "The German Girl" (NZZ).
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Musik

"Das Album ist, nun, man möchte fast sagen: der Wahnsinn", schreibt SZ-Kritikerin Juliane Liebert über "Collapsed in Sunbeams", das Debütalbum von Arlo Parks, bei der die Einflüsse aus R'n'B, Funk und Soul, wie sie sich im Gegenwartspop niederschlagen, eine zentrale Rolle spielen: "In den kleinen rhythmischen Verzögerungen, Stops, Fill-Ins und biegsamen Basslines rebellieren sie gegen die Disziplinierung des Körpers. Arlo Parks' Sound lebt von diesem musikalischen Erbe, aber sie beschränkt sich auf wenige Elemente - den staubigen Soul in der Stimme und ihren trockenen Groove - und amalgamiert sie zu einem eigenen, kompakten, aber dennoch lichten confessional Pop." Wir hören rein:



Beethovens verwirrende Metronomzahlangaben geben seit langem Rätsel auf und könnten, wenn sie heute falsch gelesen werden sollten, seine Werke in ihrer heute dargereichten Form erheblich verzerrt haben. Womöglich haben die Mathematiker Almudena Martín-Castro und Iñaki Ucar nun eine Lösung gefunden, schreibt Christine Lemke-Matwey in der Zeit: Demnach habe Beethoven "das Metronom falsch herum abgelesen. Nämlich nicht, wie es sich gehört, oberhalb des kleinen verschiebbaren dreieckigen Gewichts am Pendel und seiner Zahlenleiste, sondern unterhalb." Den Beweis erbringen "komplizierteste Modellberechnungen, die unter anderem das Mälzelsche Patent, die Fotografie eines Metronoms aus Beethovens Besitz (das nach einer Wiener Ausstellung anno 1921 fatalerweise verloren ging) sowie 36 verschiedene Aufnahmen aller neun Beethoven-Sinfonien berücksichtigen."

Weitere Artikel: Jan Brachmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf Eva Coutaz, die viele Jahre das Label Harmonia Mundi betrieben hat. Florian Amort gibt in der FAZ Hintergründe zur Mozart-Miniatur KV 626b/16, die erst vor kurzem aufgetaucht ist und in Salzburg uraufgeführt wurde.

Besprochen werden Reinhard Goebels CD-Projekt "Beethovens Welt" (FR), die Compilation "Kabul Fire Vol. 2" (taz), neue Alben von Albertine Sarges & The Sticky Fingers (taz), Buzzy Lee (Berliner Zeitung) und Kreisky (Tagesspiegel).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Martin Andris über Tierra Whacks "Whack World":

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Bühne

Hässliches Wort, der "Premierenstau", aber genau damit müssen sich die Bühnen gerade auseinandersetzen, berichtet Bernd Noack in der NZZ. "Sieben fertige Stücke stehen in Zürich in der Warteschleife, wobei der Großteil davon wohl erst in der nächsten Spielzeit gezeigt wird. Die sich ständig widersprechenden Ankündigungen machen eine zuverlässige Planung unmöglich. In Leipzig sitzt man auf 13 Premieren. Am Berliner Ensemble werden die Probenarbeiten für zwei Produktionen jetzt unterbrochen bzw. beendet ... So sieht es derzeit an nahezu allen deutschsprachigen Theatern aus, wo die Intendanten zwischen Hoffnung und Frustration vor allem eine Aufgabe haben: die Moral des Ensembles aufrechtzuerhalten."

Weiteres: Die nmz gibt Streamingempfehlungen für die nächsten sieben Tage und weist auf das Programm der online-Ausgabe der MaerzMusik hin. Im Standard erzählt Margarete Affenzeller von der Streamingmüdigkeit mancher Theater. Besprochen wird das Festival Diaspora Europa an der Volksbühne (nachtkritik).
Archiv: Bühne
Stichwörter: Maerzmusik, Berliner Ensemble