Efeu - Die Kulturrundschau

Das stumme Leiden der Frau

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15.03.2021. Wozu braucht das Land eine Bauakademie, fragt die FAZ: Wäre ein arbeitendes Ministerium nicht sinnvoller? Theater tun nur aufgeklärt, weiß die Aktivistin Sarah Waterfeld in der Welt, in Wahrheit sind sie Bastionen des Sexismus und des Patriarchats. Die SZ erfährt vom Baltimore Museum, wie man "progressiv entsammelt". 54Books denkt über das glorifizierte Erzählen von Schwangerschaft nach. Und im Standard möchte Jonathan Meese eines klarstellen: Richard Wagner ist keine Freizeitbeschäftigung!
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.03.2021 finden Sie hier

Architektur

Nach jahrelanger Hängepartie soll nun der Wuppertaler Bauökonom Guido Spars Gründungsdirektor der Berliner Bauakademie werden. In der FAZ kann Niklas Maak zu dieser Personalie kaum etwas sagen, aber noch weniger erschließen sich ihm Sinn und Zwecke einer Bundesstiftung Bauakademie - in Abgrenzung zur Bundesstiftung Baukultur, dem Architekturmuseum in Frankfurt oder dem Deutschen Architektur Zentrum in Berlin: "Wichtig wäre, dass das zuständige Ministerium, das sich gerade mit Stiftungen umgibt wie der Sonnenkönig mit Höflingen, statt Symbolpolitik zu betreiben, endlich Entscheidungen trifft, die tatsächlich zur Entbürokratisierung und Neubelebung des Bauens führen: dazu, dass mit anderen Materialien gebaut werden darf. Dass - wie in Frankreich heute schon - Wintergärten als Dämmung gelten können. Dass absurde Komfort- und Lärmschutzregeln für urbane Gebiete noch energischer abgeschafft werden. Dass Regeln einführt werden, die eine auf schnelle Verkaufbarkeit hin errichtete Investorenarchitektur eindämmen..."
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Bühne

Am Samstag berichtete die taz von Vorwürfen, Volksbühnen-Intendant Klaus Dörr habe mehrere Mitarbeiterinnen belästigt (unser Resümee). Im Welt-Interview mit Manuel Brug zeigt sich Sarah Waterfeld von der Aktivistengruppe "Staub zu Glitzer" von den Vorwürfen wenig überrascht: "Es ist doch eher die Regel als die Ausnahme, dass Theater sich künstlerisch medienwirksamen Themen widmen, nach innen aber alte Strukturen und Machtverhältnisse fortdauern. Wir sprechen in diesem Fall von Femwashing, Greenwashing, Socialwashing, Pinkwashing usw. Es geht um Imagepflege. Theater agieren da wie Konzerne und inszenieren sich dabei als Diskursstätten einer Bildungselite. Das ist die reinste Heuchelei. An Theatern herrschen Patriarchat und neoliberale Marktlogik. Mit Kunstfreiheit ist da nicht viel."

Eine von Kultursenator Klaus Lederer in Auftrag gegebene Studie hat ergeben, dass ein Drittel der Berliner Bevölkerung keinerlei Kulturangebote wahrnehme. Dabei sei deren "irrationale Schwellenangst" völlig unbegründet, versichert Frederick Hanssen im Tagesspiegel: "Nirgendwo wird beim Theater- oder Konzertbesuch so wenig Wert auf Etikette und Kleidung gelegt wie hier. Kein Kraut scheint außerdem gegen die Vorstellung gewachsen zu sein, dass man für den Kulturgenuss Vorbildung mitbringen müsse."

Weiteres: Einen "Hauch vom Mai 1968" spürt Jürg Altwegg durch Paris wehen, wo KünstlerInnen das Théâtre de l'Odeon seit zwei Wochen besetzt halten, um seine Wiedereröffnung zu erzwingen. Im FAZ-Interview mit Gerald Felber empört sich der Dirgent Titus Engel über die anhaltende Schließung der Theater und Opern. Besprochen werden das Jugendstück "Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück" vom Berliner Grips Theater (FAZ) und Bert Zanders Oberhausener Live-Theaterfilm "Innen. Nacht. Geschichten aus der Höhle" (Nachtkritik).
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Kunst

Jonathan Meese: H'exkunst De Full", 2020. Bild Galerie Krinzinger

Jonathan Meese, dessen Ausstellung "Die Dr. Mabusenlolita" gerade in der Wiener Galerie Krinzinger zu sehen ist, wütet im Standard-Interview mit Amira Ben Saoud im Namen von Kunst und Wahn ein bisschen gegen Bayreuth, Zensur und politische Korrektheit: "Die Realität ist begrenzt und leider zunehmend sehr dämlich. Im Moment wollen die Politiker und die Religionssüchtigen nicht, dass Kunst wichtig ist, weil sie eine unfassbare Angst vor Kunst haben. Sie wollen sie schwächen, dekorativ halten oder zur Freizeitbeschäftigung degradieren. Aber Richard Wagner ist keine Freizeitbeschäftigung! Wagner ist noch immer da, während die politischen Ansichten seiner Generation nicht mehr existieren. Kunst ist, was Europa bestimmt und definiert. Von den politischen Machenschaften wird - wie auch schon von früheren Epochen - nichts übrigbleiben."

Amerikanische Museen beginnen sich von Werken zu trennen, berichtet Kito Nedo in der SZ. Das Brooklyn-Museum etwa verkaufte Gemälde von Degas, Matisse, Miro und Monet, das Baltimore Museum musste eine geplante Versteigerung von Clyfford Still, Bryce Marden und Andy Warhol stoppen: "'Die Großartigkeit der BMA-Sammlung hängt nicht von drei einzelnen Gemälden ab', hatte Christopher Bedford, der Museumsdirektor in Baltimore, den geplanten Verkauf zunächst verteidigt. Er begründete ihn nicht mit akuten Finanzproblemen, sondern mit dem Ziel, das Museum durch 'Progressive Deaccessioning', also progressives Entsammeln, aktiv weiterzuentwickeln. Mit dem potentiellen Erlös von rund 60 Millionen Dollar hatte der Direktor zwei Anliegen verbunden. Einerseits sollten die Löhne erhöht werden. Andererseits wollte Bedford durch gezielte Zukäufe die Diversität der Sammlung vorantreiben. In einer von sozialen Verwerfungen gezeichneten Stadt wie Baltimore, in der Afroamerikaner die Mehrheit der Stadtgesellschaft bilden, sind das nachvollziehbare Ziele."
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Literatur

Clara Sondermann denkt für 54books über das Erzählen von Schwangerschaft nach: Viel zu viel Glorifizierung überall, findet sie. "Die Mauer des Schweigens ist unglaublich dicht. Das stumme Leiden der Frau ist Konsens, die unsichtbare Reproduktionsarbeit eingeschlossen. Die meisten Gespräche, die ich mit anderen Schwangeren, Müttern und Ärztinnen geführt habe, konzentrierten sich auf die positiven Aspekte der Schwanger- und Mutterschaft. Auf die Fiktion. Das bedeutet, dass ein Großteil der überwiegend weiblichen Erfahrung einfach heruntergeschluckt werden muss."

Der Schriftsteller Artur Becker erinnert in einem von der NZZ aus der Wochenendausgabe online nachgereichten Artikel an den Streit zwischen den polnischen Lyrikern Czeslaw Milosz und Zbigniew Herbert. "Die Begriffe Heimat, Vaterland und Patriotismus bedeuten für Herbert etwas völlig anderes als für Milosz, den eine Obsession plagte, was die politische Teilung in Rechte und Linke anging. ... Zum unwiderruflichen Bruch kommt es aber 1968 im Haus der beiden Übersetzer John und Bogdana Carpenter in Berkeley. Nach einem fürchterlichen Trinkgelage (Milosz trank Whisky, Herbert Wein) habe Milosz ironisch gesagt, Polen möge doch die nächste sowjetische Republik werden, was seinen Freund zur Weißglut brachte. Er warf Milosz mangelnden Patriotismus vor, kritisierte ihn dafür, dass er während des Zweiten Weltkriegs den litauischen Reisepass angenommen hatte, und machte ihm auch den Vorwurf, er habe die polnische Widerstandsarmee Armia Krajowa (Landesarmee) nie toleriert."

Weitere Artikel: Lothar Müller (SZ) und Helmut Böttiger (Dlf) erinnern an den vor 25 Jahren verstorbenen Schriftsteller Wolfgang Koeppen. Im Tagesspiegel gratuliert Gregor Dotzauer dem Lyriker Gerhard Falkner zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Lana Bastašićs "Fang den Hasen" (ZeitOnline), Igorts Comic "Kokoro" (taz), Emilia Roigs Essay "Why We Matter" (Tagesspiegel), Ljudmila Ulitzkajas "Eine Seuche in der Stadt" (NZZ), Takis Würgers "Noah" (FAS), Gipis Comic "Aldobrando" (Tagesspiegel), Kazuo Ishiguros "Klara und die Sonne" (Dlf Kultur, SZ) und neue Hörbücher, darunter von Christoph Maria Herbst eingelesene Versionen von George Orwells "1984" und "Farm der Tiere" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Joachim Sartorius über José F. A. Olivers "schwarzmilan":

"mein vater ist gewandert, auf dem Gotthard
nicht & doch
verlog er sich die arbeitshände
..."
Archiv: Literatur

Film

Um 2000 war Charlie Kaufman mit seinen die Synapsen neu verdrahtenden Stoffen mit einem Mal der angesagteste Drehbuchautor in den USA. Jetzt hat er, nicht zuletzt, weil es im Filmgeschäft für einen Sonderling wie ihn quasi nichts mehr zu tun gibt, seinen Debütroman "Ameisig" veröffentlicht. Dass er 2002 "Adaption" (unsere damalige Berlinale-Kritik) auf die Leinwand bringen konnte, erstaunt ihn bis heute, sagt er im ZeitOnline-Gespräch: Heute käme er damit nicht mehr durch, "das hat mir die Studiochefin von Sony zu Beginn der Finanzkrise von 2008 unter der Hand gesagt", denn "heute wollen die großen Studios nur noch Stoffe, die 100-prozentig funktionieren" und " das hat meine Arbeitsmöglichkeiten empfindlich eingeschränkt. ... Wenn man mich fragt, ob ich einen Spiderman-Film schreiben möchte, muss ich dem Studio ein Drehbuch liefern, das sie auch willens sind, umzusetzen. Allein diese Schere im Kopf macht es mir unmöglich, darüber nachzudenken - und, glauben Sie mir, ich habe mir diese Frage schon gestellt: Könnte ich einen Superheldenfilm schreiben? Ich wüsste nicht, wie."

Für die SZ plaudert David Steinitz mit Wolfgang Petersen, der gestern 80 Jahre alt wurde (im Tagesspiegel gratuliert Andreas Busche). Clint Eastwood, erfahren wir dabei, ist der faulste Schauspieler, mit dem er je zusammengearbeitet hat:  "Er hasst es, Dialoge auswendig lernen zu müssen, er macht es oft auch einfach nicht und sagt dann bei laufender Kamera 'blablabla', wenn er nicht mehr weiterweiß. Sehr lustig. Er hasst es auch, Szenen zu wiederholen. Bei 'In the Line of Fire' hat er spätestens nach dem zweiten Take zu mir gesagt: Wolfgang, das war doch jetzt schon ganz gut, oder?"

Weitere Artikel: Willi Winkler schreibt in der SZ einen Nachruf auf den österreichen Filmemacher Peter Patzak. Verena Lueken erinnert sich in der FAZ an den vor einem Jahr verstorbenen Publizisten und Filmemacher Hans Puttnies, dem sie freundschaftlich verbunden war.

Besprochen werden Pablo Agüeros Hexenverfolgungsfilm "Tanz der Unschuldigen" (taz), Wolfgang Jacobsens Buch "Nazis können nicht lieben. Drei Filme aus Deutschland" (Freitag), Éric Rochants französische Serie "Büro der Legenden" (Freitag) und die TrueCrime-Serie "The Pembrokeshire Murders" (FAZ).
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Musik

Für ZeitOnline porträtiert Daniel Gerhardt den marxistischen Hamburger Rapper Disarstar. Juliane Liebert (SZ) und Nadine Lange (Tagespiegel) berichten von der Grammy-Verleihung.

Besprochen werden die neue CD des Ensembles Reflektor, das darauf Klassik und Pop verschmilzt (SZ), Rainer Wieczoreks Buch über den Musiker Heinz Sauer (FR) und das neue Mogwai-Album "As the Love Continues" (Jungle World). Wir hören rein:

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Stichwörter: Disarstar